21
Algerien
Die drei Helikopter donnerten über die Wüste. Meilenweit war nichts anderes zu sehen als karge, im Sonnenlicht flirrende Sanddünen. Die unbarmherzig brennende Sonne heizte die Außentemperatur auf gut und gerne vierzig Grad auf.
Die Kabine des Helikopters an der Spitze – ein großer Sikorsky-Transporter vom Typ S-92 – war klimatisiert, doch weder Nina noch Chase wussten das zu schätzen. Sie waren erst seit zwei Tagen wiedervereint, und es sah alles danach aus, als wäre ihnen nicht viel mehr Zeit miteinander vergönnt: Nina war der Entschlüsselung der letzten Geheimnisse des Hermokrates-Dialogs nämlich kein bisschen näher gekommen.
Und die Zeit lief ihr davon.
»Noch zehn Minuten«, verkündete Sophia. Sie und Komosa saßen hinten in der Kabine bei Chase und Nina; Corvus hatte auf dem Sitz des Kopiloten Platz genommen. »Ich hoffe für euch alle beide, dass du bald eine Eingebung hast, Nina.«
»Die Umstände sind nicht gerade ideal«, klagte Nina. Sie trug Handschellen, konnte aber mit den Pergamenten arbeiten. Chase waren die Hände auf dem Rücken fixiert. Seine Schulterverletzung war zwar behandelt und verbunden worden, doch er hatte immer noch starke Schmerzen. Aus einem sadistischen Impuls heraus hatte Sophia ihm die Lederjacke zurückgegeben – wegen der Handschellen konnte er sie jedoch nicht ausziehen, sodass er trotz des kühlen Luftstroms der Klimaanlage schwitzte.
Derselbe Luftstrom spielte zu Ninas Verärgerung mit den Seiten des Textes. Dies vermochte sie allerdings nicht abzulenken, denn sie war konzentriert bei der Sache.
Sie war sich sicher, dass in Platos Text ein Hinweis versteckt sein musste, ein kryptischer linguistischer Schlüssel, der das Rätsel um das Grab des Herkules lösen würde. Bei jeder neuen Lektüre des Textes schien sie diesem Schlüssel einen quälend kleinen Schritt näher zu kommen – jedoch nicht nah genug, um das Schloss damit aufzusperren. Sie runzelte die Stirn.
»Macht’s keinen Spaß?«, fragte Chase. Die Schmerzen machten ihn wesentlich umgänglicher als sonst.
Nina schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es gibt da einen Code, mit dem man die relevanten Worte auffinden kann, die den Zugang zum Grab betreffen – zum Beispiel wenn das dritte Wort, sechste Zeile, erste Seite ›aufschließen‹ heißt, dann lautet das siebte Wort in der zwölften Zeile ›Schlüssel‹, und so weiter. Ich meine, da steht explizit drin, dass unter Worten andere Worte versteckt sind! Aber ich finde einfach keinen Ansatz zur Entschlüsselung. Es muss einen Ausgangspunkt für die Decodierung geben – ohne diesen könnten selbst die versiertesten Leser das Geheimnis nicht lüften. Aber … ich finde nichts.«
»Sonst gibt es nichts auf den Pergamenten?«, fragte Chase. »Keine verborgenen Botschaften oder dergleichen?«
Sophia schüttelte stellvertretend für Nina den Kopf. »Unsichtbare Tinte war zu Platos Zeiten das Nonplusultra der Verschlüsselung, also gibt es sonst nichts zu entdecken. Die Hinweise müssen im Text enthalten sein.« Sie sah auf die Uhr und dann Nina an. »Dir bleiben noch genau sechs Minuten, es herauszufinden, meine Liebe.«
Nina konzentrierte sich wieder auf die Pergamente, auf die alte, fleckige Tinte, die ihr beim Überfliegen der Zeilen vor den Augen verschwamm.
Sie gab sich alle Mühe, doch sie wusste bereits, dass sie nichts Neues entdecken würde. Wenn es einen Schlüssel zu dem Geheimnis um das Herkules-Grab gab, so war er jedenfalls nicht im Hermokrates-Text zu finden. Entweder er war in einer anderen Quelle enthalten, die sich nicht in ihrem Besitz befand, dann hatte sie keine Möglichkeit, die Lösung zu finden … oder aber es gab überhaupt keine Chiffrierung.
»Dieses Gesicht kenne ich«, sagte Chase in etwas zuversichtlicherem Ton.
Nina schaute hoch. »Hmm?«
»Das ist dein Kreuzworträtselgesicht! So siehst du aus, wenn du gerade eine harte Nuss geknackt hast. Was ist dir eingefallen?«
»Ja, was hast du entdeckt?«, schaltete Sophia sich mit neu erwachtem Interesse ein.
Auch Corvus wandte den Kopf und musterte Nina forschend.
»Ich … ich bin mir noch nicht sicher. Aber ich glaube, ich bin das Problem falsch angegangen. Bei dem Hinweis auf die in den Worten versteckten Worte bin ich davon ausgegangen, dass er sich auf eine Chiffrierung bezieht – auf spezifische Einzelworte, die zusammengenommen eine Botschaft ergeben.« Sie blätterte zur ersten Seite zurück. »Aber was ist, wenn das gar nicht stimmt? Der Hinweis auf die Landkarte war ziemlich eindeutig – vielleicht verhält es sich in diesem Fall auch so. ›Den Worten unseres Freundes Hermokrates liegen verborgene Worte zugrunde‹, heißt es hier. Und dann ist da noch von ›rötendem Glas‹ die Rede, von rotem Glas, Buntglas …«
Sie schaute an die Kabinendecke. Über den Vordersitzen waren Fenster in die Decke eingelassen, damit der Pilot den Rotor sehen konnte. Das Sonnenschutzglas war grün getönt. Nina beugte sich vor und hielt das Pergament so ins Licht, dass der Sonnenschein darauf fiel. Die Seite wirkte auf einmal smaragdgrün, die schmutzig braune Tinte dunkelbraun.
Nina schoss vom Sitz hoch. »Ich hab’s! Ich hab’s!«, rief sie aufgeregt.
»Was hast du?«, fragte Chase verwirrt.
»Ich brauche etwas Rotes, rotes Plastik oder getöntes Glas.« Nina blickte sich in der Kabine um. »Mach schon!«, fauchte sie Sophia an. »Mach dich nützlich, such was Passendes!«
Sophia runzelte die Stirn, tat aber wie geheißen. »Joe, geben Sie mir mal meine Tasche. Die blaue«, forderte sie Komosa auf.
Der langte hinter ihren Sitz, hob eine Reisetasche hoch und reichte sie ihr.
Sophia wühlte hektisch darin herum. »Hier«, sagte sie und reichte Nina einen Plastikhefter. »Tut es das?«
»Perfekt«, sagte Nina und riss ihr den Hefter aus der Hand. Darin war eine englische Übersetzung des Hermokrates abgeheftet, die sie jedoch herausnahm. Sie hatte es auf den Hefter aus transparentem rotem Plastik abgesehen.
Sie legte das erste Pergament in den Hefter, hielt ihn vors Fenster und versuchte, so viel direkte Sonneneinstrahlung wie möglich damit einzufangen. Der rötlich braune Text war unter dem Plastik nur schemenhaft zu erkennen, da der rote Filter die Farbe weitgehend absorbierte.
Plötzlich aber sprang ihr etwas anderes ins Auge: In den Wortschemen des Originaltextes zeichneten sich einzelne Buchstaben ab, und die Tinte, die eben noch fast farblos gewirkt hatte, erschien auf einmal nahezu schwarz …
»Das war also mit der Zeile gemeint, wo es darum geht, die Welt durch rötendes Glas zu betrachten«, sagte Nina ehrfürchtig. »Ich habe geglaubt, bei den dunkleren Stellen handele es sich lediglich um Verunreinigungen der Tinte – aber die müssen nach Vollendung des Textes hinzugefügt worden sein. Rotes Glas war damals unglaublich selten und kostbar, deshalb wären nur wenige Menschen imstande gewesen, den verborgenen Text zu entdecken. Jemand hat die Buchstaben mit verdünnter blauer Tinte überschrieben, um eine Botschaft zu verstecken, Worte innerhalb von Worten. Vielleicht mit der Tarnflüssigkeit des Tintenfisches oder …«
»Meinetwegen auch mit Kugelschreiber«, sagte Sophia ungeduldig. »Was steht da?«
»Notizbuch, Notizbuch.« Nina schnippte mit den Fingern. Chase musste über Sophias gekränkten Gesichtsausdruck lächeln, als sie Nina ein Notizbuch und einen Stift reichte. »Okay, dann schauen wir mal …«
Etwas ungelenk wegen der Handschellen, notierte Nina jeden einzelnen hervorgehobenen Buchstaben, bis allmählich ein Satz in altgriechischen Buchstaben Gestalt annahm. »Also, das ist ein vielversprechender Anfang«, sagte sie. »Hier steht, der Eingang sei der Morgendämmerung zugewandt.«
»Landen Sie an der Ostseite des Berges«, wies Corvus den Piloten an. »Was noch?«
»Mehr hab ich noch nicht«, erwiderte Nina gereizt. »Ich muss noch dran arbeiten.«
»Da wirst du dich wohl beeilen müssen«, meinte Sophia. »Wir sind fast da.«
Alle blickten nach vorn zu einem kleinen Felsenhügel, der sich dunkelgrau von den helleren Grau- und Brauntönen der Dünen abhob.
»Ein Berg ist das ja nicht gerade«, sagte Chase ein wenig enttäuscht. »Eher ein Höcker. Ich hätte mir für Herkules etwas Eindrucksvolleres vorgestellt.«
»Im Unterschied zu manchen anderen Männern hatte Herkules sicherlich keinen Grund, einen körperlichen Mangel zu kompensieren«, bemerkte Sophia trocken. »Außerdem gehe ich davon aus, dass der Inhalt des Grabes sehr viel eindrucksvoller sein wird.«
Der Helikopter ging am Fuße des Osthanges nieder und landete in einer dicken Wolke aus Sand und Staub. Die anderen Hubschrauber setzten ebenfalls auf.
»Verteilen«, befahl Corvus über Funk. »Irgendwo gibt es einen Eingang – findet ihn.« Bewaffnete in Tarnkleidung sprangen aus den Helikoptern und machten sich auf die Suche. Corvus wandte sich zu Nina herum. »Dr. Wilde, machen Sie weiter. Wenn der Eingang gefunden ist, möchte ich so viele Informationen über das Grabinnere vorliegen haben wie möglich. Allerdings fürchte ich, dass Sie Ihre Arbeit unterwegs werden abschließen müssen.«
»Wozu die Eile?«, sagte Chase. »Hier geht es schließlich nicht um ein Wettrennen – außer uns weiß niemand, wo sich das Grab befindet.«
»Ich bezweifle, dass Sie das verstehen können, Chase«, sagte Corvus höhnisch. »Sie sind ein kleiner Mann mit kleinen, unbedeutenden Träumen. Wenn Sie einen Traum hätten, wie ich ihn habe, und im Begriff wären, ihn Wirklichkeit werden zu lassen … dann würden auch Sie keine Sekunde zu viel warten wollen.«
»Hey, ich habe auch Träume, die ich unbedingt Wirklichkeit werden lassen will«, erwiderte Chase. »Zum Beispiel heute Nacht. Sie kamen übrigens auch darin vor. Genau wie du«, setzte er in Sophias Richtung hinzu, »und Joe mit den beringten Titten ebenfalls.« Er lächelte kalt. »Ich hatte einen Baseballschläger in der Hand. Mit Nägeln drin.«
»Ach, sei doch still, Eddie«, sagte Sophia verärgert. »Das ist einer der Gründe, weshalb ich ihn verlassen habe«, erklärte sie Corvus. »Er konnte einfach nicht den Mund halten. Das ist dir bestimmt auch schon aufgefallen.«
»Wenn alle einmal den Mund halten würden, könnte ich mich vielleicht konzentrieren«, sagte Nina erbost.
Da mittlerweile jedoch der Motor abgestellt war, stieg die Temperatur in der Kabine rasch an. Nina, die damit beschäftigt war, die hervorgehobenen Buchstaben zu notieren, war nicht die Einzige, der das auffiel. Sie war auf der neunten Textseite angelangt, als sich einer von Corvus’ Männern über Kabinenlautsprecher meldete.
»Sir, hier spricht Bertillon«, sagte er aufgeregt. »Wir haben den Eingang gefunden, etwa zweihundert Meter nördlich hinter dem großen Felsen.« Alle blickten zu dem verwitterten Fels hinüber, der aus dem Hang hervorragte.
»Ausgezeichnet«, sagte Corvus, setzte einen breitkrempigen Sonnenhut auf und kletterte nach draußen. Komosa stieg durch die Hintertür aus und hielt sie für Sophia auf, dann zerrte er Chase vom Sitz und stieß ihn auf den glühend heißen Sand hinaus. Nina folgte ihm widerwillig, den Hermokrates-Dialog an die Brust gedrückt.
Geblendet von der sengenden Sonne, betrachtete sie blinzelnd die umliegende Landschaft. Der Schweiß brannte ihr in den Augen. Abgesehen von den wogenden Dünen, die sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckten, war der flache Hügel der einzige Orientierungspunkt weit und breit.
Nina hatte die Satellitenbilder gesehen, mit deren Hilfe Corvus im Château die exakte Lage des Grabes bestimmt hatte, und wusste, dass die nächste Stadt fast hundertsechzig Kilometer entfernt war. Niemand kam ohne guten Grund hierher. Die Westsahara war zwar nicht die heißeste Wüste der Welt, aber sie war genauso trostlos und unbarmherzig.
Ein guter Ort, um einen großen Schatz zu verstecken …
Corvus’ Männer kehrten zu den Helikoptern zurück und luden weitere Ausrüstungsgegenstände aus, während der Expeditionsleiter zu dem markanten Felsen eilte. Die anderen folgten ihm.
Nina war in kürzester Zeit schweißgebadet. Sie bat Sophia, den schwitzenden Chase die Lederjacke ausziehen zu lassen, doch wie erwartet wurde ihre Bitte zurückgewiesen – nicht ohne Häme.
Sie erreichten den Felsen. Daneben war ein kleinerer Stein halb im Sand vergraben, und dazwischen lag ein etwa ein Meter zwanzig breiter Durchgang, der in den Hang hineinführte. Bertillon spähte aus dem Schatten hervor, als ihre Gruppe eintraf. »Der Gang reicht ziemlich weit, Sir. Und da ist etwas, das Sie sehen sollten. Wir sind nicht die Ersten, die das Grab entdeckt haben.«
Sie schalteten die Taschenlampen ein und betraten den Gang. »Nicht sehr eindrucksvoll«, sagte Sophia abfällig, als sie in der Kammer umherleuchtete.
»Da hinten ist noch mehr, Ma’am«, sagte Bertillon und ging weiter in die Kammer hinein. Ein überwölbter Durchgang führte in eine zweite Kammer; die Luft war kühl und unbewegt. Nina sah auf den ersten Blick, dass dies athenische Architektur war, die trotz der verflossenen Jahrtausende noch immer elegant wirkte. Mit Sicherheit waren sie hier am richtigen Ort, doch was würden sie finden?
»Wow!«, sagte sie staunend, als sie die Kammer betreten hatte.
Sophia blieb neben ihr stehen und schwenkte den Strahl der Taschenlampe über ein großes Objekt. »Na schön, ich geb’s zu – das ist beeindruckend«, sagte sie.
Sie standen vor einer Statue, der etwa dreieinhalb Meter hohen und fast ebenso breiten stilisierten Darstellung eines Löwen, welche die gesamte Hinterseite der Kammer einnahm. Er hatte das Maul in lautlosem Gebrüll aufgerissen und die eine Tatze zum Schlag erhoben, die andere ruhte auf dem Steinboden.
Unter der Tatze lag ein Toter.
»Der ist schon lange tot«, sagte Nina und kniete nieder, um sich das unheimliche Stillleben näher anzusehen. Von dem zerschmetterten Leichnam war wenig mehr als das eingestaubte Skelett übrig, über das sich die vertrocknete Haut spannte. »Seit mindestens tausend Jahren. Vielleicht auch noch länger.«
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte Corvus und leuchtete dem Löwen mit der Taschenlampe ins Maul, das sich fast zwei Meter über dem Boden befand. Die Statue war aus Stein, die Zähne aus matter Bronze … und einige davon wiesen dunkle Blutflecken auf. Weiteres Blut war im Rachen zu erkennen, als habe der Löwe jemandem den Arm abgebissen.
»Liegt das nicht auf der Hand?«, sagte Chase und deutete mit dem Kinn auf die steinerne Tatze, die den glücklosen Forscher erdrückt hatte. »Clarence hat ihn zerquetscht. Das Ding ist eine Falle.«
Alle wichen in respektvolle Entfernung zurück und schauten Nina an. »Ich glaube, du solltest uns jetzt allmählich sagen, was du in deinen Übersetzungen sonst noch entdeckt hast«, sagte Sophia und legte die Hand auf das Holster.
Nina blätterte in ihrem Notizbuch. »Ich vermute, dass das hier der Nemëische Löwe ist – die erste der zehn Arbeiten, die Herkules bewältigen musste.«
»Zehn?« Sophia zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. »Ich dachte, es wären zwölf gewesen.«
»Das kommt darauf an, auf welche Version der Legende man sich bezieht. In den ältesten griechischen Erzählungen musste Herkules nur zehn Arbeiten erledigen, deren Reihenfolge vom jeweiligen Erzähler abhängt. Die einzige Konstante in allen Versionen ist, dass er als Erstes immer den Nemëischen Löwen erschlagen muss, aus dessen Fell Herkules sich einen undurchdringlichen Umhang anfertigt, und als Zweites die Lernäische Hydra, mit deren Gift er seine Pfeile präpariert. Auch die letzte Aufgabe ist stets dieselbe – er besiegt Zerberus, den Wächter der Unterwelt.«
»Heißt das, wir müssen die Aufgaben nachspielen, um in Herkules’ Grab zu gelangen?«, fragte Chase ungläubig und erntete erschrockene Blicke. Alle sahen ihn an. »Was ist? Hab ich recht oder nicht, Nina?«
»Er hat recht«, bestätigte Nina und nickte mit dem Kopf. »Das ist die verborgene Botschaft des Hermokrates – die verborgenen Buchstaben ergeben die Aufgaben und beschreiben den Weg, den man durch das vorgelagerte Labyrinth beschreiten soll, das die Unterwelt darstellt.«
Sophia musterte sie skeptisch. »Aber es wird nicht gesagt, wie man die Aufgaben besteht?«
»Das war auch nicht nötig. Die Arbeiten des Herkules waren den alten Griechen ebenso geläufig wie uns die Geschichte von Aschenputtel oder Robin Hood oder meinetwegen auch Star Wars. Jeder Athener, der etwas auf sich hielt, wusste, wie man sie besteht.« Nina deutete auf das Löwenmaul. »Herkules besiegte den Nemëischen Löwen, indem er ihm ins Maul fasste und das Innere nach außen zog. Ich vermute, da drinnen befindet sich eine Art Auslöser, den man betätigen muss, um den Weg in die nächste Kammer freizumachen.«
Komosa trat vorsichtig auf eine der Tatzen und leuchtete mit der Taschenlampe ins Maul. Aus der Nähe war zu erkennen, dass die untere Tatze vom Rest der Statue abgetrennt und beweglich gelagert war. »Sie hat recht«, sagte er nach einer Weile. »Da drinnen ist ein Hebel, scheint aus Bronze zu sein.« Er neigte sich nach hinten und leuchtete in die Lücke zwischen den beiden Tatzen. »Und da hinten ist ein weiterer Gang.«
»Die Entdecker des Grabes haben also offenbar die erste Aufgabe bewältigt«, sagte Nina. »Aber nicht alle haben überlebt.« Sie warf einen Blick auf das Skelett. »Dieser Bursche wurde zerschmettert, und den Blutflecken nach zu schließen, hat jemand anders einen Arm verloren, als er in das Löwenmaul gefasst hat.«
Corvus musterte sie ungläubig. »Wollen Sie damit sagen, die Statue hätte sich bewegt?«
Nina nickte. »Genau. Es wird ein Mechanismus ausgelöst, sobald man in das Maul greift. Dann rollt der gesamte Löwe den Gang hoch, seine Tatzen bewegen sich dabei auf und ab, um den Eindringling zu zerfleischen. Das heißt …« Sie trat ein Stück zurück und fuhr mit dem Fuß über den Boden, bis sie eine Vertiefung gefunden hatte, die etwas tiefer lag als der Rest. »Hier. Sehen Sie? Die Platte hat sich abgesenkt – damit wurde wahrscheinlich die Falle ausgelöst. Tritt man darauf, sitzt man in der Falle, und der einzige Ausweg …«
»… besteht darin, die Aufgabe auf die gleiche Weise zu bewältigen wie seinerzeit Herkules«, beendete Sophia nachdenklich den Satz. »Angenommen, die Prüfungen wurden nicht alle bestanden, könnten dann einzelne Fallen noch immer funktionieren?«
»Das weiß ich nicht. Ich hätte eher auf Nein getippt, aber Eddie hat die Falle in Tibet erwähnt, die noch wesentlich älter war als diese hier. Wenn für die Mechanik Stein und Metall verwendet wurden und nicht Holz und Seile, dann wäre das durchaus möglich …«
Sophia leuchtete Nina ins Gesicht. »Gut, dass du uns führst. Wie weit bist du mit der Entschlüsselung gekommen?«
»Ich bin bei der sechsten Arbeit, und bis zu diesem Punkt ist mir auch der Weg durchs Labyrinth klar«, sagte Nina und blinzelte irritiert. »Aber ich käme schneller voran, wenn du mir das Ding hier abnehmen würdest.« Sie hielt die Hände hoch und zerrte an der Kette, welche die beiden Handschellen miteinander verband.
Sophia überlegte einen Moment. »Nehmt sie ihr ab«, befahl sie dann ihren Lakaien.
»Bist du sicher?«, fragte Corvus.
Lächelnd trat Sophia vor Chase hin und streichelte ihm über die Schultern. »Solange er in unserer Gewalt ist, wird sie keine Dummheiten machen.«
Corvus nickte. »Na schön.«
Einer seiner Leute nahm Nina die Handschellen ab. Sie massierte sich die Handgelenke, die rote Druckstellen aufwiesen. »Machen wir weiter«, sagte sie dann geschäftig.
Einer nach dem anderen schlüpften die Expeditionsteilnehmer durch die schmale Lücke zwischen den Löwentatzen.
Die dahinterliegenden schmalen Gänge waren tatsächlich labyrinthisch. Nina hatte sich den Weg jedoch bereits notiert und brauchte bei jeder Wegkreuzung nur nachzusehen, ob sie sich nach links oder rechts wenden mussten. Was passierte, wenn sie zufällig den falschen Weg wählten, wagte Nina sich kaum vorzustellen. Und ihre Überlegungen behielt sie wohlweislich für sich, damit Sophia oder Corvus nicht womöglich Chase vorausschickten.
Unterwegs trafen sie auf weitere Aufgaben, auf stilisierte Statuen, die mitten im Angriff erstarrt waren, als die Grabräuber der Vergangenheit die Stoppvorrichtung betätigt hatten. Andere Statuen blockierten das Ende der jeweiligen Kammer, nachdem sie die Eindringlinge, welche die Arbeit nicht bewältigt hatten, getötet hatten. Da die Fallen nicht wieder in den Ausgangszustand zurückversetzt worden waren, ging keine Gefahr von ihnen aus – was die Expeditionsteilnehmer jedoch nicht davon abhielt, jede einzelne Falle mit äußerster Vorsicht zu untersuchen. Für alle Fälle.
Die Lernäische Hydra hatte sieben Schlangenköpfe und in der Vergangenheit drei Eindringlinge mit vergifteten Pfeilen getötet; im Todeskampf hatten sich die Grabräuber verkrümmt, und ihre Skelette lagen noch immer so am Boden, wie sie gestorben waren. Die steinernen Schlangenköpfe lagen zerbrochen daneben, die Statue war enthauptet worden. Das entsprach nicht der Überlieferung, doch Nina bezweifelte, dass die Erbauer des Grabes in der Lage gewesen waren, Metall und Stein zur spontanen Regeneration zu bewegen.
Die Kerynitische Hirschkuh hatte einen Grabräuber mit ihrem imposanten Eisengeweih aufgespießt, doch seinen Begleitern war eingefallen, dass Herkules dem Tier den Vorderlauf durchschossen hatte. Eines der Beine der Statue war tatsächlich beweglich gelagert und hatte dazu gedient, den Mechanismus zu deaktivieren – wenngleich die Taktik der Räuber, die das Bein so lange mit Steinen beworfen hatten, bis sie einen Treffer erzielt hatten, weit weniger eindrucksvoll war als Herkules’ Vorgehen in der Legende.
Die nächste Hürde: der Augiasstall. Dem Mythos zufolge hatte Herkules einen Fluss umgeleitet, um den Stall auszumisten, und auf der Landkarte auf der Rückseite der Pergamente war in der Nähe des Hügels tatsächlich ein kleiner Wasserlauf verzeichnet. Diese Aufgabe hatte eher Intelligenz als den Einsatz körperlicher Kraft erfordert, denn die Schleusentore mussten in einer bestimmten Reihenfolge geöffnet werden, um das Wasser in bestimmte Kanäle zu leiten. Beim kleinsten Fehler wurden die Räuber fortgespült – zwei zerschmetterte Skelette am Ende eines Wasserkanals veranschaulichten die Strafe für ihr Versagen. Der Wasserlauf aber war inzwischen längst versiegt, deshalb konnten die Expeditionsteilnehmer den Raum gefahrlos durchqueren.
Dann die Stymphalischen Vögel: Ein schmaler Gang führte steil nach oben. Die an der Decke befestigten Falkenstatuen waren auf Grabräuber herabgesaust und hatten mit ihren Krallen und scharfen Schnäbeln alles zerfleischt, was sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Zwei Vögel hatten das Ende der Rampe erreicht und waren mit solcher Wucht aufgeprallt, dass ihre Schnäbel in der Wand feststeckten – der eine hatte sich in die Brust eines der glücklosen Grabräuber gebohrt. Ein weiterer Falke lag auf dem ansteigenden Weg – der Befestigungshaken war von einem Pfeil zerstört worden. Selbst Komosa zeigte sich beeindruckt von der Handwerkskunst der Erbauer.
Die siebte Falle: Der Kretische Stier – ein Riese mit primitivster Angriffsmethode; er war in einem engen Gang vorgerückt und hatte alles zerquetscht, was ihm in die Quere gekommen war. Besiegt worden war er dadurch, dass man ihm Seilschlingen über die Hörner geworfen und ihn zu Boden gerissen hatte; ein paar staubtrockene Seilstränge waren noch erhalten.
Diese letzte Falle hatte zwei weitere Opfer gefordert; als sie den Stierkopf nach unten ziehen wollten, waren sie offenbar ausgerutscht und unter die gewaltigen Rollen geraten, die dem Stier als Fortbewegungsmittel dienten. Nina blieb stehen und untersuchte sie. »Diese Toten, offenbar Europäer, stammen aus neuerer Zeit«, erklärte sie. »Die Kleidungsreste deuten aufs fünfzehnte oder sechzehnte Jahrhundert hin. Auch ein gescheiterter Versuch, die Falle zu überwinden, ebnet den nachfolgenden Grabräubern den Weg.«
»Dann sollte also auch die nächste Falle bereits ausgelöst worden sein«, meinte Corvus, als er auf den Stier kletterte, um in den hinter dessen Kopf befindlichen Gang hineinzugelangen.
»Nicht unbedingt«, antwortete Sophia, die ihm folgte. »Wir kennen den Weg durch das Labyrinth. Unsere Vorgänger kannten ihn nicht. Selbst wenn sie alle Aufgaben bewältigt haben sollten, ist nicht auszuschließen, dass es noch weitere Fallen gab, denen sie zum Opfer gefallen sind.« Als sie die Statue überwunden hatte, musterte sie Chase berechnend. »Vielleicht sollten wir uns Gewissheit verschaffen.«
»Dazu haben wir keine Zeit«, sagte Corvus entschieden und klopfte sich den Staub von der Kleidung.
Sophia wirkte enttäuscht, bedeutete Chase aber mit einem Blick, dass sie die Idee weiterverfolgen würde. »Was kommt als Nächstes?«, fragte sie, als Nina zu ihr aufgeschlossen hatte.
Nina blickte in ihre Notizen. »Die Rosse des Diomedes.«
»Pferde, wie?«, sagte Chase. »Ich wette, in der Legende war damit etwas anderes gemeint als ein Spielzeugpony.«
»Kann man wohl sagen. Es gibt verschiedene Versionen, aber immer ist die Rede von menschenfressenden Rössern.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, brummte Chase mit einem hämischen Blick auf Sophia.
»Wir sollten hier eine Rast einlegen«, sagte Nina zu Corvus. »Ich muss die Übersetzung abschließen – über die nächste Aufgabe bin ich noch nicht hinausgekommen.«
»Nein«, entgegnete Corvus. »Arbeiten Sie unterwegs weiter. Wir sind so dicht am Ziel, ich will nicht länger warten. Konzentrieren Sie sich darauf, uns durch das Labyrinth zu leiten – selbst wenn irgendwelche Fallen noch funktionieren sollten, meine Leute sind mit modernen Waffen und Sprengstoff ausgerüstet. Wir werden schon damit fertig.«
Nina traute ihren Ohren nicht, zuckte aber mit den Achseln. »Wie Sie meinen«, sagte sie und behielt ihre Bedenken für sich – und auch ihre Hoffnung. Sollte eine der verbliebenen Fallen tatsächlich noch funktionieren, würden Corvus’ Leute in Gefahr geraten – und dann würde sich ihr und Chase vielleicht eine Fluchtmöglichkeit bieten.
Als die Gruppe vollständig versammelt war, gingen sie weiter. Nina wies ihnen den Weg durch die dunklen Gänge des Labyrinths. Bald darauf hatten sie den Eingang einer weiteren Kammer erreicht.
Bertillon, der die Vorhut bildete, leuchtete hinein. »Ich sehe keine Toten«, meldete er. »Ich glaube, diese Falle wurde noch nicht deaktiviert.« Er fasste die Taschenlampe mit der anderen Hand und nahm sein Gewehr von der Schulter, ein schlankes, futuristisches Sturmgewehr vom Typ F2000 mit einem unter dem Lauf angebrachten Granatwerfer Kaliber 40 mm, hergestellt von Fabrique Nationale. Seine beiden Begleiter taten es ihm gleich.
Komosa trat neben Nina und blickte in die Kammer; seine Piercings funkelten im Schein der Taschenlampen. Nina spähte an ihm vorbei. An der anderen Seite des Raums standen vier überlebensgroße Pferdestatuen, deren Stilisierung noch kraftvoller wirkte als die der Wesen, denen sie bislang begegnet waren. Sie bleckten die langen, scharfen Zähne, und ihre Beine waren wie im Galopp angehoben … als könnten sie jeden Moment vorwärtsstürmen. Die verlängerten, schmalen Hufe wirkten eher wie Klingen – was Nina an eine landwirtschaftliche Dreschmaschine denken ließ. Die Beine der monumentalen Tiere nahmen die volle Gangbreite ein.
»O Mann«, sagte Chase, als auch er einen Blick in die Kammer geworfen hatte. »Die Zähne erinnern mich an die verdammte Alienkönigin.«
»Wir müssen da durch«, sagte Corvus. Er wandte sich an Nina. »Wie hat Herkules die Rösser besiegt?«
Nina überlegte kurz – und wechselte einen vielsagenden Blick mit Chase. »Er hatte die Aufgabe, Diomedes die Pferde zu stehlen, die an einem Futtertrog aus Bronze angekettet waren«, antwortete sie. Corvus betrachtete die Statuen, von deren Hälsen Bronzeketten herabhingen, und nickte. »Als Herkules sie befreit hatte, trieb er sie auf eine Halbinsel und grub einen Graben, damit sie nicht fliehen konnten.«
Bertillon leuchtete den Boden der Kammer ab. »Vielleicht sollen wir den Boden aufgraben, damit die Pferde nicht weiterkommen, oder wie?« Er schaltete die Taschenlampe aus und steckte sie in die Tasche; dann hob er das Gewehr, schaltete dessen Zielleuchte ein und lud den Granatwerfer. »Ich kenne da eine wirksame Methode.«
Ein anderer Mann, ein Amerikaner, untersuchte den Eingang. »Oben im Torbogen ist ein Schlitz«, sagte er. »Ich vermute, dass ein Gitter herabfällt, sobald die Falle ausgelöst wird. Dann kämen wir nicht mehr hier raus. Wir haben allerdings ein paar Titankeile dabei, damit könnten wir das Gitter blockieren.«
»Tun Sie das«, befahl Corvus.
Die Keile wurden in den Schlitz über dem Eingang gerammt; Bertillon, Komosa und die anderen beiden Männer nahmen ihre F2000 von der Schulter, traten in die Kammer und näherten sich vorsichtig den Statuen. Die anderen schauten vom Eingang aus zu. Corvus benutzte ein Funkgerät, damit sie sich über Headset verständigen konnten, ohne zu schreien.
»Gibt es eine Markierung am Boden, wo man graben soll?«, fragte er.
»Bislang haben wir noch nichts gefunden«, erwiderte Bertillon, vorsichtig ausschreitend. »Vielleicht sollten wir die Statuen mit Granaten zerstören, bevor wir …«
Ein dumpfes Knirschen ertönte, das so laut war, dass selbst die am Eingang Wartenden es deutlich hören konnten. Eine Steinplatte verlagerte sich unter seinen Füßen.
Und dann fiel ein Gitter herab und verschloss den Eingang – nicht an der Stelle, die mit Keilen blockiert war, sondern dahinter, an der anderen Seite des Torbogens. Der Schlitz diente lediglich der Ablenkung, stellten Nina und Chase fest; die eigentliche Falle war einen halben Meter entfernt.
Quietschend und knirschend erwachten die Statuen zum Leben und bewegten sich zum ersten Mal seit tausenden Jahren. Sie schnappten mit den Mäulern, ihre scharfen Hufe durchschnitten die Luft und prallten dröhnend gegen den Steinboden, als sie vorrückten.
Corvus’ außerhalb der Kammer befindliche Männer versuchten das Tor anzuheben, doch es war arretiert und ließ sich nicht bewegen.
Als Bertillon den Granatwerfer abfeuerte, schlug Nina die Hände über die Ohren. Der widerhallende Abschuss war nichts im Vergleich zu der Detonation, welche die Kammer erschütterte, als die Granate eine der Statuen traf. Ein großes Loch wurde in die Brust gerissen, Steinbrocken flogen umher, doch der unerbittliche Vormarsch der Pferde kam dadurch nicht zum Erliegen.
Ein anderer Mann feuerte. Die Granate schoss zwischen den stampfenden Beinen der Pferde hindurch in den dahinterliegenden Gang, wo sie detonierte, gefolgt vom Poltern herabfallender Steine.
»Aufhören!«, rief Corvus. »Ihr blockiert den Tunnel!« Bertillon und Komosa blickten sich ungläubig zu ihm um. »Verwendet Kugeln, keine Granaten! Feuert auf die Beine!«
Die drei Männer mit Gewehren wechselten Blicke, dann befolgten sie den Befehl und änderten die Taktik. Sie feuerten Salven ab, sodass zahllose kleine Krater aus den Statuen platzten und Splitter umherflogen. Der messerscharfe Metallhuf wurde von einem der stampfenden Beine abgesprengt, doch der schartige Stumpf war nicht weniger gefährlich als der Huf.
Komosa zog eine große Pistole, während die anderen zum Eingang zurückwichen. »Wo sind die Schwachstellen?«, erkundigte er sich über Funk. »Wie können wir sie aufhalten?«
Auch Sophia zog ihre Waffe und hielt sie Nina an den Kopf. »Also? Antworte ihm! Wie hat Herkules die Rösser getötet?«
»Er hat sie nicht getötet …«, setzte Nina an, wurde jedoch von einem Schrei aus der Kammer unterbrochen.
Eine Kugel war von einer Statue abgeprallt und hatte Bertillon am rechten Oberschenkel getroffen. Er lag blutend am Boden. Einer der anderen Männer versuchte ihn wegzuziehen, sprang aber zurück, als ein Splitter sein Gesicht streifte. Als er sich wieder gefasst hatte, hatten die Pferde den gestürzten Bertillon erreicht …
Er schrie erneut, doch sein gequältes Geheul brach gleich wieder ab, da die stampfenden Hufe über ihn hinwegtrampelten und ihn zerfetzten. Die Statuen färbten sich rot von Blut.
Nina wandte entsetzt den Blick ab, und selbst Chase war angewidert. Fleischfetzen flogen umher und klatschten vor den verbliebenen drei Männern auf den Boden.
Sophia zielte auf Chase. »Wie hat er die Pferde aufgehalten?«, schrie sie Nina an. »In der anderen Version der Legende? Sag’s mir, oder Eddie stirbt!«
Nina warf Chase einen verzweifelten Blick zu, dann fügte sie sich. »Er hat Diomedes erschlagen und an seine eigenen Pferde verfüttert. Als sie gesättigt waren, beruhigten sie sich, und Herkules konnte sie bändigen!«
Sophia wandte sich zum Eingang, wo Komosa und die anderen beiden Männer mit dem Rücken zum Fallgitter standen – die Pferde waren nur noch fünf Meter von ihnen entfernt und rückten stetig näher. »Joe! Der Mechanismus ist im Maul – Sie müssen das Pferd mit irgendetwas füttern!«
»Womit denn?«
»Fleisch habt ihr ja genug!«
Komosa stutzte, dann erst begriff er, was sie meinte. Angewidert hob er Bertillons Unterarm hoch, dessen Hand schlaff herabsank.
Die Pferdemäuler schnappten weiterhin bedrohlich, und die scharfen Zähne funkelten im Schein der Taschenlampen. Jedes Mal, wenn sie sich öffneten, wurde ein Loch sichtbar, ein Schlund, der in die Statue hineinführte.
Komosa holte aus, zögerte kurz, um den richtigen Moment abzupassen – dann schleuderte er den abgetrennten Arm in ein Pferdemaul.
Er verfing sich an den Zähnen und blieb dort einen Moment lang hängen. Dann klappte das Maul zu – als es sich wieder öffnete, war der Arm in der Öffnung verschwunden. Komosa und die anderen Männer wichen zur Wand zurück. Die Pferde rückten ungebremst weiter vor … dann wurden sie jedoch langsamer, und der dröhnende Galopp ihrer Beine ging in einen Kanter über, bis sie etwa einen Meter vor dem Fallgitter zum Stehen kamen. An der Decke klapperte etwas. Einer der Männer versuchte, das Gitter anzuheben, und diesmal ließ es sich tatsächlich bewegen.
Sophia fuhr herum und schlug Nina so fest ins Gesicht, dass sie zu Boden ging. Chase trat zornig vor, doch die Männer hielten ihm ihre MPs an die Brust. »Wenn du noch mal etwas zurückhältst«, knurrte Sophia drohend, »bringe ich Eddie nicht einfach nur um. Ich schneide ihn vorher in Stücke, und du darfst dabei zusehen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Nina spuckte Blut. »Kristallklar«, stöhnte sie.
»Gut. Dann steh auf. Es liegen noch drei weitere Aufgaben vor uns«, forderte Sophia sie auf. Dann hielt sie jedoch nachdenklich inne und sah Chase an. Ein bösartiges Lächeln breitete sich über ihre Züge. »Nehmt ihm die Handschellen ab«, befahl sie.
»Hältst du das wirklich für klug?«, wandte Corvus ein.
Sophias Lächeln vertiefte sich. »Er wird seine Hände brauchen.«
Nina rappelte sich hoch und fasste sich an die aufgeplatzte Lippe. »Was hast du vor?«
»Ich biete dir einen Anreiz, damit du so schnell und so akkurat wie möglich arbeitest«, antwortete Sophia. »Eddie wird von nun an nämlich vorangehen. Wenn du einen Fehler machst … stirbt er.«