2
Autsch.«
Nina suchte auf dem Kissen verzweifelt nach einer kühlen Stelle, um ihren Kopfschmerz zu lindern. Fündig wurde sie nicht.
Aus dem Nebenraum dröhnten Bässe – Rockmusik der Siebziger und Achtziger, das machte es auch nicht besser. Desgleichen der damit einhergehende Gesang – oder das, was Chase für Gesang hielt.
Widerwillig wälzte sie sich aus dem Bett. Ihr langes T-Shirt war zerknautscht und verschwitzt. Ein Blick in den Spiegel, und sie verdrehte die Augen. Vor der Besprechung würde sie ihr Haar einer Generalüberholung unterziehen müssen.
Die Besprechung …
Voller Panik eilte sie ins Wohnzimmer und blinzelte ins Morgenlicht, das durch die Balkonfenster einfiel. »Wie spät ist es?«, fragte sie.
Chase, in Shorts und grauem T-Shirt, stemmte Hanteln. Er unterbrach seine tonlose Wiedergabe von »Free Bird« und sagte in deutlich sarkastischem Ton: »Guten Morgen, Schatz.«
»Nein, Eddie, im Ernst, wie spät ist es? Ich muss mich fertig machen, ich hab eine Besprechung.«
»Es ist erst sieben, entspann dich. Nicht mal du brauchst so lange, um dich zurechtzumachen.« Er setzte sein Bizepstraining fort.
»Sieben? Und du hast mich so früh geweckt? Kannst du das mal abstellen?« Sie zeigte auf die Stereoanlage, an die Chase einen iPod angeschlossen hatte.
Grummelnd drehte er die Lautstärke ein wenig herunter, dann setzte er sein Hanteltraining fort. »Heute ist Mittwoch. Trainingstag.«
Nina zuckte zusammen. »Ach, Gott, muss das sein? Mir ist heute nicht danach.«
»Eigentlich war es deine Idee«, schnaubte Chase. Mit nasaler, schriller Stimme imitierte er ihren Akzent: »›Eddie, kannst du mir helfen, fit zu bleiben? Eddie, bringst du mir Selbstverteidigung bei?‹ Du hast mir so zugesetzt – und jetzt willst du kneifen?«
»Hab ich nicht«, klagte Nina. »Hör mal, wie wär’s, wenn wir das Training diese Woche ausfallen ließen? Nur diese Woche.«
»Wenn du willst, dass es was nützt, solltest du zweimal die Woche trainieren.« Er änderte den Tonfall. »Ich zieh’s jedenfalls durch. Auch wenn ich den ganzen Tag am Schreibtisch hocke, ich will jedenfalls nicht aus dem Leim gehen.«
Nina gefiel sein Ton nicht, sie war sich aber nicht sicher, ob er die Bemerkung verletzend gemeint hatte oder nicht. Deshalb beschloss sie, den letzten Satz einfach zu übergehen. Jedenfalls dieses eine Mal. »Okay, okay. Aber mach’s kurz, nur zwanzig Minuten. Ich muss mich wirklich für die Besprechung fertig machen.
Als Nina fünf Minuten später aus dem Bad kam, hatte Chase den Glastisch und das schwarze Le-Corbusier-Ledersofa beiseitegeschoben und Platz für die blaue Gymnastikmatte gemacht. Nina trug mittlerweile eine Trainingshose und tappte barfuß über den Boden. »Mist, mir ist kalt«, nörgelte sie.
»Das kommt von dem nackten Holzboden«, sagte er abweisend. »Deine alte Wohnung war viel hübscher. Gemütliche, warme Teppiche … nicht so schickimicki.« Er schnitt der Holzstatue eines langen, extrem schlanken afrikanischen Kriegers, dem Paradestück des Wohnzimmers, eine Grimasse.
»Ich wohne hier nicht allein«, rief Nina und deutete auf ihr persönliches Hassobjekt: einen strahlenden Keramik-Fidel-Castro als Zigarrenhalter, wo Chase jetzt sein Münzgeld hineinwarf. Was genau Chase mit den Spezialeinsatzkräften der Air Force auf Kuba zu tun gehabt hatte, hatte sie bislang noch nicht aus ihm herausbekommen – er hatte beim Einzug darauf bestanden, das Ding auf dem Küchentresen aufzustellen. Nina hatte durchaus Verständnis dafür, dass Eddie sentimentale Erinnerungen mit der Figur verknüpfte – sein Freund Hugo Castille, der bei der Atlantis-Expedition umgekommen war, hatte sie ihm im Scherz geschenkt –, aber Herrgott, sie war so furchtbar hässlich!
»So, so, du hast also einen WG-Partner – man sollte es nicht meinen«, brummte er und wirkte nach Ninas Kritik noch aggressiver. »Also gut! Lass uns anfangen.«
Das Training begann mit Aufwärmübungen; dann machten sie mit Judo weiter. Als sie versuchten, sich gegenseitig umzuwerfen, stellte Nina fest, dass Chase diesmal mehr Widerstand leistete als gewöhnlich. Und dass er sie streitlustiger anging als sonst …
Als sie zum dritten Mal mit dem Rücken auf die Matte flog, keuchte sie zornig auf. Chase setzte ihr das Knie auf die Brust und drückte sie nieder. »Eddie, das tut weh!«
»Das nennt man kämpfen. Wenn wir nicht ernsthaft trainieren, würden wir bloß rummachen.« Er hielt sie noch einen Moment fest, dann richtete er sich auf. »Okay, probieren wir was anderes.«
Nina wartete darauf, dass er ihr hochhalf. Als Chase jedoch nicht daran dachte, ihr die Hand zu reichen, funkelte sie ihn an und erhob sich aus eigener Kraft. »Wo liegt dein Problem?«, fauchte sie.
»Ich habe kein Problem.«
»O doch. Aus irgendeinem Grund bist du angepisst. Eigentlich schon seit einer ganzen Weile. Und nicht erst seit gestern Abend.«
Er lächelte humorlos. »Wow, ich bin beeindruckt. Du erinnerst dich tatsächlich noch an gestern?«
»So wie du dich aufgeführt hast, werde ich diesen Abend nicht so schnell vergessen.« Und weil Nina spürte, dass er im Begriff war, einen verletzenden Kommentar vom Stapel zu lassen, kam sie ihm zuvor und wechselte schnell das Thema. »Also weiter. Wir probieren was anderes.«
Chase brummte und zog eine orangefarbene Plastikpistole aus seiner Sporttasche. »Ist gut. Du möchtest, dass ich der Böse bin, dann will ich dich mal nicht enttäuschen. Mal sehen, ob du behalten hast, was ich dir gezeigt habe.« Er trat einen Schritt zurück, hob die Waffe und zielte auf Nina. »Na los«, forderte er sie auf. »Entwaffne mich.«
Nina schüttelte den Kopf. »Um Himmels willen.«
»Was ist? Du wolltest Selbstverteidigung lernen. Das hier ist Selbstverteidigungstraining.«
»Ja, aber damals hab ich noch geglaubt, wir würden Ärger bekommen, weil sich zum Beispiel jemand wegen Atlantis rächen wollte. Aber jetzt? Ehrlich gesagt möchte ich jetzt nur ein bisschen meinen Kreislauf belasten.«
»Wenn dir jemand eine Waffe vors Gesicht hält, wird dein Kreislauf schon anspringen, glaub mir. Also komm schon.« Er reckte ihr die Waffe entgegen. »Gib mir deine Geldbörse.«
»Was? Eddie, hör auf …«
Er drückte ab. Die Pistole klickte. »Peng! Du bist tot. Versuch’s noch mal. Du hast meinen Boss gekillt. Jetzt bist du dran.«
»Eddie …«
»Peng! Schon wieder tot. Zwecklos.«
Nina musterte ihn stirnrunzelnd, mit wachsender Verärgerung.
»Versuch’s noch mal! Ich bin Giovanni Qobras’ Bruder, und du bist das Miststück, das ihn getötet hat …«
Nina warf sich nach vorn, wich der Pistole aus und packte Chases Unterarm, während sie ihm mit der anderen Hand die Waffe zu entwinden versuchte.
Zack!
Das Zimmer drehte sich um sie, und sie landete mit solcher Wucht auf dem Rücken, dass ihr der Atem aus der Lunge gepresst wurde. Die Mündung der Waffe zeigte auf sie.
Es klickte. »Peng«, sagte Chase grinsend.
Nina funkelte ihn zornig an. Dann stemmte sie sich hoch, stürmte ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Vierzig Minuten später war Nina bereit zum Aufbruch. Sie hätte gern mehr Zeit auf ihr Haar verwandt, das sich als unerwartet widerspenstig erwiesen hatte, doch sie wollte nur noch aus der Wohnung raus. Trotz des Kaffees und mehrerer Schmerztabletten hatte sie immer noch Kopfschmerzen.
Das war jedoch nicht der Hauptgrund, weshalb sie an die frische Luft wollte.
»Worum geht’s eigentlich bei dem Treffen mit dem Typen heute?«, fragte Chase. Er trug immer noch T-Shirt und Shorts, fläzte sich auf dem Sofa, hatte die Füße auf den Glastisch gelegt und machte keine Anstalten, sie zu begleiten.
»Nimm die Füße runter«, sagte Nina grob.
Chase reagierte nicht.
»Das ist geheim, eine IBAK-Angelegenheit«, setzte Nina hinzu. Das stimmte zwar nicht, doch sie hatte weder Zeit noch Lust, in die Details zu gehen.
Chase rollte mit den Augen. »Tatsächlich?«
»Und wie steht es mit dir? Du bist ja immer noch nicht angezogen.«
Er deutete beiläufig aufs Fenster. »Ich hab beschlossen, den Vormittag frei zu nehmen.«
»Ach, ja? Hast du mal nachgefragt, ob das in Ordnung geht?«
»Da du offenbar keine Verwendung für mich hast, ist es doch ohnehin egal.«
Nina atmete tief durch, vermochte ihre Verärgerung jedoch nicht zu verhehlen. »Die IBAK ist eine professionelle Organisation, Eddie. Da braucht man eine Erlaubnis, wenn man der Arbeit fernbleiben will.«
Chase verschränkte die Hände hinter dem Kopf und streckte sich. »Okay, Boss, habe ich deine Erlaubnis, mir heute Vormittag frei zu nehmen? Ich muss zur Reinigung, weil mir jemand Rotwein aufs Sakko geschüttet hat.«
»Herrgott!« Nina riss nun endgültig der Geduldsfaden. »Mach doch, was du willst! Nimm dir den Vormittag frei, meinetwegen die ganze Woche! Ist mir doch egal.« Sie schnappte sich ihre Tasche, ging hinaus und warf die Tür hinter sich zu. »Verflucht und zugenäht!«, knurrte Chase und funkelte die afrikanische Statue an. »Und du, verpiss dich!«
Die Statue erwiderte seinen Blick schweigend.
Wutschäumend holte er sein Sakko aus dem Schlafzimmer. Die Flecken waren auf dem dunklen Stoff gut zu erkennen. »Scheiße«, knurrte er. »Ich muss wohl tatsächlich zur Reinigung.« Er leerte die Taschen – und berührte etwas Unerwartetes. Ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Neugierig faltete er es auseinander.
Chase erkannte die Handschrift wieder, noch ehe er die Unterschrift gesehen hatte. Sophia. Offenbar hatte sie ihm den Zettel in die Tasche gesteckt, als sie ihn am Sakko gezupft hatte.
Er las die Nachricht.
Seine Augen weiteten sich. Er konnte es einfach nicht glauben und las die Botschaft noch einmal. Doch da stand es schwarz auf weiß.
»Verflucht …«, flüsterte er. Die Reinigung konnte warten – er musste zur IBAK.
Aber nicht, um mit Nina zu sprechen. Das hier war eine Nummer zu groß für sie.
Ninas Büro war mit einem kleinen Bad ausgestattet, in dem sie sich mehr schlecht als recht zurechtzumachen versuchte, um auf ihren Besucher einen möglichst gepflegten und professionellen Eindruck zu machen. Sie musterte ihr Spiegelbild und berührte den Anhänger der Halskette. Bei dem geschwungenen Metallstück handelte es sich um ein atlantiatisches Artefakt, das sie vor Jahren entdeckt hatte, ohne seine Herkunft zu kennen; seitdem betrachtete sie es als ihren Glücksbringer und hoffte, es würde ihr heute helfen, ihre Ziele zu erreichen.
Zufrieden mit ihrer Frisur, der man endlich wieder die fünfhundert Dollar ansah, die sie wert war, vergewisserte Nina sich, dass ihr Armani-Blazer und das Hemd keine Falten warfen und dass ihre schwarzen Stöckelschuhe sauber waren, dann sah sie auf die Uhr. Zeit für die Besprechung.
Zuvor aber musste sie noch etwas üben.
Nina ging wieder ins Büro, setzte sich an den Schreibtisch und blickte durch das Fenster des UN-Gebäudes auf die Skyline von Manhattan. »Okay. Ich schaffe das, das kriege ich hin.« Sie atmete tief durch. »Guten Morgen, Mr. Popadol– verdammt! Popo, Popadolapis – Mist!« Sie klatschte sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ich bin immer noch betrunken! Mr. Nicholas Popadopoulos«, brachte sie schließlich heraus, jede Silbe einzeln betonend. »Po-pa-do-pou-los. Popadopoulos. Endlich!« Unwillkürlich kicherte sie. »Okay, jetzt bin ich bereit, Sie zu empfangen, Mr. Popadopoulos. Und Sie werden mir geben, was ich haben will.«
Der fragliche Mann traf ein paar Minuten später ein. Nina hatte bereits mehrmals mit ihm telefoniert, war ihm aber noch nicht persönlich begegnet. Für eine derart einflussreiche Persönlichkeit wirkte er eher unscheinbar. Popadopoulos war über sechzig und ging leicht gebeugt. Sein schütteres schwarzes Haar klebte ihm am Schädel, doch er bemühte sich vergeblich, die kahle Stelle zu verbergen. Der Grieche hatte einen schmalen Oberlippenbart und trug eine dicke Brille, durch die er Nina misstrauisch musterte, als sie ihn ins Büro geleitete.
»Guten Morgen, Mr. Popadopoulos«, sagte sie und verkniff sich ein zufriedenes Lächeln. »Es freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«
»Dr. Wilde, ja«, erwiderte er. Sein griechischer Akzent war leicht italienisch gefärbt – die Bruderschaft von Selasphoros war in Rom beheimatet, und wenn Ninas Informationen zutreffend waren, leitete Popadopoulos schon seit über drei Jahrzehnten das Archiv der Geheimgesellschaft. »Ich verstehe wirklich nicht, weshalb Sie mich gezwungen haben, nach New York zu kommen, nein, ganz und gar nicht. Wo es doch mittlerweile diese wundervollen neuen Erfindungen wie Telefon, Fax und E-Mail gibt. Ich nehme an, Sie haben doch schon davon gehört?«
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Nina freundlich, obwohl sie ihn am liebsten gewürgt hätte. »Ich habe Sie deshalb gebeten, nach New York zu kommen, weil ich Sie dank der technischen Errungenschaften wie Telefon, Fax und E-Mail nicht dazu bewegen konnte, mir zu helfen. Und da meine Vorgesetzten von der IBAK und Ihre Vorgesetzten von der Bruderschaft darin übereinstimmen, dass meine Nachforschungen über das Grab des Herkules von Bedeutung sind, und da die Bruderschaft eingewilligt hat, der IBAK zu helfen …«
»Diese Vereinbarung wurde uns praktisch abgenötigt«, warf Popadopoulos ein. »Man hat uns keine Wahl gelassen!«
»Jedenfalls wurde sie getroffen. Und ich wollte Ihnen freundlicherweise im persönlichen Gespräch erklären, weshalb ich den Hermokrates-Text sehen muss – und zwar das Original, nicht irgendwelche Kopien oder Fotografien.«
»Da steht nichts drin, was Sie nicht bereits kennen würden!«, erwiderte Popadopoulos und hob abwehrend die Hände. »Das Manuskript befindet sich seit über zweitausend Jahren in unserem Besitz, es wurde von den Historikern der Bruderschaft gründlich studiert! Gäbe es darin irgendwelche Hinweise auf das Grab des Herkules, hätten wir sie längst entdeckt.«
»Die übrigen verschollen geglaubten Schriften Platos befinden sich seit einer vergleichbaren Zeitspanne ebenfalls in Ihrem Besitz, aber Sie haben Atlantis nicht gefunden. Ich hingegen schon«, erklärte Nina scharf.
Popadopoulos wirkte getroffen. »Kritias kündigt im Hermokrates mehrfach an, dass er Sokrates und den anderen den Ort und die Geheimnisse des Grabes, in die Solon ihn eingeweiht habe, enthüllen werde, doch er tut es nicht. Weil der Text nicht vollendet wurde!«
»Da bin ich anderer Ansicht. Hermokrates ist in jeder anderen Beziehung ein vollständiger Dialog. Zum Schluss bleibt nur die Angelegenheit mit dem Grab des Herkules offen – und es wäre schon ein toller Lapsus, wenn Plato das lediglich übersehen hätte!« Ninas Tonfall wurde milder, als sie sich in Erinnerung rief, dass sie Popadopoulos zur Zusammenarbeit bewegen wollte. »Ich bin der festen Überzeugung, dass in dem Text irgendein Hinweis zu finden ist, der sich aus Abschriften oder Kopien der Pergamente nicht erschließt. Mr. Popadopoulos, wir sind beide Historiker – wir bewahren und dokumentieren die Vergangenheit. Das ist unsere große Leidenschaft. Das treibt uns an. Ich bin mir sicher, dass ich einen Hinweis auf das Grab des Herkules finden werde, wenn Sie mir Einblick in die Originalschriften gewähren. Wir wissen beide, weshalb die Entdeckung von Atlantis nicht bekannt gemacht werden darf, doch das Grab des Herkules ist ein alter Schatz, der die Öffentlichkeit angeht.«
Popadopoulos schwieg, schien aber über ihre Worte nachzudenken.
Nina fuhr fort: »Ich garantiere Ihnen, dass alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um die Pergamente zu schützen. Die einzigen IBAK-Angehörigen, die sie zu Gesicht bekommen werden, können Sie selbst autorisieren. Sie werden uneingeschränkten Zugang zu den Pergamenten behalten und können die Sicherheitsmaßnahmen selbst festlegen. Ich bitte Sie nur darum, dass ich das Manuskript hier in New York in Augenschein nehmen darf, damit ich gegebenenfalls auf die Forschungseinrichtungen der IBAK zurückgreifen kann. Das Archiv der Bruderschaft ist ein unschätzbarer Quell des Wissens – bitte lassen Sie mich daran teilhaben. Um der Geschichtsforschung willen.«
Nina lehnte sich zurück. Sie hatte ihr Sprüchlein aufgesagt; jetzt lag alles an Popadopoulos. Er schwieg eine Weile, und Ninas Besorgnis steigerte sich mit jedem Ticken der Uhr. Wenn er nein sagte, stand sie wieder ganz am Anfang …
»Ich werde mir Ihren Vorschlag durch den Kopf gehen lassen«, sagte er schließlich. Seinem resignierten Tonfall war zu entnehmen, dass er ihr tatsächlich Einblick gewähren würde; da die Bruderschaft bereits ihr grundsätzliches Einverständnis bekundet hatte, konnte er sich jetzt schlecht weigern. Seine Bedenkzeit diente ihm nur dazu, das Gesicht zu wahren. »Außerdem muss ich mit der Bruderschaft sprechen.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte Nina. »Sie können mein Telefon benutzen.« Sie deutete auf den Schreibtisch. »Ich lasse Sie allein – wenn Sie mich brauchen, wählen Sie einfach die Null, dann werde ich ausgerufen.«
»Danke, Dr. Wilde.«
Sie erhoben sich und schüttelten einander förmlich die Hand, dann ging Nina hinaus.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, boxte sie in die Luft. Ja! Von Triumphgefühl erfüllt, wandte sie sich zur Cafeteria. Doch gerade, als sie überlegte, was sie sich auf diesen kleinen Sieg hin gönnen sollte – mit Kaffee war schlecht feiern, doch nach der gestrigen Party hatte sie keine Lust auf Sekt –, erstarrte Nina. Ein Stück vor ihr trat ein Mann aus einem Büro. Er wandte ihr den Rücken zu und ging zum Lift am anderen Ende des Flurs. Ein Mann in Jeans und zerknautschter Lederjacke.
Eddie Chase.
Nina wollte ihm hinterherrufen, doch dann klappte sie den Mund wieder zu, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Außerdem, was machte er hier eigentlich nach dem ganzen Gerede von wegen Blaumachen?
Ihre Verwirrung wurde noch gesteigert, als sie sah, aus welcher Tür er gerade getreten war. Dahinter lag das Büro von Hector Amoros. Chase hatte so gut wie nichts mit Amoros zu tun – weshalb hatte er dann jetzt mit ihm gesprochen?
Die Fahrstuhltür schloss sich hinter Chase – falls er sie gesehen hatte, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.
Nina fröstelte. Hatte er vielleicht gekündigt? Hatte er dem Leiter der IBAK seine Kündigung überreicht?
Sie begann zu zittern. Wenn es ihretwegen war, dann warf er vielleicht nicht nur beruflich das Handtuch …
Nina wollte gerade bei Amoros anklopfen und ihn fragen, was passiert sei, da wurde ihr Name ausgerufen. Offenbar war Popadopoulos zu einer schnellen Entscheidung gelangt.
Sie schwankte einen Moment, dann machte sie kehrt und ging zu ihrem Büro zurück. Eins nach dem anderen. Erst musste sie Popadopoulos loswerden und dann herausbekommen, was Chase in Amoros’ Büro gemacht hatte. Hoffentlich war es noch nicht zu spät, ihn von einer Dummheit abzuhalten. Nicht dass sie in dieser Beziehung in letzter Zeit besonders erfolgreich gewesen wäre, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt …
Der gebeugte Historiker erwartete sie im Stehen. »Dr. Wilde«, sagte er ein wenig widerwillig, »was das Hermokrates-Manuskript angeht … Die Bruderschaft gestattet Ihnen, den Text in Augenschein zu nehmen. Hier in New York.«
»Ich danke Ihnen«, erwiderte Nina mit weniger Freude, als sie erwartet hatte.
»Natürlich gibt es gewisse Bedingungen hinsichtlich der Sicherheit und des Umgangs mit den Pergamenten – die Einzelheiten werde ich Ihnen bis zum Nachmittag per E-Mail zukommen lassen.« Seine Augen verengten sich hinter den goldgefassten Brillengläsern. »Und bevor Sie nachfragen: Nein, diese Bedingungen sind nicht verhandelbar.«
»Ich bin sicher, dass ich damit zurechtkommen werde«, sagte Nina zerstreut. Ihre Gedanken waren immer noch bei Chase.
Popadopoulos wirkte überrascht über ihr schnelles Einverständnis; offenbar hatte er mit einer längeren Auseinandersetzung gerechnet und war jetzt ein wenig enttäuscht, dass sie ihm vorenthalten wurde.
»Also schön«, sagte er. »Ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen und lasse das Manuskript morgen aus Italien herfliegen. Ich werde natürlich zugegen sein, wenn Sie – und zwar Sie allein, niemand sonst – die Blätter in Augenschein nehmen.«
»Ja, großartig.« Nina blinzelte missmutig, riss sich dann jedoch zusammen. »Was ich eigentlich sagen wollte: Ich danke Ihnen, Mr. Popadopoulos, vielen Dank! Ich freue mich schon darauf. Danke.« Nina schüttelte ihm mit falscher Begeisterung die Hand; dann drängte sie den kleinen Mann jedoch regelrecht aus ihrem Büro, schlug die Tür hinter ihm zu, setzte sich und schlug die Hand vor den Mund.
Chase, was hast du getan?
Sie wollte gerade Amoros anrufen, als das Telefon klingelte. Erschreckt nahm sie den Hörer ab. »Hallo?«
»Hallo, Nina.« Es war Amoros persönlich. »Wenn Sie Zeit haben, könnten Sie dann einen Moment in mein Büro kommen?«
»Geht es – um Eddie?«
»Ehrlich gesagt, ja.« Er klang überrascht. »Ich wundere mich, dass Sie Bescheid wissen. Er hat gemeint, er habe Ihnen noch nichts gesagt.«
»Was gesagt?«, fragte sie voller Panik.
Es entstand eine Pause. »Vielleicht sollten Sie doch besser herkommen …«
»Du fliegst wohin?«, fragte Nina. Gleich nach der Besprechung mit Amoros war sie auf die Straße gestürzt, in ein Taxi gesprungen und zu ihrer Wohnung zurückgefahren.
»Nach Shanghai«, antwortete Chase so beiläufig, als wäre ein Flug nach China für ihn ebenso alltäglich wie eine Fahrt mit der U-Bahn. Währenddessen stopfte er Kleidungsstücke in eine Tasche.
»Weshalb fliegst du nach Shanghai?«
Er lächelte herablassend. »Es handelt sich um einen geheimen IBAK-Auftrag.«
Nina wurde zornig. »Geheim, soso. Aber weißt du was? Da scheiß ich drauf! Sag mir sofort, was du vorhast!«
»Tut mir leid, Schatz, das ist wirklich geheim. Amoros sieht das genauso – und die UN ebenfalls.«
Empört stemmte Nina die Arme in die Hüften und nahm vor ihm Aufstellung. »Geht es um uns?«
»Mit uns hat das nichts zu tun«, erwiderte Chase ernst. »Es hat sich etwas ergeben, was ich für sicherheitsrelevant hielt; Amoros war derselben Ansicht, und jetzt fliege ich nach Shanghai, um der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Weshalb du? Warum nicht jemand anders? Und warum kann sich nicht jemand um die Sache kümmern, der sich bereits in Shanghai aufhält?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
»Darfst du nicht, oder willst du nicht?«
Ohne sie anzusehen, schloss Chase den Reißverschluss der Reisetasche und schob Pass und andere Dokumente in die Innentasche seiner Lederjacke. »Ich muss los.«
»Wie lange wirst du wegbleiben?«
Chase zuckte mit den Schultern. »Solange ich eben brauche.« Er wandte sich zur Tür, doch Nina verstellte ihm den Weg.
»Du haust Hals über Kopf ab und fliegst um die halbe Welt – und dann willst du mir nicht mal den Grund dafür sagen? Und da soll ich dir abnehmen, dass das nichts mit unseren gegenwärtigen Problemen zu tun hat?«
»Es ist mir egal, was du glaubst. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss arbeiten.« Chase zwängte sich an ihr vorbei und ging hinaus.
»Arschloch!«, fauchte Nina mit einem giftigen Blick auf die Wohnungstür, die sich gerade hinter ihm schloss. Mit geballten Fäusten trat sie vor das kubanische Souvenir, als wollte sie es auf den Boden fegen und zerschmettern, doch dann wandte sie sich ab und warf sich bebend vor Wut aufs Sofa.