11
Nina, Chase und Sophia wurden von Fang und vier anderen Männern zum Verwaltungsgebäude gebracht und Yuen präsentiert. Er hatte sich tatsächlich – genau wie Sophia vorausgesagt hatte – in einen an die Büros angrenzenden Privatraum zurückgezogen, um sich vor der Rede zu sammeln.
Yuen wendete den Rohdiamanten zwischen den Fingern. »Ts-ts-ts, Dr. Wilde. Hat man Ihnen nicht gesagt, dass Diamantendiebstahl ein schweres Vergehen darstellt?«, sagte er mahnend.
»Scheiß auf die Diamanten«, mischte sich Chase ein. »Was betreiben Sie dort unten, Dick, eine illegale Uranmine? An wen verkaufen Sie das Zeug – an den Iran? Oder an Nordkorea?«
Yuen seufzte und nickte Fang zu, der Chase daraufhin den Kolben der Wildey gegen den Hinterkopf schmetterte.
Chase ging japsend in die Knie.
»Eddie!«, rief Nina. Sie wollte ihm hochhelfen, doch einer der uniformierten Sicherheitsleute zerrte sie weg.
»Das war längst überfällig«, sagte Yuen mit einem zufriedenen Grinsen und sah sich die Pistole an. »Eine lächerlich große Waffe, finden Sie nicht?«, spottete er. »Soll die vielleicht irgendwas kompensieren? Kein Wunder, dass Sophia Sie verlassen hat.«
Chase richtete sich schwankend auf. »Wenn Sie das noch mal tun, reiße ich Ihnen Ihren Scheißkopf ab«, knurrte er, doch Yuen ließ sich nicht provozieren. Gleichmütig ging er zum Schreibtisch, auf dem die Habseligkeiten der drei Gefangenen ausgebreitet waren, darunter auch Ninas Rucksack. Daneben lag Fangs Aktentasche.
»Ich muss schon sagen«, fuhr er fort und hätte beinahe aufgelacht, als er den Hefter aus dem Rucksack nahm und darin blätterte, »ich hätte nie gedacht, dass Sie mir den Rest der Landkarte persönlich überbringen würden! Da wollte ich Fang gerade anweisen, Sie aufzuspüren, und zack! Schon klopfen Sie an die Tür!« Er legte den Hefter zu dem gebundenen Teil des Hermokrates-Manuskripts in den Aktenkoffer. »Wenn Sie so leicht auf das Minengelände vordringen konnten, deutet das darauf hin, dass meine Sicherheitsvorkehrungen dringend der Überarbeitung bedürfen. Ich nehme an, meine hübsche Frau hatte dabei ihre Hand im Spiel.«
Er trat vor Sophia hin und fasste sie am Kinn. »Und du, Sophia! Meine geliebte Frau, die Blume in meinem Garten, mein Sonnenschein! Was soll ich ohne dich nur anfangen?«
Sie kniff geringschätzig die Augen zusammen, was Yuen nicht gefiel.
Missmutig ließ er die Hand sinken und wandte sich an einen seiner Angestellten. »Sperren Sie sie irgendwo ein, bis die Ansprachen gehalten sind, und bringen Sie sie dann zu meinem Hubschrauber.«
Der Mann nickte und geleitete Sophia hinaus.
»Wohin lassen Sie sie bringen?«, fragte Chase.
»Zur Eheberatung«, erwiderte Yuen. »Übrigens sind soeben Präsident Molowe und dessen Handelsminister eingetroffen, um langweilige Reden zu halten. Sie sollten mir dankbar sein – es bleibt Ihnen nämlich erspart, sich das Gefasel anhören zu müssen.« Er wandte sich an Fang. »Bringen Sie sie zur Weiterverarbeitungsanlage und werfen Sie sie in den Häcksler«, befahl er barsch.
So leicht gab Chase sich jedoch nicht geschlagen: Er fuhr herum, schlug nach dem nächststehenden Wachmann und riss ihm die Waffe aus der Hand.
Fang parierte Chases Angriff gewandt und landete mit dem Stock einen noch kräftigeren Treffer als beim ersten Mal. Chase fiel bäuchlings auf den Teppich; aus seinem Hals sickerte Blut. Er stöhnte und bewegte sich schwach.
»Du Hurensohn!«, schrie Nina. »Du hast uns dein Wort gegeben, dass du uns am Leben lässt!«
Yuen tat erstaunt. »Stimmt das?«
Fang nickte entschuldigend. »Ja, allerdings.«
»Oh.«
»Aber«, fuhr Fang fort und spielte mit dem Stock, während sich ein grausames Lächeln auf sein Gesicht legte, »ich habe nicht ausdrücklich gesagt, wie lange die Zusage gelten würde.«
»Dann ist es ja gut.«
Auf Yuens Kopfnicken hin hoben Fang und die Sicherheitsleute Chase hoch und brachten ihn und Nina hinaus.
»Moment noch!«, rief Yuen ihnen nach. »Geben Sie mir seine Waffe.«
Fang warf sie ihm grinsend zu. »Ein hübsches Souvenir«, sagte er.
Nina trat nach den Männern, doch sie waren zu kräftig und beförderten sie und den halb bewusstlosen Chase nahezu mühelos aus dem Gebäude.
Und zu ihrer Hinrichtungsstätte.
Die Weiterverarbeitungsanlage der Diamantmine funktionierte ähnlich wie die kleinere Anlage in der geheimen Uranmine – allerdings in wesentlich größerem Maßstab: Die riesigen Laster kippten ihre Ladung auf breite Förderbänder, die in gewaltige Häcksler mündeten, die mühelos einen der hausgroßen Laster mitsamt Ladung hätten verschlucken können. Die Steine wurden in immer kleinere Bruchstücke zermahlen, der Schotter wurde gewaschen und durch immer kleinere Siebe geschüttelt, bis nur noch Staub übrig blieb … Und Diamanten. Die härteste auf Erden vorkommende Substanz war das Einzige, was den unerbittlich mahlenden Maschinen widerstand. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen wurden die kostbaren Steine schließlich in eine separate Sortieranlage gebracht.
Auch die Häcksler wurden überwacht – bisweilen lösten sich nämlich Rohdiamanten aus dem Geröll und fielen auf den Boden –, doch die Männer, die normalerweise hier aufpassten, waren aufgrund einer Anweisung des Minenbesitzers vorübergehend abgezogen worden. Neugierigen Fragen kam man zuvor, indem man mit der nächsten Gehaltsauszahlung einen Bonus in Aussicht stellte. Damit war das Problem lästiger Augenzeugen gelöst und die Bahn frei für Fang: Was immer hier vorgehen mochte, die Wachmänner fühlten sich nicht mehr zuständig.
Fang ging zu einem Aufzugkäfig, der die Gruppe auf eine Kranbrücke oberhalb der Häcksler beförderte.
Chase fühlte sich zwar noch benommen, erholte sich aber zusehends von dem Schlag auf den Kopf.
»Bist du okay?«, fragte Nina.
»Es ging mir schon mal besser.« Er beobachtete, wie ein Laster seine Ladung auf die Förderbänder abkippte. Steine und Erdreich wurden nach oben transportiert und fielen in die klaffenden Mäuler der Häcksler. Autogroße Felsbrocken barsten unter dem gewaltigen Druck der Maschinerie. »Aber gleich werd ich mich noch viel schlechter fühlen«, stöhnte Chase.
Fang klemmte sich den schwarzen Stock unter den Arm und zog eine Pistole mit Schalldämpfer. »Sie haben die Wahl«, sagte er, als die Wachmänner Chase auf den Boden fallen ließen. »Entweder ich schieße Ihnen in den Kopf und lasse Sie danach in den Häcksler werfen. Oder«, setzte er hinzu, während Nina Chase auf die Beine half, »Sie machen irgendeine Dummheit, ich schieße Ihnen in den Bauch und lasse Sie bei lebendigem Leib runterwerfen.«
»Wie wär’s mit einer dritten Option?«, sagte Chase. »Urlaub für zwei in der Karibik und kein Sturz in den Häcksler?«
Fang lächelte. »Ich fürchte, daraus wird nichts. Auf die Knie.«
Die drei Wachleute hatten ihre Waffen angelegt und befanden sich nahe genug, um Chase sicher zu treffen, aber knapp außerhalb seiner Reichweite.
Benommen wog Chase die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander ab. Die einzige Person, an die er möglicherweise herankommen konnte, bevor er erschossen wurde, war Fang. Es wäre durchaus den Versuch wert, überlegte er, den pferdeschwänzigen Scheißkerl mit in den Häcksler zu reißen …
Allerdings wäre Nina dann als Letzte übrig, und er wollte nicht, dass sie mit seinem kugeldurchsiebten Leichnam vor Augen in den Tod ging.
Er wandte sich ihr zu. »Nina, ich …« Die Worte blieben ihm im Halse stecken. »Es war eine Erfahrung«, quetschte er dann hervor.
Nina sah ihn ungläubig an. »Ist das alles, was du zu sagen hast? Die werden uns töten, und dir fällt nichts weiter ein als ›Es war eine Erfahrung‹?«, schrie sie empört.
»Was erwartest du von mir?«, antwortete Chase matt. Aus irgendeinem Grund brachte er die Worte einfach nicht heraus.
In ihren Augen mischte sich Trauer unter die Angst. »Eddie …«, flüsterte Nina.
Weiter kam sie jedoch nicht, denn Fang trat hinter sie, hob die Waffe und zielte auf Chases Hinterkopf. Er legte den Zeigefinger auf den Abzug – doch statt Chase ging ein Wachmann zu Boden. Sein Kopf explodierte regelrecht, sodass sein Nebenmann mit Knochensplittern und Gehirnmasse bespritzt wurde. Im nächsten Moment erreichte der Knall eines Hochleistungsgewehrs ihre Ohren, denn die Kugel hatte Überschallgeschwindigkeit gehabt.
Fang fuhr herum und duckte sich hinter einen seiner Männer – keine Sekunde zu früh: Vom Hinterkopf des zweiten Wachmanns löste sich ein rötlicher Nebel, als ihn eine Kugel genau zwischen die Augen traf.
Chase blickte sich in dem großen Gebäude um. Weit und breit war kein Schütze zu sehen.
Ein dritter Schuss. Der Mann, hinter dem Fang in Deckung gegangen war, wurde von dem Aufprall nach hinten geschleudert. Blut spritzte aus der Wunde über seinem Herzen. Er kippte über das Geländer, landete im Häcksler und wurde ebenso mühelos zermahlen wie das Gestein.
Da Fang keine Deckung mehr hatte, legte er Nina den Arm um den Hals und ließ sich fallen. »Keine Mätzchen, Chase!«, sagte er warnend und krabbelte seitlich über die Plattform, den Stock unter den Arm geklemmt. »Sagen Sie Ihrem Freund, er soll das Gewehr weglegen, sonst töte ich sie.«
»Ich weiß nicht mal, wer das ist!«, erwiderte Chase. Er hatte keine Ahnung, woher die Schüsse gekommen waren, und hatte den Schützen noch immer nicht lokalisiert.
Fang rammte Nina die Waffe in den Rücken. »Sagen Sie es ihm, sonst …«
Nina reagierte blitzschnell, packte den Knauf seines Stocks, zog daran – und stieß Fang das Schwert in die Seite.
Der Chinese heulte auf, krümmte sich instinktiv von ihr weg und drückte den Abzug durch.
Die Kugel schoss zwischen Ninas Arm und ihrem Oberkörper ins Leere. Das erhitzte Gas versengte ihr die Haut. Nina ließ vor Schmerzen das Schwert los, drehte sich in der Hüfte und rammte Fang den Ellbogen gegen den Kiefer.
Benommen und Blut spuckend taumelte er zurück – direkt in Chases Arme. Der boxte ihm mit solcher Wucht ins Gesicht, dass Fang vom Boden abhob und gegen das Geländer prallte. Dort schwankte er einen Moment lang und wäre fast in die Tiefe gestürzt, stattdessen brach er über einem der toten Wachleute zusammen.
»Alles okay?«, fragte Chase und hob eine Pistole auf.
Nina musterte die Toten. »Was zum Teufel ist hier los?«
»Keine Ahnung, aber mir soll’s recht sein!« Er blickte wieder nach unten und machte diesmal die vor dem fernen Tageslicht sich abzeichnende Silhouette des Heckenschützen aus. Ein schwieriger Schusswinkel, dachte Chase bewundernd – der Mann musste ein außergewöhnlich guter Schütze sein.
Der Heckenschütze bewegte sich. Einen Moment lang konnte Chase ihn deutlich erkennen – ein großer, muskulöser Schwarzer, dessen Schädelpiercings kurz im Sonnenlicht auffunkelten –, dann verschwand er.
Nina massierte sich den schmerzenden Ellbogen. »Autsch. Beim Üben hat das aber weniger wehgetan …«
»Ich bin froh, dass du dich dran erinnert hast. Komm jetzt«, raunte Chase und rannte los.
Eiligen Schritts folgte Nina ihm zum Aufzug.
Die Gewehrschüsse waren auch hinter der Bühne zu hören gewesen, wo Yuen mit Präsident Molowe und dem Handels-und- Industrie-Minister Kamletese plauderte. Sofort bildeten mehrere Soldaten einen Kordon um Molowe und drückten ihn zu Boden, während andere Bewaffnete mit gezogenen Waffen ausschwärmten und nach der Ursache der Bedrohung Ausschau hielten. Yuens Bodyguards schirmten ihren Boss ab.
»Was war das?«, fragte Kamletese besorgt.
Yuen blickte zur Weiterverarbeitungsanlage hinüber und legte sich eilig eine Erklärung zurecht. »Unbefugtes Betreten des Geländes – sie haben mehrere Personen erwischt«, sagte er. »Man hat mir gemeldet, sie seien festgenommen worden. Offenbar wurde ich aber falsch informiert. Herr Präsident, Sie sollten so lange, bis die Angelegenheit geregelt ist, in Deckung bleiben. Ich werde mich erkundigen, was da genau vorgeht.«
Molowe nickte und entfernte sich mit dem Ring Soldaten um ihn herum in Richtung Festzelt, während Yuen mit zweien seiner Männer zum Verwaltungsgebäude eilte.
Am Zelteingang hielt der Präsident inne. »Begleiten Sie ihn und finden Sie heraus, was da los ist«, wies er Kamletese an.
Der korpulente Politiker blinzelte. »Ich?«
»Ja, Sie! Machen Sie schon!« Molowe verschwand im Zelt, und der verdutzte Kamletese blieb unter den finsteren Blicken der Wachsoldaten vor dem Eingang zurück. Er zögerte einen Moment, dann eilte er Yuen hinterher.
»Wie geht es jetzt weiter, Eddie?«, rief Nina, als sie hinter Chase zum Eingang der Weiterverarbeitungsanlage rannte.
»Wir müssen Sophia finden. Dann machen wir, dass wir von hier verschwinden!«
»Geht es nicht auch in umgekehrter Reihenfolge?«
Chase blieb abrupt stehen und musterte sie ungläubig. »Scheiße, ist das dein Ernst?«
»Ja! Yuen wird ihr nichts tun, das war doch deutlich zu erkennen. Du kannst sie später rausholen!«
»Ich lasse Sophia nicht bei diesem Arschloch zurück«, beharrte Chase und rannte die letzten Meter zum Eingang. Blinzelnd traten sie in den Sonnenschein hinaus. »Okay, wir brauchen ein Fahrzeug«, sagte er sachlich.
»Ich sehe aber keines«, meinte Nina und sah sich um. Weit und breit waren weder normale Limousinen noch Geländewagen abgestellt.
»Bist du blind?« Chase zeigte auf den großen gelben Liebherr-Kipper, der sich der Anlage näherte. »Und wie nennst du das?«
Nina erbleichte. »Eine schlechte, blödsinnige Idee?«
»Meine Spezialität. Komm schon.« Ohne Ninas Protest zu beachten, rannte Chase dem Laster entgegen und schwenkte die Arme zu der Fahrerkabine hinauf.
Der Fahrer gestikulierte heftig, doch Chase wich keinen Fußbreit. Mit quietschenden Bremsen wurde der Laster langsamer, kam aber nicht zum Stillstand, sondern fuhr weiter auf ihn zu.
Chase war geneigt, Nina im Nachhinein recht zu geben. »O Scheiße«, murmelte er, sprang ein paar Schritte zurück und rannte los. Der rechteckige Schatten des Lasters kam immer näher, und der Lärm des großen Dieselmotors dröhnte ihm in den Ohren. So laut, dass er das durchdringende Quietschen der Bremsen beinahe übertönte. »Verdammter Mist!«, fluchte Chase und warf sich zu Boden, schlug die Hände über die Ohren und schloss die Augen.
Das riesige Fahrzeug rollte langsam über ihn hinweg und kam endlich zum Stillstand.
Chase seufzte erleichtert auf. Er lag unter der Motorhaube des Lasters und stellte fest, dass er die Dimensionen vollkommen unterschätzt hatte: Er hätte sich lediglich hinzuhocken brauchen, um unverletzt zu bleiben. Er krabbelte unter dem Laster hervor, rappelte sich auf und wandte sich zu dem Treppchen, das gute sechs Meter zu der Fahrerkabine hinaufführte.
Nina gesellte sich zu ihm. »Idiot!«, fauchte sie und boxte ihn gegen den Arm.
»Autsch! Was soll das?«, nörgelte Chase und machte sich daran, die steile Treppe zu erklimmen. Sie führte am Kühlergrill entlang, der beinahe die Größe eines normalen Lasters hatte. Nina folgte ihm auf dem Fuße.
Der Fahrer kam ihnen entgegen und wedelte zornig mit dem Zeigefinger. »Was zum Teufel tun Sie da? Und weshalb tragen Sie keinen Helm?«, schnauzte er die beiden an.
»Tut mir leid, Kumpel«, sagte Chase und boxte ihm seine Rechte schwungvoll in den Unterleib.
Der Mann krümmte sich mit einem mitleiderregenden Ächzen zusammen. Chase brauchte ihn nur noch am Hosenbund zu packen und über das Geländer zu werfen.
»Was sollte das?«, sagte Nina scharf. »Du hast eine Waffe, du hättest ihn zwingen können, dir den Laster zu überlassen! Du hättest ihn nicht zu verletzen brauchen!«
»Wir haben’s eilig«, erwiderte Chase knapp und eilte die letzten Stufen zur Kabine hoch. »Außerdem wird er sich schon wieder erholen. Jedenfalls solange ich ihn nicht überfahre.«
»Hast du eine Ahnung, wie man dieses Ding fährt?«
Chase setzte sich auf den Fahrersitz und verschaffte sich einen Überblick. Lenker, Gas- und Bremspedal, mehrere Hebel zur Steuerung der Kipperbrücke und verschiedene Bildschirme von Videokameras, die außen am Fahrzeug angebracht waren. Dem erstaunlich vertraut wirkenden Hebel neben dem Fahrersitz nach zu schließen, handelte es sich um ein Automatikgetriebe. Chase nickte. »Ich glaube, damit komme ich zurecht.«
»Wie zum Teufel konnten sie entkommen?«, fragte Yuen erbost.
»Sie hatten einen Helfer«, tönte Fangs gequälte Stimme aus dem Telefon. »Der Kerl hat alle meine Leute erschossen. Ein Heckenschütze.«
»Was? Wer war das?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gesehen. Er ist entkommen.«
»Sucht die drei! Und tötet sie! Wenn diese Schweinehunde fliehen können und den UN von der Uranmine berichten, sitzen wir alle in der Scheiße!«, tobte Yuen und knallte den Hörer auf die Gabel. Als er aufblickte, stand ein verwirrter Kamletese mit zwei Wachleuten in der Tür. »Welche Uranmine?«, fragte der Handelsminister irritiert.
Yuen griff sich an die Stirn. »Ach, was soll’s«, seufzte er und wandte sich an Kamletese. »Herr Minister, Sie sind nicht zufällig bereit, eine größere Bestechungssumme entgegenzunehmen?«, sagte er freundlich und so beiläufig, als habe er seinem Gegenüber gerade ein Glas Wasser angeboten.
Kamletese stutzte. »Was? Nein, das kommt gar nicht in Frage«, lehnte er empört ab. »Also, was hat es mit dieser Uranmine auf sich?«
»Das habe ich mir gedacht.« Yuen seufzte, griff nach Chases Wildey-Pistole, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und erschoss den Minister.
Dann wandte er sich an einen der beiden Wachmänner, der beinahe ebenso überrascht wirkte wie eben noch der Politiker. »Sie werden dem Präsidenten die traurige Nachricht überbringen«, befahl er dem verschreckten Mann. »Sie setzen ihn davon in Kenntnis, dass zwei Diamantdiebe namens Eddie Chase und Nina Wilde soeben den Handelsminister ermordet haben!«
Als der Mann nicht gleich reagierte, runzelte Yuen die Stirn und richtete die rauchende Pistole auf ihn. »Na los, gehen Sie schon!«
»Jawohl, Sir!« Der Wachmann schluckte, trat über den Toten hinweg und eilte davon.
Yuen wischte die Fingerabdrücke sorgfältig von der Waffe, dann ließ er sie fallen und hob den Aktenkoffer mit den Hermokrates-Pergamentseiten hoch. »Bringen Sie mich zu meiner Frau«, befahl er dem anderen Wachmann.
Die erstaunlich einfache Bedienung des Riesenlasters T282B zu durchschauen war eine Sache. Ihn tatsächlich zu steuern eine ganz andere, stellte Chase schnell fest. Das mit über vierhundert Tonnen Erdreich und Gestein voll beladene Gefährt brauchte ausgesprochen lange, um auf Touren zu kommen – und ebenso lange, um wieder abzubremsen. Eines der größten Instrumente am Armaturenbrett zeigte die Bremsentemperatur der dreieinhalb Meter durchmessenden Räder an, und jedes Mal, wenn er in einer Kurve die Bremse betätigte, schnellten die Zeiger in den roten Bereich.
Jetzt aber hatte der Laster Kurs auf das Verwaltungsgebäude genommen – und auf Sophia.
»Wir haben Gesellschaft bekommen«, sagte Nina nervös und zeigte auf einen der Monitore. Ein Land Cruiser mit halb offener Fahrertür näherte sich ihnen von links. Ein Männerkopf ragte aus dem Fenster.
»Er wird versuchen, auf den Laster aufzuspringen!«, rief Nina panisch.
»Verfluchte Schwarzfahrer«, knurrte Chase. Er kurbelte am Lenker, worauf der Laster abrupt zur Seite schwenkte.
Der Land Cruiser ging eilig auf Abstand.
Nina hielt sich an Chases Sitzlehne fest. Obwohl der Laster wieder geradeaus fuhr, verlagerte sich die Ladung der gewaltigen Kipperbrücke noch immer, und der Truck rollte wie ein Schiff in schwerer See. »Herrgott! Ich dachte schon, wir würden umkippen!«, stöhnte sie.
»Wir müssen die Ladung loswerden.« Chase zeigte auf die Hebel am Armaturenbrett. »Schau mal, ob du die Ladefläche hochfahren kannst – verdammt, er probiert es schon wieder!« Der Land Cruiser setzte sich neben den Laster, und ein Wachmann fasste gerade einen Handgriff, als Chase den Laster zur Seite lenkte.
Diesmal reagierte der Fahrer des Toyota nicht schnell genug: Das riesige Vorderrad des Trucks schnitt dessen Heck und riss es ab. Der Wachmann warf sich im letzten Moment, als die Tür bereits aus den Angeln gerissen und wie Stanniolpapier zusammengefaltet worden war, zur Seite. Da ihm ein Rad fehlte, kippte der Land Cruiser auf die Seite.
Chase grinste. »Also, wenn ich das nächste Mal in London unterwegs bin, dann mit so einem Ding!«
Nina zeigte nach vorn. »Pass auf!« Zwei weitere Land Cruiser näherten sich ihnen. Wachmänner mit angelegten Waffen lehnten sich aus den Fenstern.
»In Deckung!«, schrie Chase, doch Nina hatte die Gefahr bereits erkannt und duckte sich hinter den Sitz. Aus einem fahrenden Fahrzeug zu schießen war nicht so einfach, wie es in Hollywoodfilmen immer aussieht, andererseits war der T282B aber auch nicht zu verfehlen. Rund um die Fahrerkabine schlugen Kugeln ein, und die eine Seite der Windschutzscheibe splitterte.
»Okay, ihr habt es so gewollt!«, knurrte Chase. Er gab mehr Gas und lenkte den Laster mit aufheulendem Motor frontal auf die Geländewagen zu.
Der Fahrer des einen Wagens kam offenbar zu dem Schluss, dass sein eigenes Leben mehr zählte als das sture Ausführen von Befehlen, und schwenkte ab, doch der andere Wagen hielt Kurs. Die Kabine wurde von weiteren Kugeln getroffen. Als der beschädigte Teil der Windschutzscheibe barst, regneten Glassplitter auf das Armaturenbrett. Chase zuckte zusammen, ließ sich aber nicht beirren und gab weiter Gas.
In letzter Sekunde schien dem Fahrer des Land Cruiser endlich bewusst zu werden, dass er sich da mit einem Gegner angelegt hatte, der dreihundertmal so schwer war wie er selbst. Als er versuchte auszuweichen, war es bereits zu spät: Der Toyota verschwand unter der Motorhaube, Metall knirschte, und es gab einen leichten Ruck; Chase hatte getroffen.
Im nächsten Moment tauchten die Überreste des Land Cruiser im Rückspiegel auf. Das einsam über die Piste rollende Hinterrad war alles, was von dem plattgedrückten Fahrzeugwrack noch intakt geblieben war.
Chase zuckte zusammen. »Autsch.«
Vor ihnen kamen das Verwaltungsgebäude, die Bühne und das dahinter befindliche Festzelt in Sicht. Auf dem Landeplatz vor dem Gebäude stand Yuens Helikopter. Die Rotoren drehten sich bereits, und mehrere Personen rannten darauf zu.
»Mist!«, rief Chase ungehalten. »Sie nehmen Sophia mit!«
»Warte, was hast du vor?«, fragte Nina, als er den Laster herumschwenkte und direkt auf den Helikopter zufuhr.
»Ich will sie am Abheben hindern!«
»Wie denn? Indem du in sie hineinbretterst? Du wirst Sophia noch umbringen!«
Chase wusste, dass Nina recht hatte, doch etwas Besseres fiel ihm nicht ein. »Ich lasse sie auf keinen Fall starten!«, antwortete er ungehalten.
»Du kannst ihn nicht mehr aufhalten!«, warnte Nina. Der Helikopter hob bereits ab, Staub wurde unter den Kufen aufgewirbelt. »Wir werden es nicht mehr rechtzeitig schaffen!«
»Wir wären schneller, wenn du die Ladung abgekippt hättest, wie ich dich gebeten habe!«
»Fang jetzt bloß nicht an, mir Vorwürfe zu machen!«, fauchte Nina.
Yuens Helikopter schwenkte zum Landefeld herum und senkte die Nase.
»Mist!«, brüllte Chase und schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Hilflos beobachtete er, wie der Hubschrauber rasch an Höhe gewann und über das Festzelt hinwegflog.
»Eddie!« Nina zeigte auf den Helikopter von Präsident Molowe, der in der Nähe des Zelts stand. Die Rotoren kamen gerade auf Touren, davor waren Soldaten aufgereiht.
Und sie zielten direkt auf die Fahrerkabine des Lasters.
Chase musste sie gar nicht mehr ausdrücklich warnen – Nina warf sich sofort flach auf den Kabinenboden. Auch Chase duckte sich so weit wie möglich, während die Gewehrkugeln in die Kabine einschlugen. Der Rest der Windschutzscheibe barst, und ein erneuter Kristallregen prasselte auf das Armaturenbrett nieder. Mehrere Kugeln durchschlugen die Stahlwände der Kabine, und einer der Monitore explodierte. Das Gaspedal ruckte unter seinem Fuß, da offenbar das Gestänge getroffen worden war, doch der Motor dröhnte unentwegt fort.
Da Chase nichts mehr sehen konnte, bemühte er sich, das Lenkrad möglichst ruhig zu halten und geradeaus weiterzufahren. Seine Rechnung ging auf: Der Beschuss wurde eingestellt, und die Reihen der Soldaten lösten sich auf, als sie sich vor dem heranrasenden Laster in Sicherheit zu bringen suchten. Da der Hauptrotor des Helikopters noch nicht auf vollen Touren arbeitete, sprangen die Insassen aus der Kabine und flüchteten in heller Panik. Buchstäblich in letzter Sekunde zerrte einer der Soldaten Molowe aus der Bahn des Schwerlasters, im nächsten Moment krachte der Liebherr mit Wucht gegen den Helikopter.
Als der Hubschrauber auf die Seite kippte, zerbrach der Rumpf, und der lange Heckausleger wurde abgerissen. Der Helikopter überschlug sich mehrmals, dann bremste ihn die Stoßstange des Lasters aus und schob das Hubschrauberwrack noch einige Meter vor sich her, bis die Maschine explodierte: Der Treibstoff entzündete sich mit einem dumpfen Knall, gefolgt von einer lauteren, schärferen Detonation, als das Triebwerk in die Luft flog. Trümmerteile regneten auf den Laster herab.
»Verflucht noch mal!«, keuchte Chase, als ein brennendes Metallstück vom Kabinendach abprallte und ihn am Arm traf. Trotzdem hielt er den Fuß aufs Gaspedal gedrückt. Es gab einen Ruck, als eines der Räder das Hubschrauberwrack überrollte, dann blieb plattgewalztes Metall hinter ihnen zurück. Chase setzte sich auf – und sah etwas unmittelbar in ihrem Weg. »O Scheiße!«
Nina hob gerade den Kopf, als der Laster heftig schwankte und sie gegen die Kabinentür geschleudert wurde: Chase war es nicht gelungen, dem Festzelt rechtzeitig auszuweichen, und so bretterte der Monstertruck durch den VIP-Bereich des Zeltes und hinterließ eine Spur der Verwüstung: Tische und Champagnerflaschen gerieten unter die mächtigen Räder, die Kellner flüchteten kopflos zum Ausgang, mit einem lauten Knacken wurde das Dach abgerissen, und die ganze Konstruktion brach zusammen. Auf den Monitoren in der Fahrerkabine beobachtete Chase, wie das erschlaffte Zelt in sich zusammenfiel. Dahinter brannte das Hubschrauberwrack.
»Na großartig!«, stöhnte er und lenkte den Laster wieder zur Straße, »jetzt habe ich einen weiteren afrikanischen Staatsführer auf meiner Liste, der mir den Tod wünscht.« Er blinzelte in den trockenen Fahrtwind, der durch die geborstene Windschutzscheibe hereinwehte. Yuens Helikopter befand sich noch in Sichtweite und setzte am Ziel seines kurzen Fluges bereits zur Landung an.
Nina richtete sich auf. »Vielleicht kriegt er doch noch seine Chance.«
»Wie meinst du das?«
»Am Kontrollpunkt stehen Panzer, erinnerst du dich noch?«
Chase schnalzte abschätzig mit der Zunge. »So schnell lassen die sich nicht starten. Außerdem sind die Dinger reine Show.«
Er lenkte den Laster auf die Straße des Behelfsflugplatzes und durchstieß ein quer über die Fahrbahn gespanntes Transparent. Es riss sofort von den Haltestangen, flatterte heftig im Fahrtwind und verfing sich auf Kabinenhöhe am Laufgang. Die Befestigungsleinen flatterten im Fahrtwind.
Chase wandte den Blick zum Tor – wo beide Leopardpanzer soeben Anstalten machten, hinter dem Kontrollpunkt die Straße zu blockieren. Die Geschütztürme schwenkten herum, und die Kanonen nahmen sie ins Visier.