Kapitel 64

Drei Stunden später saß Ben zum zweiten Mal im Fond des Bentley Arnage auf dem Weg zur Residenz von Sebastian Fairfax. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, während sie zwischen Reihen goldener Buchen und Platanen über die von fallenden Blättern bedeckten Wege glitten und schließlich das offene Tor des Fairfax-Anwesens passierten. Der Bentley fuhr an den hübschen kleinen Cottages vorüber, die Ben bereits bei seinem ersten Besuch bewundert hatte.

Ein kurzes Stück weiter auf der Privatstraße, und der Wagen begann nach rechts zu ziehen. Ben spürte vorn ein schwaches Rumpeln.

Der Fahrer fluchte leise in sich hinein, hielt an und stieg aus, um nachzusehen, was los war. Er kam zurück, streckte den Kopf durch die offene Tür und sah Ben an. «Es tut mir leid, Sir, wir haben einen Plattfuß.»

Ben stieg aus, während der Fahrer die Werkzeuge aus dem Kofferraum des Wagens holte und das Ersatzrad löste. «Brauchen Sie Hilfe?», fragte er den Mann.

«Nein, Sir, vielen Dank, es dauert nur ein paar Minuten», antwortete der Fahrer.

Er machte sich daran, die Radmuttern zu lösen, als sich die Tür eines Cottages in der Nähe öffnete, und ein alter Mann mit einer Schiebermütze näherte sich grinsend dem Grünstreifen. «Muss wohl ein Nagel gewesen sein oder so was», sagte er, nachdem er seine Pfeife aus dem Mund genommen hatte. Er wandte sich an Ben. «Möchten Sie vielleicht kurz reinkommen, während Jim das Rad wechselt? Es wird abends schon ziemlich kühl hier draußen.»

«Danke, aber ich dachte, ich sehe mir die Pferde an und rauche eine Zigarette.»

Der Alte begleitete ihn zur Koppel. «Sie mögen Pferde, Sir, stimmt’s?» Er streckte Ben die Hand entgegen. «Herbie Greenwood mein Name. Ich bin der Stallmeister von Mr. Fairfax.»

«Erfreut, Sie kennenzulernen, Herbie.» Ben lehnte sich gegen den Zaun und steckte sich eine Zigarette an.

Herbie nuckelte an seiner Pfeife, als zwei Pferde, ein Fuchs und ein Dunkelbrauner, in vollem Galopp über die Weide herangedonnert kamen. Sie kurvten in einem parallelen Bogen zum Zaun, wurden langsamer und näherten sich dem alten Mann, während sie die Köpfe schüttelten und laut schnaubten. Herbie tätschelte ihre Hälse, während sie ihn liebevoll beschnüffelten. «Sehen Sie den hier?», sagte Greenwood an Ben gewandt. «Hat dreimal das Derby gewonnen, unser Black Prince. Er kriegt jetzt sein Gnadenbrot, genau wie ich bald, nicht wahr, alter Knabe?» Er streichelte dem Tier über den Hals, und Black Prince rieb den Kopf an seiner Schulter.

«Wirklich prächtig», meinte Ben mit einem Blick auf das Muskelspiel des Pferdes. Er hielt die flache Hand ausgestreckt, und Black Prince drückte das samtige Maul hinein.

«Siebenundzwanzig Jahre alt, und er galoppiert immer noch über die Weiden wie ein junger Wilder», erzählte Herbie und kicherte. «Ich erinnere mich noch an den Tag, als er geboren wurde. Sie dachten, es würde nichts mit ihm, aber er hat sie alle Lügen gestraft, der alte Knabe.»

Auf der nächsten Koppel bemerkte Ben ein kleines graues Pony, das zufrieden graste, und er musste an das Bild von der kleinen Ruth denken, das Fairfax ihm gezeigt hatte. «Ich frage mich, ob Ruth je wieder wird reiten können …», sinnierte er laut.

 

Wenige Minuten später hielt der Bentley auf dem knirschenden Kies vor dem Herrenhaus, und ein Assistent kam Ben auf der Treppe entgegen. «Mr. Fairfax wird Sie in einer halben Stunde in der Bibliothek empfangen, Sir. Ich soll Ihnen Ihre Zimmer zeigen.»

Sie durchquerten die mit Marmor ausgekleidete Eingangshalle, und ihre Schritte echoten von der hohen Decke. Der Assistent führte Ben die Treppe hinauf und in das obere Stockwerk des Westflügels. Nachdem Ben sich ein wenig frisch gemacht hatte, kam er eine halbe Stunde später herunter und wurde in die von einer Galerie umgebene Bibliothek geführt.

Fairfax stürzte ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. «Mr. Hope, was für ein wunderbarer Moment für mich!»

«Wie geht es Ruth?»

«Sie hätten zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können», antwortete Fairfax. «Ihr Zustand hat sich ständig verschlechtert, seitdem wir das letzte Mal miteinander geredet haben. Sie haben das Manuskript?»

Er streckte erwartungsvoll die Hand aus.

«Das Fulcanelli-Manuskript ist wertlos für Sie, Mr. Fairfax», entgegnete Ben.

Fairfax lief rot an, als er von Wut gepackt wurde. «Was?»

Ben lächelte und griff in seine Jackentasche. «Stattdessen habe ich Ihnen das hier mitgebracht.» Er nahm den Behälter hervor und überreichte ihn.

Fairfax starrte den verbeulten Flachmann in seiner Hand an.

«Ich hab es hineingefüllt, weil es dort am sichersten war», erklärte Ben.

Begreifen dämmerte in Fairfax’ Gesicht. «Das Elixier

«Hergestellt von Fulcanelli persönlich. Das Elixier, Mr. Fairfax. Ich nehme doch an, dass es das war, wonach Sie gesucht haben?»

In Fairfax’ Augen standen Tränen, als er den kostbaren Gegenstand ergriff. «Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, Mr. Hope. Ich werde es sofort in Ruths Krankenzimmer bringen. Meine Tochter Caroline ist Tag und Nacht bei ihr.» Er zögerte. «Und hinterher hoffe ich doch, Mr. Hope, dass Sie mir beim Abendessen Gesellschaft leisten?»

 

«Also war die Suche nicht ganz einfach», hob Fairfax hervor.

Sie saßen gemeinsam im Speisezimmer an dem langen, polierten Tisch aus Walnussholz. Fairfax saß am Kopfende, und hinter ihm knisterte und prasselte ein Holzfeuer im Kamin. Auf einer Seite des Kamins stand eine große Ritterrüstung mit einem glänzenden Breitschwert.

«Ich wusste, dass es eine schwierige Aufgabe sein würde», fuhr Fairfax fort. «Aber Sie haben meine Erwartungen bei weitem übertroffen. Ich erhebe mein Glas auf Sie, Mr. Hope.» Der alte Mann sah Ben triumphierend an. «Sie haben ja keine Ahnung, was Sie für mich getan haben.»

«Für Ruth», sagte Ben und hob sein Glas.

«Natürlich. Für Ruth.»

Ben beobachtete Fairfax aufmerksam. «Sie haben mir nie verraten, wie Sie überhaupt von Fulcanelli erfahren haben.»

«Die Suche nach dem Elixier ist schon seit langem meine Hauptbeschäftigung», antwortete Fairfax. «Ich bin bereits seit vielen Jahren ein Student der Esoterik. Ich habe jedes Buch über das Thema gelesen und bin jedem Hinweis gefolgt. Doch meine Nachforschungen führten stets ins Leere. Fast hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben, hätte nicht eine zufällige Begegnung in einem Antiquariat in Prag dazu geführt, dass ich den Namen Fulcanelli entdeckte. Ich fand heraus, dass dieser unauffindbare Meister-Alchemist einer der ganz wenigen Männer war, die das Geheimnis des Elixir Vitae kannten.»

Ben lauschte und trank von seinem Wein.

«Zuerst dachte ich, Fulcanellis Geheimnis wäre nicht schwierig zu entdecken», fuhr Fairfax fort. «Doch es erwies sich als viel schwieriger, als ich erwartet hätte. Die Männer, die ich bezahlt habe, um es für mich zu holen, liefen entweder mit meinem Geld davon oder endeten als Tote. Mir wurde klar, dass gefährliche Mächte am Werk waren, fest entschlossen, mich von meiner Suche abzuhalten. Und ich begriff, dass gewöhnliche Detektive nicht von Nutzen waren für meine Zwecke. Ich brauchte einen Mann mit sehr viel größeren Talenten. Und bei meiner Suche nach diesem Mann stieß ich auf Sie, Mr. Hope. Ich wusste sofort, dass ich den Besten gefunden hatte, den es für diese Aufgabe gab.»

Ben lächelte. «Sie machen mich verlegen.»

Die Horsd’œuvres wurden abgeräumt, und Diener brachten verschiedene antike silberne Schalen herein. Der Deckel der größten Schale wurde abgehoben und gab den Blick frei auf ein großes, glänzendes Stück Roastbeef. Der Koch schnitt mit einem langen Spezialmesser hauchdünne, köstliche Scheiben ab. Noch mehr Wein wurde serviert.

«Seien Sie nicht so bescheiden, Benedict … Ich darf doch Benedict zu Ihnen sagen, nicht wahr?» Fairfax stockte, während er auf einem Stück des zarten Fleisches kaute. «Um zu dem zurückzukehren, was ich sagen wollte – ich habe Ihre Lebensgeschichte in allen Einzelheiten studiert. Je mehr ich über Sie herausfand, desto mehr wurde mir bewusst, dass Sie der ideale Mann für meine Zwecke waren. Ihre Einsätze im Mittleren Osten, die Anti-Terror-Operationen in Afghanistan. Ihr Ruf, mit kalter Effizienz und unerschrockener Hingabe die Ihnen gestellten Aufgaben zu erledigen, die für die meisten anderen Männer viel zu große Herausforderungen dargestellt hätten. Später dann die absolute Konzentration auf Ihre neue Rolle als Retter verlorener oder entführter Kinder und erbarmungsloser Richter über Menschen, die Unschuldigen Leid zufügen. Ein unbestechlicher Mann, reich und unabhängig. Sie würden nicht versuchen, mich zu bestehlen, Sie würden sich nicht von den Gefahren der Mission abschrecken lassen. Sie waren definitiv der Mann, den ich brauchte. Hätten Sie mein Angebot abgelehnt, ich hätte nicht viel unternehmen können, um Ihre Meinung zu ändern.»

«Sie wissen, warum ich das Angebot angenommen habe», erklärte Ben. «Einzig und allein wegen Ihrer Enkeltochter Ruth.» Er zögerte. «Ich wünschte nur, Sie hätten mich ein wenig deutlicher auf das Risiko aufmerksam gemacht. Hätte ich diese Information besessen, mir wäre sicher eine Menge Ärger erspart geblieben.»

«Ich hatte vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten.» Fairfax lächelte. «Ich dachte außerdem, dass Sie ablehnen würden, wenn ich Ihnen die ganze Wahrheit erzähle. Es war wichtig für mich, einen Weg zu finden, wie ich Sie überzeugen konnte.»

«Die ganze Wahrheit? Mich überzeugen? Was reden Sie da, Fairfax?»

«Lassen Sie mich alles erklären», erwiderte Fairfax und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. «Ein Mann in meiner Position lernt schon früh im Verlauf seiner Karriere, dass Menschen, sagen wir, beeinflusst werden können. Jeder Mann hat einen Schwachpunkt, Benedict. Wir alle haben etwas in unserem Leben, in unserer Vergangenheit. Eine Leiche im Keller, ein dunkles Geheimnis. Sobald man weiß, was das für ein Geheimnis ist, kann man es für sich ausnutzen. Einen Mann, der sich wegen seiner Vergangenheit schämt oder der ein heimliches Laster hat, kann man leicht seinem Willen unterwerfen. Ein Mann, der ein Verbrechen begangen hat, ist noch viel einfacher zu beeinflussen. Sie hingegen, Benedict … Sie waren anders.» Fairfax schenkte sich Wein nach. «Auf der Grundlage Ihres biographischen Hintergrunds vermochte ich nichts zu finden, was ich benutzen konnte, um Sie zur Annahme meines Angebotes zu überreden, falls Sie abgelehnt hätten. Eine Situation, mit der ich überhaupt nicht zufrieden war.» Er grinste kalt. «Aber dann fanden meine Agenten ein interessantes Detail aus Ihrer Vergangenheit. Mir war seine eminente Bedeutung sofort klar.»

«Reden Sie weiter.»

«Sie sind ein getriebener Mann, Benedict», stellte Fairfax fest. «Und ich kenne den Grund dafür. Ich habe herausgefunden, was Sie bei Ihrer Arbeit motiviert … Es ist der gleiche Grund, aus dem Sie trinken. Sie werden von Dämonen der Schuld verfolgt. Mir wurde klar, dass Sie meine Bitte um Hilfe bei meiner Suche niemals ausschlagen würden, wenn Sie dachten, Sie würden Ruth retten – die liebe, kleine Ruth. Weil Ruth Ihnen nämlich sehr lieb und teuer ist, habe ich recht?»

Ben runzelte die Stirn. «Wenn ich dachte, ich würde Ruth retten? Was soll das heißen?»

Fairfax leerte sein Glas und schenkte sich ein weiteres ein, während ein Ausdruck von Amüsiertheit über sein Gesicht huschte. «Benedict …», sagte er nachdenklich. «Das ist ein Name mit starken religiösen Konnotationen. Ihre Familie war strenggläubig, nehme ich an?»

Ben schwieg.

«Ich dachte ja nur … Eigenartig, dass Eltern ihre beiden Kinder Benedict und Ruth nennen. Eine Wahl, die stark von der Bibel inspiriert war, meinen Sie nicht auch? Ruth Hope … was für ein ironischer, trauriger Name. Weil es keine Hoffnung gab für Ruth, nicht wahr, Benedict?»

«Wie haben Sie von meiner Schwester erfahren? Sie steht jedenfalls nicht in meinem Lebenslauf.»

«Oh, wenn man genügend Geld hat, findet man so gut wie alles heraus, mein lieber junger Freund. Ich fand es höchst interessant, dass Sie sich ausgerechnet für diese Art von Arbeit entschieden haben, Benedict. Sie sind kein Detektiv, auch nicht jemand, der Informationen beschafft oder gestohlenes Eigentum zurückbringt. Nein, Sie sind ein Finder verlorener Personen, insbesondere verlorener Kinder. Es ist doch offensichtlich, dass Sie in Wirklichkeit versuchen, Ihre Schuld am Verschwinden Ihrer Schwester zu tilgen, Benedict. Sie haben die Tatsache nie verwunden, dass Ihre Pflichtvergessenheit die Ursache war für Ruths Tod … oder wahrscheinlicher für ein Leben, das schlimmer war als der Tod. Sklavenhändler sind nicht gerade für ihr Mitgefühl bekannt. Vergewaltigung, Folter … Wer weiß, was sie ihr angetan haben?»

«Sie waren ziemlich beschäftigt, wie es aussieht.»

Fairfax grinste. «Ich bin immer beschäftigt, Benedict. Wie dem auch sei, ich erkannte, dass Sie niemals den Auftrag ablehnen würden, ein armes, krankes Mädchen zu retten, das den gleichen Namen trägt wie Ihre Schwester und noch dazu im gleichen Alter ist, wie sie es war. Und ich hatte recht. Es war die Geschichte meiner Enkeltochter, die Sie bewogen hat, mir zu helfen.»

«Was sagen Sie da, Fairfax? Was für eine Geschichte

Fairfax kicherte. «Wie immer man es nennen mag, Benedict. Ein Phantasiegespinst. Eine Täuschung, wenn Sie möchten, dass ich vollkommen ehrlich bin. Es gibt keine Ruth. Kein sterbendes kleines Mädchen, Benedict. Und ich fürchte, auch keine Erlösung für Sie.»

Fairfax erhob sich und trat zu einem Sideboard. Er hob den Deckel von einem großen Kästchen und nahm einen kleinen goldenen Kelch hervor. «Nein, kein sterbendes Mädchen», wiederholte er. «Nur einen alten Mann, der sich eine bestimmte Sache mehr als alles andere wünscht.» Er starrte den Kelch verträumt an. «Sie haben ja keine Ahnung, wie sich das anfühlt, Benedict, wenn sich ein Leben wie das meine dem Ende nähert. Ich habe so viele großartige Dinge erreicht und so viel Reichtum und Macht erschaffen … Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, mein Imperium den Händen geringerer Menschen zu überlassen – Menschen, die es verschleudern und verspielen würden. Ich wäre als höchst unglücklicher und frustrierter Mann in mein Grab gegangen.» Er hielt den Kelch in die Höhe, als wollte er Ben zuprosten. «Doch jetzt sind meine Sorgen vorbei – dank Ihnen, Benedict. Ich werde der reichste und mächtigste Mann sein, den die Geschichte je gekannt hat, und ich werde alle Zeit der Welt haben, um meine Ziele zu erreichen.»

Die Tür öffnete sich, und Alexander Villiers betrat den Raum. Fairfax warf seinem Assistenten einen wissenden Blick zu, als dieser näher trat. Villiers verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. Er zog einen kurzläufigen Revolver, einen .357er Taurus, und richtete ihn auf Ben.

Fairfax lachte. Er hob den Kelch an die Lippen. «Ich wünschte, ich könnte auf Ihre Gesundheit trinken, Benedict. Aber ich fürchte, Sie sind am Ende Ihrer Reise angekommen. Erschießen Sie ihn, Villiers.»

Das Fulcanelli-Komplott
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