24
Als Corvus vom Podest stürzte und mit dem Kopf auf dem Steinboden aufschlug, schrie Nina auf.
Sophia führte die Waffe indessen seelenruhig an die Lippen und pustete den Pulverqualm weg. »Auf diesen Moment habe ich schon so lange gewartet«, sagte sie verächtlich und blickte auf den Leichnam ihres neuen Ehemannes. »Der aufgeblasene alte Scheißkerl.«
»Also, ich habe ihn ja davor gewarnt, dir den Rücken zuzukehren«, sagte Chase mit neuem Elan. Er hatte bemerkt, dass die Bodyguards bei dem Schuss nur zusammengezuckt waren. Das waren nicht Corvus’, sondern Sophias Leute. Sie hatten die ganze Zeit über gewusst, was sie vorhatte. »Zwei tote Ehemänner in einer Woche? Das klingt rekordverdächtig«, legte Chase nach.
»Bald werden es drei sein, Eddie«, entgegnete Sophia scharf.
Komosa lächelte voller Vorfreude, die Diamanten in seinen Schneidezähnen funkelten ebenso stark wie die Grabschätze. »Heißt das, ich soll die beiden jetzt umlegen?«, fragte er grinsend.
Sophia schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es ist Eddie gegenüber nur fair, wenn ich ihn eigenhändig töte. Um der alten Zeiten willen. Aber vor dem Vergnügen kommt das Geschäft – erst müssen wir das Gold hier rausschaffen. Eddie, Nina, setzt euch. Das könnte eine Weile dauern.«
Komosas Lächeln verflüchtigte sich, doch er tat wie geheißen und wies Eddie und Nina an, sich mit dem Rücken zur Rampe neben einen Schatzhaufen zu setzen. »Und was willst du mit all diesen Reichtümern anfangen?«, fragte Chase.
»René war ein größenwahnsinniger Idealist«, sagte Sophia mit verächtlichem Blick auf den Leichnam ihres Gatten, »und das ist stets eine ungute Kombination. Außerdem hätte sein Plan niemals funktioniert – so viele arrogante, ultraehrgeizige, skrupellos konkurrierende Menschen an einem beengten Ort, das wäre unweigerlich in eine Katastrophe ausgeartet. Mein Plan ist ein wenig realistischer.«
»Und wie sieht dein Plan aus?«, fragte Nina.
Sophia lächelte. »Um meine beiden verstorbenen Ehegatten zu zitieren: Ich bin kein James-Bond-Schurke. Deshalb werde ich dir meinen Plan auch nicht verraten.«
Mit diesen Worten ging Sophia zu dem Mann mit dem Tablet-PC hinüber, der gerade ins Funkgerät sprach. »Wie sieht’s aus?«, fragte sie charmant.
»Die Helikopter landen soeben, Ma’am«, antwortete er. »Sobald sie aufgesetzt haben, werden sie mit dem Bodenradar die am besten geeignete Stelle zum Durchbruch suchen.«
»Gut«, sagte Sophia und wandte sich an die anderen Männer. »Fangt schon mal an, das Gold zusammenzulegen. Die Barren zuerst; die lassen sich am einfachsten verladen.«
Die Männer machten sich wortlos an die Arbeit.
»Also, das ist nicht so gut gelaufen«, meinte Chase, während er zusah, wie die Männer die Goldbarren nahe dem Podest stapelten.
»Wir sind noch nicht tot«, rief Nina ihm in Erinnerung, nahm eine große goldene Schale in die Hand und las die am Außenrand angebrachte griechische Inschrift ab. »›Zu Ehren des mächtigen Herakles, unseres Erretters und Freundes‹. Huh. Schade, dass er uns jetzt nicht helfen kann.« Sie setzte die Schüssel neben Chase ab und nahm einen Diamanten in die Hand. Sie war keine Expertin, doch der Größe nach zu schließen, hatte er mindestens fünf Karat und war somit mehrere zehntausend Dollar wert. »Das ist schon erstaunlich. Er hat wirklich gelebt, wenngleich seine Taten im Laufe der Zeit mythologisiert wurden. Und die Leute müssen eine unglaublich hohe Meinung von ihm gehabt haben, dass sie ihm solche Schätze ins Grab gelegt haben. Für die Archäologie ist dieser Fund ebenso bedeutend wie die Entdeckung von Atlantis.«
»Aber du wirst auch diesmal wieder niemandem davon berichten können«, sagte Chase trübselig.
Nina schloss die Faust um den Diamanten und lehnte sich an ihn. Stumm hielt sie seine Hand.
Bald darauf rumste es über ihnen: Eine kleine Sprengpatrone, die als Sonarquelle diente, war von oben in den Boden geschossen worden. Die reflektierten Schallwellen gaben Sophias Leuten Aufschluss über die Dicke der Sandschicht über der Grabkuppel. Wenige Minuten später wurde Sophia das Ergebnis der Messung durchgegeben, und der Mann mit dem Computer bewegte sich ein paar Meter am Podest entlang.
»Räumt die Stelle frei«, befahl sie, woraufhin ihre Männer umgehend die Schätze wegschleppten und den Boden freimachten. Alle zogen sich zurück. Kurz darauf ertönte eine lautere Detonation als zuvor: Große Steinbrocken fielen von der Kuppel herab und zerschellten auf dem Boden. Sand rieselte durch ein Loch in der Decke, und schon fiel blendend helles Tageslicht in das Grab. Das Gold in der Kammer begann zu funkeln, als stünde es in Flammen.
Da das Oberflächenteam zunächst die Stabilität der Decke prüfte, entstand eine Wartepause, in der Nina und Chase stumm auf die Schätze vor ihnen blickten; als feststand, dass kein Einsturz drohte, wurde die Öffnung mit Spitzhacken und Vorschlaghämmern erweitert. Weitere Steine fielen in die Grabkammer herab. Bald darauf maß die Öffnung etwa dreieinhalb mal zwei Meter. Es schloss sich eine weitere Wartepause an. Als das Bodenteam die Winschvorrichtung klarmachte und eine metallene Plattform ins Grab herunterließ, tanzten bereits Schatten durch den einfallenden Sonnenschein.
»Gute Arbeit, Jungs«, lobte Sophia. »Ladet gleich das Gold auf. Welches Gewicht können die Hubschrauber transportieren? Natürlich unter der Voraussetzung, dass auf dem Rückflug fünf Personen weniger an Bord sein werden.«
»Etwa viereinhalb Tonnen pro Helikopter«, antwortete der Mann mit dem Computer, nachdem er ein paar Berechnungen angestellt hatte. »Das heißt, die Plattform … muss dreiundzwanzigmal beladen werden.«
»Dann sollten wir besser mal anfangen.« Sophia schaute zu, wie die Barren auf die Plattform gepackt wurden, bis von oben jemand verkündete, das maximale Traggewicht sei erreicht. Untermalt vom angestrengten Sirren eines Elektromotors stieg die Plattform zur Decke hoch und blockierte das Tageslicht. Die Männer im Grab schleppten weitere Goldbarren herbei, während oben die wertvolle Fracht in die Helikopter umgeladen wurde.
»Das war schon ein Anblick«, sagte Sophia zu Chase und stellte sich neben Komosa. »Zwanzig Millionen Dollar in Gold, alles auf einer kleinen Plattform. Und dabei war das gerade mal die erste Ladung.«
»Anstelle der Helikopter hättest du rot-weiß-blaue Mini Cooper kaufen sollen«, sagte Chase lustlos. »Und was nun? Wirst du uns töten?«
Sophia zog ihre Waffe. »Ja, ich glaube, es ist an der Zeit. Steh auf. Nein, nicht du. Sie zuerst.«
Nina erhob sich mit geballten Fäusten. »Nina, nicht«, sagte Chase.
»Ist schon okay, Eddie.« Sie fixierte Sophia herausfordernd. »Ich will nicht auf den Knien sterben. Nicht vor diesem Miststück.«
Sophias Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nie wieder als Miststück titulieren.«
»Ach ja? Bring’s hinter dich, Miststück!«
An der anderen Seite der Rampe senkte sich unbemerkt die sirrende Plattform ab, während Sophia sich wütend an Komosa wandte. »Joe, gib mir dein Messer.«
Nina blickte ganz kurz auf Chase nieder – mehr Zeit brauchten sie nicht, um sich zu verständigen. Chase verlagerte ganz leicht die Haltung, als Komosa den Blick auf die Gürtelscheide senkte und das Messer hervorzog. Sophia streckte ihm ungeduldig die Hand entgegen, während ihre Waffe ein wenig von Nina abschwenkte. In diesem Moment schlug Nina zu und schlitzte Sophia mit der scharfen Spitze des Diamanten, den sie in der Faust verborgen hatte, die Wange auf. Sophia schrie und fasste sich mit der freien Hand ans Gesicht. Ihre Augen blitzten, und Nina wusste: Ihr Zorn gewann die Oberhand über ihren Verstand, die Pistole war vergessen.
Komosa aber hatte seine Waffe nicht vergessen. Er fuhr zu Nina herum.
Sofort sprang Chase hoch und schleuderte die schwere goldene Schale wie einen Diskus auf das Ende der Rampe, direkt auf die Statue des Herkules.
Als die Schale die goldene Keule traf, klang das wie ein Gongschlag. Zerbeult prallte die Schale von der Waffe des Herkules ab. Die Keule erbebte … dann löste sie sich aus der Hand der Statue.
In diesem Moment brach die Hölle los: Die Fixierungskeile lösten sich von den Scheiben und fielen in den Sockel. Das dumpfe Geräusch des Aufpralls wurde jedoch übertönt vom Knirschen von Stein auf Stein. Die Scheiben begannen die Rampen herunterzurollen und wurden immer schneller.
Nina und Chase stießen Sophia und Komosa beiseite und rannten zum Ausgang der Grabanlage. Hinter ihnen prallte eine der Scheiben auf ein schweres Deckenteil, das auf die Rampe gestürzt war, kippte über die Einfassung und zerschellte auf dem Boden wie eine steinerne Bombe.
Die anderen drei Scheiben hielten Kurs auf die den Sarkophag umstehenden Säulen …
Die Füße zweier Säulen wurden pulverisiert, worauf sie dröhnend einstürzten. Der Fuß der dritten Säule bekam nur einen Streiftreffer ab. Allerdings wurde an der Seite ein Stück abgesprengt, sodass die Säule instabil wurde.
Lange würde sie nicht mehr standhalten.
An der anderen Seite des Podests stürzte ein großer Teil der Kuppel ein, Steinplatten und Tonnen von losem Geröll und Sand prallten mit der Gewalt eines Erdbebens auf den Boden. Risse gingen von der Stelle aus, die schartige Deckenöffnung weitete sich, und immer mehr Tageslicht strömte in das Grabesinnere, als sich weitere kleine Löcher in der Decke bildeten.
Komosa hatte sich aus seiner Schockstarre gelöst und machte Anstalten, Chase und Nina hinterherzulaufen – als er bemerkte, dass Sophia auf das Podest sprang und zur Winschplattform eilte. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, dass sie ihn im Stich lassen wollte. Dann rannte er ihr nach.
Nina und Chase rannten weiter durch den Meteoritensturm der herabfallenden Steine.
Sophia stürmte an ihren Leuten vorbei, von denen die meisten sich auf den Boden geworfen hatten, um den Trümmern der zerbrochenen Scheibe auszuweichen, und sprang auf das Podest. Mehrere Goldbarren waren bereits aufgeladen worden, doch Sophia drückte den grünen Startknopf, ohne sie zu beachten.
Die Plattform stieg in die Höhe. Im nächsten Moment setzte Komosa über einen der verblüfften Männer hinweg und landete neben Sophia. Er musterte sie anzüglich, doch sie reagierte nicht darauf, sondern warf stattdessen einen Goldbarren von der Plattform. Komosa hatte verstanden und folgte ihrem Beispiel. Das laute Klong der auf den Boden prallenden weichen Metallbarren mischte sich mit dem Gepolter der herabfallenden Steine.
Ein Mann versuchte auf die sich hebende Plattform zu springen; er prallte in Brusthöhe dagegen und suchte mit den Händen nach Halt. Sophia und Komosa wechselten einen Blick, dann traten sie dem Mann gleichzeitig ins Gesicht. Brüllend stürzte er auf den Boden. Die leichter gewordene Plattform begann schneller zu steigen.
Der Ausgang, auf den Nina zurannte, zeichnete sich als pechschwarzes Rechteck vor ihnen ab. Chase war unmittelbar neben ihr.
Über ihnen splitterten Steine wie brechende Knochen. Ein weiterer Teil der Kuppel stürzte ein, und ringsumher krachten Steinplatten zu Boden.
Schließlich gab auch die beschädigte Säule nach. Die Decke hielt noch einen Moment stand, dann unterlag sie der Schwerkraft.
Noch ehe die Plattform an die Oberfläche gelangt war, sprangen Sophia und Komosa ab und rannten den steinigen Hang hinunter, während sich hinter ihnen die Löcher weiteten und miteinander verschmolzen. Sie bildeten klaffende Fallgruben im Boden, die alles verschluckten: Die Plattform verschwand wieder im Erdreich, aus dem sie soeben aufgestiegen war; die Winschvorrichtung folgte. Auch einer der Helikopter wurde verschlungen; er schwankte noch einen Moment am Rand des sich stetig erweiternden Kraters, dann stürzte er mit der Nase voran in den Mahlstrom aus Geröll und Staub.
Jetzt, da alle Stützen zusammengebrochen waren, gab die Grabkuppel nach. Ein quadratisches Feld von fünfzig Meter Kantenlänge stürzte mit solcher Wucht in sich zusammen, dass einer der anderen Helikopter umkippte. Die Rotorblätter brachen wie trockene Stöcke.
Chase und Nina warfen sich in dem Moment aus dem überwölbten Eingang, als die Decke einstürzte und der letzte Rest Tageslicht von hunderten Tonnen Gestein unvermittelt ausgelöscht wurde …
Sophia setzte sich keuchend auf und schaute blinzelnd in die Staubwolke. Der Kraterrand befand sich nur wenige Zentimeter vor ihren Füßen. Komosa hatte es nur mit Mühe und Not geschafft, sich in Sicherheit zu bringen – seine Beine baumelten noch über den Rand.
»Herrgott noch mal!«, japste Sophia völlig aufgelöst. »Dieser … dieser Wahnsinnige!« Sie erhob sich schwankend und entfernte sich ein Stück weit von dem bedrohlichen Krater, dann schaute sie sich um. Das Heck eines Helikopters ragte aus dem Geröll. An der anderen Seite des Lochs drängten sich die wenigen Männer, die den Einsturz der Grabanlage überlebt hatten, um den einzigen noch einsatzbereiten Helikopter.
Komosa trat neben sie und wischte sich den Staub vom Gesicht und dem kahlen Schädel. »Was machen wir jetzt?«, fragte er ratlos.
Sophia atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Als sie zu sprechen ansetzte, hatte ihre Stimme wieder den gewohnten arrogant-befehlshaberischen Tonfall angenommen: »Also, vor allem brauchen wir mehr Helikopter«, sagte sie. »Wir können die Grabkammer immer noch freilegen und das Gold bergen; es wird nur etwas länger dauern. Und eigentlich muss ich das Gold auch gar nicht um mich haben – entscheidend ist, dass ich weiß, wo es liegt und wie ich drankommen kann. Aber wir müssen so schnell wie möglich ein verlässliches Ausgrabungsteam hierherschaffen. Ich möchte nicht, dass meine Pläne in Verzug geraten.«
Komosa blickte in den Krater hinunter. Deckenteile ragten wie die Gebeine von Riesentieren aus dem Schutt. »Und was ist … mit denen? Glaubst du, die beiden haben überlebt?«
Sophia legte die Stirn in Falten. »Selbst wenn sie überlebt haben sollten, was ich nicht annehme, und selbst wenn sie es schaffen sollten, den Rückweg durch das Labyrinth zu finden – dann säßen sie immer noch hundertfünfzig Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt in der Wüste fest, ohne Nahrung, ohne Wasser und ohne Überlebensausrüstung. So gut ist Eddie auch wieder nicht.« Sie blickte sich zu den zerstörten Helikoptern um. »Aber wir müssen das Gold sichern und alles, was helfen könnte zu überleben, aus den Hubschrauberwracks entfernen.«
Komosa nickte, dann entfernte er sich, vorsichtig am Rand des Erdlochs entlangbalancierend.
Sophia verharrte noch einen Moment und blickte in den Einsturzkrater hinunter. »Leb wohl, Eddie«, sagte sie, dann folgte sie dem Nigerianer.