30
New York City
Es würde ein strahlend schöner Tag werden.
Im Osten ging die Sonne auf, und das Morgenrot machte einem wolkenlosen Azurblau Platz. Dunkle Morgenschatten durchschnitten die Straßenschluchten der großen Stadt, und die Ostfassaden der Wolkenkratzer im Zentrum leuchteten golden.
New York war bereits hellwach. Um halb acht morgens waren die Straßen bereits von Personenwagen und Taxis verstopft – das Morgenlied Manhattans war nicht Vogelgezwitscher, sondern das Plärren der Hupen. Menschenscharen strömten auf die Insel und verteilten sich in den Etagen der Türme. Das globale Finanzzentrum rüstete sich für einen weiteren geschäftigen Tag.
Elf Kilometer südlich von Manhattan verband die gewaltige Verrazano Narrows Bridge Brooklyn mit Staten Island und markierte die Grenze zwischen dem Atlantik und dem Hafen von New York. Dutzende Schiffe fuhren täglich darunter her, und nur wenige ernteten mehr als einen beiläufigen Blick.
Das galt auch für die Ocean Emperor.
Sophia stand auf der Brücke der Yacht und beobachtete, wie das Boot die Narrows hochfuhr und den Bay Ridge von Brooklyn umrundete. Vor ihr lag Governor’s Island – und dahinter ragten die in der Morgensonne funkelnden Türme von Manhattan auf.
»Es sieht beinahe so aus, als ob sie in Flammen stünden«, bemerkte Komosa mit einem Anflug von Ehrfurcht.
Sophia lächelte. »Bald werden sie tatsächlich brennen.«
Lenard wandte sich von der Steuerung ab. »Der Autopilot ist programmiert, Ma’am. Die Yacht wird entlang der voreingestellten Wegepunkte den East River hochfahren und kurz vor Zündung der Bombe das Ufer ansteuern. Berücksichtigt man die Abdrift, sollte sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiter als fünfzig Meter vom Land entfernt sein.«
»Gut«, sagte Sophia. »Je näher, desto besser.« Sie wandte sich vom Fenster ab. »Ich glaube, wir sollten jetzt aufbrechen. Captain, lassen Sie die Mannschaft ins Flugzeug einsteigen. Joe …« Sie lächelte. »Ich hab’s mir anders überlegt. Geh runter in den Frachtraum und töte Eddie.«
Komosa strahlte boshaft. »Mit Vergnügen. Und was ist mit der Frau?«
»Rühr sie nicht an.«
»Meinst du wirklich?«, fragte er überrascht.
»Ich möchte, dass Eddie schnell und sauber stirbt«, sagte sie. »Das bin ich ihm schuldig. Aber die Frau … die soll leiden.« Sie fasste sich an die tiefe Kratzwunde auf ihrer Wange. »Sie soll in den letzten Minuten ihres Lebens den Leichnam ihres Geliebten vor Augen haben. Das bin ich ihr schuldig.«
Komosa zog die silberne Browning unter der Lederweste hervor. »Wird erledigt.«
»Schnell und sauber«, wiederholte Sophia, als er hinausging; seine Piercings funkelten im Sonnenschein. »Wir heben ab, sobald die Maschine startklar ist. Beeil dich.«
»Keine Sorge«, versicherte er ihr und ließ sein Diamantlächeln aufblitzen.
Der Timer sprang auf 00:10:00 um, dann setzte er den Countdown fort.
»Tja«, meinte Chase, »jetzt wäre ein guter Moment für ein letztes Brainstorming.«
»Mir sind leider die Ideen ausgegangen«, erwiderte Nina düster. Sie hatten alles versucht, um sich zu befreien, hatten sich dabei aber lediglich blutende Handgelenke geholt.
Chase rüttelte an den Kette, die ihn mit dem Rohr verband. »Allmählich bedaure ich, dass ich Sophias Vorschlag nicht befolgt habe.«
»Wie sah der aus?«
»Sie hat gemeint, ich solle mir die Hand abnagen.«
Nina rang sich ein Lächeln ab. »Ziemlich extrem.«
»Das hier ist ja auch eine Extremsituation.«
»Davon hatten wir in letzter Zeit eine Menge, nicht wahr?«
Chase nickte. »Ja, wir haben gemeinsam schon eine Menge durchgemacht. Aber …«
Sein geständnishafter Tonfall veranlasste Nina, sich aufzusetzen. »Möchtest du mir etwas sagen?«, fragte sie leise.
»Na ja, es wird allmählich Zeit, meinst du nicht?« Er deutete auf die Bombe. »Ich wollte nur sagen, auch wenn wir ein paar Problem hatten … die letzten anderthalb Jahre mit dir waren die beste Zeit meines Lebens. Ich wünschte nur, ich hätte das eher begriffen, anstatt mich wie ein selbstsüchtiges Arschloch aufzuführen.«
»Ach, Eddie …« Nina lächelte traurig und mitfühlend. »Ich war doch auch selbstsüchtig. Aber wir hatten trotzdem eine richtig gute Zeit, nicht wahr?«
»Ja. Wir waren ein gutes Team.«
»Ein klasse Team.«
»Hmm, ja.«
Sie sahen einander an. »Ich, äh …«, setzte Chase an.
»Was ist?«, fragte Nina.
»Nichts.«
»Nein, rede nur weiter. Wie du schon sagtest, jetzt ist der richtige Moment.«
»Da hast du wohl recht.« Chase stockte, sammelte seine Gedanken. »Es gibt da etwas, das ich dich schon lange fragen wollte.«
Nina ahnte, worauf er hinauswollte. »Seit wir uns versöhnt haben?«
»Nein, schon länger. Ich meine, als wir uns gestritten haben, natürlich nicht. Aber das beschäftigt mich schon eine Weile.«
»Na los, dann frag.«
Er zeigte erneut auf die Bombe. »Aber es hat nicht mehr viel Sinn, oder?«
»Wahrscheinlich nicht.« Nina seufzte. »Aber …«
»Was?«
»Ich glaube, du weißt, was ich geantwortet hätte.«
»Ich glaub schon.« Er lächelte, dann lachte er kurz auf.
»Weshalb lachst du?«
»Mir ist gerade etwas eingefallen. Wenn wir es getan und unsere Namen mit Bindestrich geschrieben hätten, dann würden wir jetzt Wilde-Chase heißen. Wilde Jagd. Klingt irgendwie treffend.«
»Und das ist dir eben erst eingefallen?«, sagte Nina, die nun ebenfalls lachen musste. »Daran hab ich schon vor anderthalb Jahren gedacht!«
Chase hob eine Augenbraue. »Du hast schon daran gedacht, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten?«
»Na ja, das ging mir halt so durch den Sinn!« Beide lachten.
Und dann wurde die Tür geöffnet.
Als Komosa mit der Waffe in der Hand eintrat, sprangen Chase und Nina auf die Beine. »Mit Gelächter habe ich nun gerade nicht gerechnet«, sagte der Nigerianer mit spöttischer Missbilligung. »Aber das lässt sich ja gleich ändern.«
»Sie sind immer noch hier?«, sagte Chase und sah Komosa in die Augen. »Sophia hat Sie schon fallengelassen, hab ich recht?«
»Tatsächlich hat sie mich gebeten, Sie von Ihrem Elend zu erlösen.« Komosa nahm zwischen Chase und Nina Aufstellung. »Ich fliege in einer Minute zusammen mit ihr los. Sie hat sich eine gute Stelle auf Staten Island ausgesucht.«
»Ja, von dort aus hat man eine schöne Aussicht auf die planierten Müllkippen«, erwiderte Nina sarkastisch.
»Dann hat Sophia also entschieden, uns töten zu lassen«, sagte Chase.
»Nein«, entgegnete Komosa und zielte auf Chase, »nur Sie. Dr. Wilde soll in den letzten Minuten ihres Lebens trauern.«
Ninas Trotz wurden von kaltem Entsetzen hinweggeschwemmt, doch ehe sie reagieren konnte, fuhr Komosa bereits fort: »Aber ich habe eine noch bessere Idee. Ich möchte, dass Sie beide leiden – vor allem Sie, Chase. Deshalb werde ich Ihnen eine Kugel in den Bauch verpassen. In den letzten Minuten Ihres Lebens werden Sie unerträgliche Schmerzen haben – und Sie« – er blickte sich zu Nina um – »müssen ohnmächtig zusehen.« Er senkte den Lauf der Waffe auf Chases Bauch.
»Darf ich wenigstens die berühmten letzten Worte sprechen?«, knurrte Chase.
Komosa grinste. »Ein Stöhnen reicht mir.« Mit dem Daumen spannte er den verchromten Hammer. Es klickte …
… da warf Chase sich auf ihn und trat heftig aus. Die Kette der Handschellen schrammte mit einem unschönen Geräusch am Rohr entlang. Komosa wich unwillkürlich zurück, obwohl er sich außerhalb der Reichweite von Chases Beinen befand.
Es dauerte jedoch nur einen Moment, dann fasste er sich wieder, zielte erneut und lächelte – allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde. Nina sprang ihn von hinten an und rammte ihm beide Füße in den Rücken.
Sie prallte hart auf dem Boden auf, die gefesselten Arme nach oben gestreckt. Komosa taumelte nach vorn …
Krack!
Chase schnellte hoch und versetzte dem Nigerianer einen brutalen Kopfstoß, der den Unterkiefer des Hünen zwischen den Schneidezähnen spaltete. Ein scharfer Knochensplitter bohrte sich durch dessen Gaumen und die Lippe.
Komosa brüllte, und aus seinem Mund strömte Blut, als Chase auf dem Boden landete. Sein Kopf befand sich nun auf einer Höhe mit Komosas Brust.
Chase schloss die Zähne um den silbernen Ring in Komosas linker Brustwarze, riss den Kopf mit aller Kraft nach hinten und zerrte seinen Gegner auf das Rohr zu, dann löste sich der Ring und riss einen blutigen Fleischklumpen aus Komosas Brust.
Chase, der aus einer tiefen Stirnwunde blutete, spuckte das blutige Schmuckstück aus, schwenkte zum Rohr herum, packte Komosas Waffe mit beiden Händen und versuchte sie ihm zu entwinden.
Trotz seiner Schmerzen hatte Komosa sich mittlerweile wieder gefangen. Obwohl ihm die Kinnlade herunterhing und eine abstoßende Mischung aus Blut und Speichel durch die schartige Zahnpartie troff, hob er den Arm …
Und hob ihn immer weiter.
Chase umklammerte die Waffe mit beiden Händen, konnte aber nicht verhindern, dass er in die Luft gehoben wurde und mit der Brust gegen das Rohr stieß, da er keinen Halt mehr auf dem Boden fand. Die Sehnen in Komosas Arm strafften sich wie Stahlseile, die Adern traten hervor. Der Hüne knurrte gurgelnd.
Mit dem anderen Arm holte er zum Schlag aus …
Chase wurde klar, dass es ihm niemals gelingen würde, Komosa die Waffe zu entreißen – dessen Hand war einfach zu kräftig, sein Griff so unerbittlich wie ein Schraubstock. Deshalb ließ Chase die Waffe los und stieß seinen linken Daumen über Komosas Zeigefinger in den Abzugbügel. Da seine Hände dicht beieinander waren, hatte die Handschellenkette Spiel – mit dem anderen Daumen hob Chase sie an und drückte gleichzeitig Komosas Zeigefinger gegen den Abzug …
Womm!
Die Kugel durchtrennte sauber die Kette, einzelne Stahlglieder flogen umher.
Obwohl er die Hände jetzt beide frei hatte, ließ Chase die Waffe nicht los – Komosa hätte ihn sonst sofort erschossen. Am erhobenen Arm des Hünen baumelnd, rammte er ihm das Knie in den Unterleib.
Komosa zuckte zurück, allerdings nicht weit genug – da er vom Rohr behindert wurde, hatte Chase lediglich einen Streiftreffer anbringen können. Darauf folgte der Hieb von Komosas anderer Hand. Chase versuchte auszuweichen, trotzdem bohrten sich die Knöchel des Afrikaners mit der Gewalt eines Eisenbahnzugs in seinen Bauch.
Der brutale Hieb presste ihm die Luft aus der Lunge. Die Waffe fiel ihm aus der Hand, und er geriet heftig ins Schaukeln, als Komosa plötzlich zurückwich …
Dumpf prallte Chases Kopf gegen das Metallrohr. Vor seinen Augen explodierte eine Supernova in unbeschreiblichen Farben, ein ungeahnter Schmerz durchzuckte seinen Kopf.
Er drückte mit dem linken Daumen zu.
Auf dem Helipad wartete Sophia ungeduldig neben dem Kipprotor und ruckte mit dem Kopf, als von unten ein weiterer Schuss ertönte. Dann sprang sie in die Kabine. »Starten, und zwar schnell!«
Die Männer an Bord musterten sie erstaunt. »Was ist mit Mr. Komosa?«, fragte der Pilot.
»Machen Sie schon!«, rief sie. »Bringen Sie uns von hier weg, sofort!«
Der zweite Schuss konnte nur bedeuten, dass dort unten etwas schiefgegangen war …
Die Kugel traf die gegenüberliegende Wand. Chase, dessen Benommenheit durch das Klingeln in seinen Ohren noch verstärkt wurde, konnte sich nicht wehren, als Komosa sein linkes Handgelenk gegen das Rohr schmetterte, um ihm die Waffe zu entwinden und ihn zu Boden zu werfen.
Ein weiterer Hieb traf ihn, und etwas knirschte unschön. Seine Finger rutschten von der Waffe ab …
Durch einen Nebel von Schmerzen hindurch sah Chase Komosas blutüberströmtes Gesicht. Nimm dir die Augen vor, riet ihm sein Kämpferinstinkt.
Doch er kam nicht heran. Komosa hatte eine größere Reichweite.
Dann blieb nur noch eine Möglichkeit …
Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung riss Chase den rechten Arm hoch und stieß mit dem Daumen nach der Waffe.
Dabei zielte er nicht auf den Abzug, sondern auf die dahinter befindliche Entriegelung des Magazins.
Das Magazin klickte und fiel heraus. Erst dann drückte Chase mit dem linken Daumen ein drittes Mal ab und verfeuerte die letzte verbliebene Patrone in der Kammer. Der Schlitten der Browning blockierte.
Ehe das Magazin auf dem Boden auftraf, trat Chase aus und kickte es quer durch den Raum. Es prallte neben Nina gegen die Wand und schlitterte über den Boden.
Komosa traten schier die Augen aus den Höhlen vor Wut. Abermals schmetterte er Chases Handgelenk mit voller Gewalt gegen das Rohr. Diesmal war der Schmerz so groß, dass Chase losließ, zurücktaumelte und auf den Rücken fiel.
Endlich hatte er sich vom Rohr freigemacht, doch das war kein Trost, denn der wutschäumende Komosa warf sich auf ihn.
Die Waffe drosch auf seinen Kopf. Im letzten Moment riss Chase die Hände hoch und blockte den Hieb, doch Komosa schlug erneut zu, wieder und wieder, bis das Metall schließlich Chases Schädel traf. Sein Kopf rumste auf den Boden.
Er stöhnte. Durch einen Nebelschleier hindurch sah er die Bombe mit der tickenden Uhr in etwa zweieinhalb Meter Entfernung. Von draußen drang ein Grollen herein; der Kipprotor hob ab und flog davon.
Komosa richtete sich auf und hielt Ausschau nach dem Magazin. Als er es ausgemacht hatte, taumelte er Nina entgegen.
Sie sah, wie Chase sich auf die Seite wälzte und ganz langsam, unter Schmerzen, auf die Bombe zukroch. Was immer er vorhaben mochte, sie musste versuchen, ihm eine Atempause zu verschaffen.
An das Magazin kam sie mit den gefesselten Händen nicht heran. Aber vielleicht mit den Füßen …
Nina schwang sich am Rohr nach vorn und kickte das Magazin weg, ehe Komosa es erreichte. Es schlitterte über den Boden und prallte gegen die gegenüberliegende Wand. Komosa zischte etwas Unverständliches, blutiger Schaum troff von seinen Lippen, dann trat er Nina kräftig in den Bauch und torkelte dem Magazin hinterher.
Chase hatte die Bombe erreicht und zog sich an den senkrechten Streben hoch.
Komosa hob das Magazin auf und schob es in die Pistole. Der Schlitten sprang zurück und lud eine Kugel in die Kammer. Dann drehte der Hüne sich um, hob die Waffe – und stellte fest, dass Chase auf ihn zielte!
»Verpierc dich!«, knurrte Chase und löste das Bolzenschussgerät aus.
Mit einem vernehmlichen Knall schoss ein fünfzehn Zentimeter langer Stahlbolzen quer durch den Raum. Da er dazu geeignet war, Metall zu durchdringen, traf er auf fast keinen Widerstand, als er Komosas Brustkasten und dessen Herz durchbohrte. Nahezu ungebremst trat er aus dem Rücken wieder aus und bohrte sich in das Schott. Fixiert wie ein Schmetterling auf einem Brett, starrte Komosa Chase entgeistert an, dann tat er seinen letzten pfeifenden Atemzug. Der Kopf sackte ihm nach vorn, aus dem sauberen Loch in seiner Brust strömte Blut und vermischte sich mit dem Schaum, der aus seinem gebrochenen Kiefer austrat. Die Pistole fiel klirrend zu Boden.
»Das war fies«, keuchte Nina.
»Der Scheißkerl hat es verdient«, erwiderte Chase matt, ließ das Bolzenschussgerät fallen und kroch auf sie zu.
»Nein, ich hab dein Wortspiel gemeint.«
Chase gab einen Laut von sich, der beinahe ein Lachen hätte sein können. »Bist du okay?«
»Kümmere dich nicht um mich. Was ist mit der Bombe?« Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie hinüber und las die angezeigten Ziffern ab. »O mein Gott! Nur noch sechs Minuten!«
Chase änderte die Richtung und schaffte es irgendwie, sich aufzurichten. Er torkelte zu Komosas Leichnam hinüber und hob die Waffe auf. »Du musst zur Brücke gehen und einen Notruf senden – Kanal sechzehn. Dann wende die Yacht und steuere sie so weit wie möglich vom Land weg.«
»Was ist mit dir?«
»Ich werde versuchen, das Ding zu entschärfen! Zieh die Kette ums Rohr straff!«
Sie gehorchte. »Du hast doch gemeint, die Bombe wäre manipulationsgesichert!«
Mit zitternden Händen setzte Chase die Pistolenmündung auf die Kette und zielte möglichst weit von Ninas Händen weg. »Irgendetwas muss ich doch tun!« Er drückte ab. Die Kette riss, und Ninas Hände ruckten auseinander. »Na los, lauf schon!«
Mit einem besorgten Blick auf sein blutiges Gesicht eilte Nina aus dem Frachtraum, und Chase taumelte zur Bombe.
»Also, mal schauen«, murmelte er und holte Luft. Der Timer stand auf 00:05:22. »Noch fünf Minuten bis zur Zündung. Das kann ich schaffen. Jawoll.«
Chase stützte sich auf die Bombenkappe und blickte in den Stahlbehälter hinein. Die dicken Bolzen, die den Uranzünder gesichert hatten, waren eingezogen. Er langte in die Öffnung hinein, um das Uran zwischen den Streben hindurchzuziehen, doch es war so gut eingepasst, dass er nicht einmal einen Fingernagel in den Spalt schieben konnte.
Wenn er die Zündmasse nicht herausbekam, ließ sie sich aber vielleicht blockieren …
Verschwommen erinnerte er sich an Bruchstücke aus Einsatzbesprechungen bei der SAS. Bei einer Bombe dieses Typs mussten die beiden Uranteile einen Abstand von mindestens fünfundzwanzig Zentimetern haben, um zu verhindern, dass die Kettenreaktion einsetzte und vorzeitig radioaktive Strahlung freigesetzt wurde. Das erklärte die Lücke zwischen Bombenfuß und Kappe.
Wenn es ihm gelänge, die Gleitschienen zu blockieren …
Nina betrat atemlos die Brücke.
Sie sah sich um. Wie erwartet, hielt sich niemand in dem Raum auf – alle hatten die Yacht mit dem Kipprotor verlassen. Als ihr Blick zu den breiten Fenstern herausfiel, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen: Vor ihr breitete sich das wohlvertraute Panorama Lower Manhattans aus. Battery Park war ein grüner Schemen zur Linken, hinter den alten Backsteingebäuden ragte der Glasblock des Freedom Tower auf; zur Rechten lagen das Fährterminal und der South Street Seaport, und die anonymen Wolkenkratzer des Finanzdistrikts leuchteten wie eine sonnenbeschienene Wand hinter dem Ufer. Die Ocean Emperor beschrieb eine Kurve und fuhr den East River hoch.
Nina stürzte ans Ruder. Die Yacht fuhr offenbar mit Autopilot – wenn es ihr gelang, den auszuschalten und in den Hafen zurückzufahren, wäre das vielleicht die Rettung …
Sie kurbelte am Steuerrad, ohne dass die Yacht reagiert hätte. Das Schiff wurde also elektronisch gesteuert, es gab keine mechanische Verbindung zum Ruder, und der Computer gab die Kontrolle nicht ab.
»Mist!« Nina suchte nach einer Möglichkeit, den Autopiloten auszuschalten, doch es sprang ihr nichts Auffälliges ins Auge. Die Anzeigen der Monitore waren für sie unverständlich.
Das Funkgerät …
Wenigstens das war leicht zu finden: Es war ein klassisches Handgerät mit Spiralkabel. Sie drehte eine Wählscheibe, bis auf dem LED-Display Kanal 16 angezeigt wurde, und hielt sich das Gerät an den Mund. »Mayday, Mayday, Mayday! Hier ist die Ocean Emperor. Das Schiff befindet sich vor Lower Manhattan und hat eine Atombombe an Bord. Mayday, wir haben eine Atombombe an Bord, die in vier Minuten hochgehen wird!«
Sie wartete auf eine Antwort. Sekundenlang war nur ein leises Rauschen zu hören. Sie wollte den Notruf gerade wiederholen, als eine erboste Männerstimme aus dem Lautsprecher tönte. »Ocean Emperor, hier spricht die Küstenwache. Ich muss Sie darüber informieren, dass ein fahrlässiger Notruf ein ernstes Vergehen darstellt, das mit bis zu sechs Jahren Haft und einer Geldstrafe von zweihundertfünfzigtausend Dollar geahndet wird.«
»Ja, ja, meinetwegen!«, stammelte Nina. »Schaffen Sie jemanden her und nehmen Sie mich fest – aber beeilen Sie sich, denn ich kann das Boot nicht anhalten!«
Eine weitere Pause.
»Habe ich Sie eben richtig verstanden – Sie haben von einer Atombombe gesprochen?«
»Ja! Eine Atombombe! B-O-M-B-E! Wir haben Hiroshima an Bord und wissen nicht, wie wir die Zündung verhindern sollen! Alarmieren Sie den Heimatschutz, den Präsidenten oder wen auch immer, aber tun Sie das in den nächsten vier Minuten!«
Im Hintergrund sagte jemand etwas, dann brach die Verbindung ab. Nina trat unruhig von einem Bein aufs andere. »Macht schon, unternehmt endlich was …«
Endlich meldete sich der Sprecher wieder. »Ocean Emperor, wir lösen Großalarm aus«, sagte der Mann.
»Gott sei Dank!«
»Aber wenn Sie tatsächlich die Wahrheit gesagt haben … in vier Minuten können wir nicht viel ausrichten. Die Zündung müssen Sie verhindern.«
Nina starrte das Funkgerät entgeistert an. »Also, das ist nun wirklich hilfreich! Vielen Dank!« Sie schleuderte das Funkgerät auf die Konsole und rannte zur Treppe. »Eddie! Wir haben ein Problem!«
Chase hatte sie gehört. »Nichts Neues …«, brummte er.
Er hatte die wenigen Gegenstände zusammengelegt, die er im Frachtraum gefunden hatte – Komosas Pistole, den Bolzenschneider –, und versuchte nun, sie zwischen den vertikalen Gleitschienen zu verkeilen, um den Uranzünder zu blockieren. Doch das reichte nicht. Damit konnte er zwar verhindern, dass der Zünder die Kappe traf und eine kritische Masse bildete – doch es würde trotzdem zu einer massiven Freisetzung radioaktiver Strahlung kommen, die ihn und Nina töten und die ganze Yacht verstrahlen würde. Dann würde ein tödlicher nuklearer Abfallhaufen vor einer der am dichtesten besiedelten Städte der Welt treiben und wahrscheinlich auch deren Bewohner töten.
Er benötigte mehr Material. Dringend. Doch sonst gab es nichts in dem Raum. Nur ihn und die Bombe.
Und Komosas Leichnam …
Er sah auf den Timer. Noch drei Minuten.
Weniger als drei Minuten.
Chase richtete sich auf und schwankte, da ein sengender Schmerz durch seinen Kopf schoss. Unsicher tappte er durch den Frachtraum. Der Boden fühlte sich gummiweich als, als liefe er über ein schlecht gespanntes Trampolin. Vermutlich hatte er eine Gehirnerschütterung, doch er konnte es sich jetzt nicht leisten, sich darüber Gedanken zu machen. Stattdessen hob er die Hände, packte Komosa bei den Schultern und versuchte, ihn von dem Bolzen abzuziehen, der ihn an die Wand genagelt hatte.
Dunkles, klebriges Blut sicherte aus dem Loch in Komosas Brust, doch der Leichnam ließ sich kaum bewegen. Der Bolzen hatte sich im Brustkorb verklemmt.
Nina kam herein. »Eddie!«, japste sie, als sie ihn mit dem Leichnam hantieren sah. »Was machst du da?«
»Hilf mir, ihn von der Wand wegzuziehen«, sagte Chase.
»Wozu?«, fragte Nina, doch als sie die Waffe und das Bolzenschussgerät sah, die zwischen den Streben der Bombe steckten, begriff sie, was er vorhatte. »Moment, du willst damit das Ding da blockieren? Was soll das werden, vielleicht Immer Ärger mit Bernie?«
»Das ist unsere letzte Möglichkeit! Komm schon, hilf mir. Wie viel Zeit haben wir noch?«
Nina sah auf den Timer. »Noch zwei Minuten?«
Sie rannte zu Eddie hinüber, unterdrückte ihren Ekel und ergriff Komosas Arm. Chase packte den anderen. »Okay«, sagte er, »Achtung, fertig, los!«
Sie stemmten die Füße gegen die Wand, lehnten sich zurück und zogen mit aller Kraft. Ein grauenhafter glucksender Laut kam aus der Brust des Toten, doch er löste sich nicht von der Wand.
»Der Typ geht mir sogar tot noch auf den Sack!«, rief Chase. »Noch einmal, ziehen!«
Abermals zogen sie an den Armen und versuchten, den Oberkörper zu lösen. Wieder ertönte das Glucksen, diesmal gefolgt von einem Knacken. »Mach schon!«, brüllte Chase den Toten an. »Beweg dich, du verfluchter Scheißkerl …«
Mit einem scharfen Knacken der Rippe, die den Bolzen festgeklemmt hatte, löste Komosas Leichnam sich ruckartig von der Wand. Nina und Chase gingen mit ihm zu Boden. Nina schrie auf, als der Hüne auf sie fiel und seine schlaffe Hand wie eine fleischige Riesenspinne auf ihrem Gesicht landete. Angewidert schlug sie sie beiseite.
Chase kroch unter dem Leichnam hervor, dann hob er Komosa von Nina herunter. »Komm, wir haben nur noch …« Er sah auf den Timer. »Mist! Wir haben nur noch eine beschissene Minute Zeit!«
Sie fassten Komosa bei den Handgelenken und zerrten ihn über den Boden. Zu langsam. Mit seinen über zwei Metern Länge war er kein Leichtgewicht. Nina sah sich zum Timer um.
Noch fünfzig Sekunden …
»Sind diese … verfluchten Piercings … etwa aus Blei?«, knurrte Chase zwischen zwei alptraumhaft trägen Schritten. Die Bombe war noch zwei Meter entfernt, dann anderthalb, einen Meter …
Noch vierzig Sekunden …
»Okay!«, keuchte Chase, als der Tote mit einem dumpfen Geräusch gegen den Fuß der Bombe stieß. »Schieb die Arme über die Pistole und das Bolzenschussgerät – wir müssen mindestens dreißig Zentimeter der Lücke verbarrikadieren!« Er ging in die Hocke, ergriff die eine Hand Komosas und schob sie zwischen den Streben hindurch. Nina tat das Gleiche mit der anderen Hand.
Dreißig Sekunden …
Chase langte außen herum, packte Komosas Finger und versuchte, sie an der anderen Seite herauszuziehen.
Der Arm ließ sich nicht bewegen.
Die Unterarme des Nigerianers waren so dick, dass sie zwischen den Streben nicht hindurchpassten.
»Verfluchter Mist!«, stöhnte Chase. Er verlagerte die Haltung, ergriff Komosas Ellbogen und bemühte sich, den Arm weiter durch die Lücke zu schieben. Nina ließ die andere Hand los und half ihm.
Vergeblich. Komosas Handgelenk wanderte nur ein Stück weit hindurch, dann verkeilten sich die Muskeln des Bodybuilders an den Stahlstreben.
Zwanzig Sekunden …
Nina wandte sich wieder dem anderen Arm zu und schaffte es, die Hand und das Gelenk in die Lücke zu schieben – jedoch nicht weiter. Sie sprang zurück und trat verzweifelt gegen den Ellbogen, um den Arm weiter vorzutreiben, jedoch erfolglos.
Zehn Sekunden …
»Scheißescheißescheiße!«, fluchte Chase, als der Timer nur noch einstellige Werte anzeigte. Obwohl die Pistole, das Schussgerät und Komosas beide Hände die Gleitschienen blockierten, reichte das immer noch nicht aus, um zu verhindern, dass der Zünder in eine kritische Entfernung zur Hauptmasse des Urans gelangte. Er brauchte etwas anderes, einen Gegenstand von mindestens zehn Zentimeter Dicke.
Doch da war nichts.
Abgesehen von …
Fünf …
»Zurück!«, brüllte Chase Nina an und versetzte ihr einen Stoß.
Drei, zwei …
Mit einem Aufschrei steckte Chase seine beiden Arme zwischen den Streben hindurch.
Eins …
Null.
Die Sprengladung unter dem Uranzünder detonierte. Der bierdosengroße Zylinder mit hochverdichtetem Uran-235 schoss feuerspuckend wie eine Granate die Schienen hoch, traf auf den Bolzenschneider und die Browning und schob sie vor sich her.
Sie trafen auf Komosas Hände und zerschmetterten die Knochen.
Und glitten weiter …
Gegen Chases Arm.
Brüllend spannte er sämtliche Muskeln an, um sich gegen den Schmerz zu wappnen – als er dann jedoch einsetzte und Chases Unterarm gegen die Unterseite der Kappe gepresst wurde, übertraf der Schmerz seine kühnsten Vorstellungen. Obwohl Komosas Hände den Aufprall dämpften, brachen beide Unterarmknochen, als der Zünder der superkritischen Uranmasse entgegenraste …
Und abrupt zum Stillstand kam.
In einem Abstand von genau fünfundzwanzig Zentimetern zur Kappe.
Die Zündmasse verharrte einen Moment in der Schwebe, dann fiel sie in den Bombenfuß zurück. Ein beißender Rauchkringel stieg drumherum auf. Der verbogene Bolzenschneider löste sich aus den Streben und fiel scheppernd auf den Boden – selbst der Stahlkorpus der Pistole war durch den Aufprall verbogen worden.
Komosas zerschmetterte Hände klatschten als blutiges Mus auf die deformierte Pistole. Somit blieb noch Chase übrig.
Nina, der vom Pulverrauch die Augen tränten, kroch zu ihm hinüber. »Eddie! Herrgott, Eddie! Bist du okay?«
Aschfahl im Gesicht stützte er ganz langsam und behutsam mit der rechten Hand das linke Gelenk ab, dann zog er noch behutsamer beide Arme zwischen den Streben hervor. Nina schlug entsetzt die Hände vor den Mund, als sie den gebrochenen Knochen sah, der aus dem mit purpurfarbenen Blutergüssen bedeckten Arm hervortrat. Blut rann aus der Wunde.
Er flüsterte etwas, doch sie verstand ihn nicht. »Eddie, ich bin da, ich bin da«, versicherte sie ihm und stützte den verletzten Arm. »Was willst du mir sagen?«
Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, diesmal etwas lauter als zuvor. »Jetzt wo … alles klar ist … würde ich mich gern aufs Ohr legen«, sagte er, dann schloss er die Augen und klappte zusammen.
Nina umarmte ihn und hielt ihm den Arm. »Das machen wir«, flüsterte sie und küsste ihn auf die Wange.
So blieb sie sitzen, bis ein Einsatzteam in gelben Strahlenschutzanzügen in den Frachtraum stürmte.