Kapitel 23

«Interessant?»

«Ziemlich interessant», antwortete er abwesend und blickte von seinem Schreibtisch auf. Roberta starrte gelangweilt aus dem Fenster, einen Kaffeebecher in der Hand. Er wandte sich wieder dem Journal zu, blätterte vorsichtig die vom Alter vergilbten Seiten um und überflog die Eintragungen in der eleganten, geübten Handschrift des Alchemisten.

«War es dreißigtausend wert?»

Ben antwortete nicht. Vielleicht war es die dreißigtausend Euro wert gewesen, die er Clément dafür gezahlt hatte, vielleicht nicht. Viele Seiten schienen zu fehlen, andere waren beschädigt oder nicht mehr lesbar. Er hatte gehofft, in Fulcanellis Journal Hinweise auf das fabelhafte Elixier zu finden, vielleicht sogar eine Art Rezeptur. Doch als er die Seiten durchblätterte, erkannte er, dass das wohl ein naiver Wunschtraum gewesen war. Es schien sich um ein ganz gewöhnliches Tagebuch zu handeln, einen tagtäglichen Bericht über das Leben des Mannes, geschrieben aus der eigenen Perspektive.

Bens Augen blieben auf einem längeren Eintrag haften, und er begann zu lesen.

9. Februar 1924
 
Der Aufstieg auf den Gipfel war lang und voller Gefahren. Ich werde allmählich viel zu alt für diese Dinge. Mehr als einmal wäre ich um ein Haar zu Tode gestürzt, während ich mich wie betäubt zentimeterweise die nahezu senkrechte Felswand hinaufschob und der Schneefall sich zu einem ausgewachsenen Blizzard steigerte.
Endlich hatte ich den letzten Meter überwunden und den Gipfel erreicht, wo ich schnaufend und zitternd von der Anstrengung meinem geschundenen, müden Leib einige Minuten Ruhe gönnte. Ich wischte mir den Schnee aus den Augen und hob den Blick. Vor mir stand die Burgruine.
Der Lauf der Zeit hat nicht viel übrig gelassen vom einstigen stolzen Hort von Amauri de Lévis. Kriege und Seuchen kamen und gingen, Kriegerdynastien stiegen auf und versanken wieder, das Land wurde von einem Herrscher zum nächsten weitergereicht. Es ist mehr als fünf Jahrhunderte her, dass die Burg, schon damals alt und baufällig, im Zuge einer längst vergessenen Fehde belagert, bombardiert und schließlich geschleift wurde. Die einst starken runden Türme sind kaum mehr als Trümmerhaufen, die vom Kampf gezeichneten Wälle und Mauern überwuchert von Moos und Flechten. Vor langer Zeit muss ein Feuer im Innern gewütet und das Dach zum Einsturz gebracht haben. Die Zeit, der Wind und das Wetter haben den Rest besorgt.
Ein großer Teil der Ruine ist von wilden Brombeeren und Ginstersträuchern überwuchert, und ich musste mir erst einen Weg durch den gotischen Torbogen des Eingangs schneiden. Die Tore aus Holz sind längst verrottet und verschwunden. Nur die geschwärzten eisernen Angeln sind noch übrig, die von den rostigen Nieten im zerfallenden Steinbogen festgehalten werden. Als ich durch das Tor trat, empfing mich eine friedhofsgleiche Totenstille, die über der leeren grauen Hülle lastete. Ich hegte die größten Zweifel, ob ich jemals finden würde, weswegen ich hergekommen war.
Ich wanderte im schneebedeckten Innenhof umher und betrachtete die Reste der Wälle und Mauern. Am Boden einer gewundenen, in die Tiefe führenden Treppe entdeckte ich den Eingang zu einem alten Lagerraum, wo ich Zuflucht vor dem Wind und der Kälte fand und ein kleines Feuer entfachte, um mich daran zu wärmen.
Der Schneesturm hielt mich zwei volle Tage im Innern der Burgruine gefangen. Ich lebte von den mageren Rationen an Brot und Käse, die ich mitgebracht hatte. Ich hatte außerdem eine Decke und einen kleinen Stieltopf, den ich benutzte, um Schnee zu Trinkwasser zu schmelzen. Ich verbrachte die Zeit damit, die Ruine zu erkunden, in der inbrünstigen Hoffnung, dass das, was meine Forschungen mir enthüllt hatten, sich als wahr erweisen würde.
Ich wusste, dass mein Schatz, falls er existierte, nicht über der Erde in den Ruinen der Türme oder der Halle zu finden war, sondern irgendwo tief unten im Labyrinth der aus dem Fels gehauenen Tunnel und Katakomben. Viele der Tunnel waren im Lauf der Jahrhunderte eingestürzt, andere waren gangbar geblieben. Auf den untersten Ebenen entdeckte ich dunkle Verliese – die Knochen der unglückseligen Insassen von einst waren längst zu Staub zerfallen. Ich betete und hoffte, während ich im Licht meiner Öllampe durch die nassen, geschwärzten Gänge und über die Wendeltreppen wanderte.
Nach vielen Stunden grausamer Enttäuschungen kroch ich durch einen halb eingefallenen Gang tief unter der Erde und fand mich schließlich in einer quadratischen Kaverne wieder. Ich hob meine Lampe und sah mich um. Und tatsächlich, es war die gleiche Gewölbedecke und das gleiche Wappen wie auf dem verwitterten alten Holzschnitt, den ich in Paris entdeckt hatte. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich am Ende meiner Suche angekommen war, und mein Herz machte einen freudigen Satz.
Ich schritt durch die Kaverne, bis ich die Stelle erreicht hatte. Ich wischte die dichten Spinnweben und den Staub beiseite, bis ich die verwitterte Markierung in dem Steinblock deutlich vor mir sehen konnte. Wie ich von Anfang an geahnt hatte, führte mich die Markierung zu einer bestimmten Steinplatte im Boden. Ich scharrte das feuchte Erdreich aus den Fugen, bis ich imstande war, die Finger unter den Rand der Platte zu schieben. Mit größter Anstrengung gelang es mir, sie hochzuwuchten. Als ich den verborgenen Hohlraum darunter sah und mir bewusstwurde, was ich nach lebenslanger Suche gefunden hatte, sank ich auf die Knie und weinte stille Tränen der Freude und Erleichterung.
Mein Herz pochte angstvoll, als ich das schwere Objekt aus dem Loch wuchtete und den Schmutz und die verwitterten Überreste seiner Umhüllung aus Schaffell entfernte. Die Stahlkassette war gut erhalten. Es gab ein Zischen von entweichender Luft, als ich den Deckel mit meinem Messer aufhebelte. Mit zitternden Fingern griff ich hinein. Und da war er, im flackernden Licht meiner Laterne: mein unglaublicher Fund.
Seit fast siebenhundert Jahren hat kein menschliches Auge diese kostbaren Dinge erblickt. Was für eine grenzenlose Freude.
Ich denke, diese Artefakte sind das Werk meiner Vorfahren, der Katharer. Es sind Schöpfungen von großer Kunstfertigkeit, seit Menschenaltern verborgen und versteckt vor Generationen. Zusammen enthalten sie möglicherweise den Schlüssel zu dem Geheimnis aller Geheimnisse und dem ultimativen Ziel all unserer Forschung. Es ist ein Wunder – so groß, dass ich kaum wage, über seine Macht nachzudenken …

Ben blätterte ein paar Seiten weiter, begierig, mehr zu erfahren.

3. November 1924
 
Es ist, wie ich befürchtet hatte. Die antike Schriftrolle ist viel schwerer zu entschlüsseln als zuerst gedacht. Viele Monate habe ich an der Übersetzung der archaischen Sprachen gearbeitet, der listenreich verschlüsselten Botschaften, der zahlreichen absichtlichen Täuschungen. Doch heute wurden Clément und ich endlich belohnt für unsere Mühen und unsere Geduld.
Nachdem die Substanzen auf ihre Salze reduziert worden waren sowie eine Reihe von speziellen Aufbereitungen und einen Destillationsvorgang durchlaufen hatten, brachten wir sie in einem Tiegel zum Schmelzen. Es gab ein erschreckendes Fauchen, und Dämpfe erfüllten das Labor. Clément und ich waren erstaunt angesichts des Geruchs nach frischer Erde und blühenden Blumen. Das Wasser nahm eine goldene Farbe an. Zu diesem Wasser fügten wir eine gewisse Menge Quecksilber hinzu, und dann ließen wir die Lösung abkühlen. Als wir schließlich den Tiegel öffneten …

Der Rest der Seite war nicht mehr vorhanden. Teils hatten ihn Mäuse weggefressen, teils war er durch Feuchtigkeit unleserlich geworden. «Scheiße!», fluchte Ben leise. Vielleicht stand am Ende doch nichts Nützliches in diesem Journal. Er starrte angestrengt auf die verblasste Schrift und las weiter. An manchen Stellen war sie aufgrund von Feuchtigkeitsflecken kaum noch zu erkennen.

8. Dezember 1924
 
Wie probiert man ein Elixier des Lebens aus? Wir haben die Lösung gemäß den detaillierten Anweisungen meiner Vorfahren hergestellt. Clément, dieser liebenswerte Bursche, hatte Angst, es zu trinken. Ich habe inzwischen ungefähr zwanzig Teelöffel der süßlichen Flüssigkeit zu mir genommen. Ich beobachte keinerlei negative Wirkungen. Nur die Zeit wird mir zeigen, wie groß die lebenserhaltende Wirkung ist …

Die Zeit wird es zeigen, okay, dachte Ben. Frustriert blätterte er ein paar Seiten weiter und fand einen Eintrag vom Mai 1926, der ausgezeichnet erhalten und einfach zu lesen war.

Als ich an diesem Morgen von meinem täglichen Spaziergang in die Rue Lepic zurückkehrte, wurde ich von einem furchtbaren Gestank begrüßt, der aus meinem Labor kam. Noch während ich die Treppe in den Keller hinunterhastete, wusste ich, was geschehen war. Und genau wie erwartet, stand mein junger Lehrling Nicholas Daquin inmitten von Rauchwolken und Trümmern eines törichten Experiments.
Als Erstes löschte ich die Flammen. Ich hustete noch immer vom Rauch, als ich mich schließlich ihm zuwandte. «Ich habe dich gewarnt vor diesen Experimenten, Nicholas», schalt ich ihn.
«Es tut mir leid», antwortete Nicholas mit einem trotzigen Blick in den Augen. «Aber, Meister, beinahe hätte es geklappt!»
«Experimente können gefährlich sein, Nicholas. Du hast die Kontrolle über die Elemente verloren. Es erfordert sehr viel Gefühl, die Elemente stets im rechten Gleichgewicht zu halten.»
Er sah mich an. «Aber Ihr habt mir selbst gesagt, Meister, dass ich ein gutes Gefühl dafür hätte.»
«Und so ist es auch», erwiderte ich. «Trotzdem. Intuition allein reicht nicht aus. Dein Talent ist kaum entwickelt, mein Freund. Du musst lernen, deine jugendliche Impulsivität im Zaum zu halten.»
«Es dauert alles so schrecklich lang, Meister! Ich will mehr wissen! Ich will alles wissen!»
Mein zwanzig Jahre alter Novize ist manchmal eigensinnig und arrogant, doch ich kann nicht abstreiten, dass er ein großes Talent besitzt. Nie zuvor bin ich einem Studenten begegnet, der so eifrig war. «Du kannst nicht erwarten, dass ich dreitausend Jahre der Philosophie und die Bemühungen meines ganzen Lebens in ein paar Lehrstunden verdichte», sagte ich geduldig zu ihm. «Die mächtigsten Geheimnisse der Natur sind Dinge, die du dir langsam erarbeiten musst, Schritt für Schritt. Das ist das Wesen der Alchemie.»
«Aber Meister, ich habe so viele Fragen!», protestierte Nicholas und fixierte mich mit seinen großen, dunklen Augen. «Ihr wisst so viel. Ich hasse das Gefühl, ein unwissender Tor zu sein.»
Ich nickte. «Du wirst lernen. Doch zuerst musst du lernen, deinen Eigensinn unter Kontrolle zu bringen, junger Nicholas. Es ist unklug zu rennen, wenn man noch nicht einmal gelernt hat zu gehen. Du solltest dich für den Augenblick wirklich auf theoretische Studien beschränken.»
Der Junge ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und sah mich aufgeregt an. «Ich bin es leid, Bücher zu lesen, Meister! Die Theorie unserer Wissenschaft zu lernen ist schön und gut, aber ich brauche etwas Praktisches. Etwas, das ich sehen und anfassen kann. Ich brauche den Glauben, dass das, was wir tun, einen Sinn und einen Zweck hat.»
Ich sagte ihm, dass ich Verständnis für seine Wünsche hätte. Ich sorgte mich auch, dass zu viel theoretisches Lernen diesen äußerst begabten Schüler am Ende vergraulen könnte. Ich bin mir nur allzu bewusst, wie trocken und fruchtlos ein Leben voller Studien sein kann ohne die Belohnung eines echten Durchbruchs, einer greifbaren Belohnung.
Ich dachte an meinen eigenen Schatz. Vielleicht würde es seine brennende Neugier befriedigen, wenn ich ein wenig von diesem unglaublichen Wissen an Nicholas weitergab.
«Also schön», sagte ich nach einer langen Pause. «Ich werde dir mehr zeigen. Etwas, das du nicht in deinen Büchern findest.»
Der junge Mann sprang auf, und seine Augen blitzten vor Aufregung. «Wann, Meister? Jetzt?»
«Nein, nicht jetzt», erwiderte ich. «Sei nicht so ungeduldig, mein junger Lehrling. Bald, sehr bald.» An dieser Stelle hob ich mahnend den Zeigefinger. «Doch vergiss eines nicht, Nicholas. Kein Student in deinem Alter wurde je so rasch so tief in die alchemistischen Wissenschaften eingeweiht. Es ist eine große Verantwortung, und du musst bereit sein, sie zu tragen. Es sind die größten Geheimnisse, die ich dir anvertraue, und sie dürfen niemals weitergegeben werden – an niemanden. Hörst du? An niemanden. Das musst du mir schwören, Nicholas.»
Er reckte mir auf die ihm eigene, stolze Weise das Kinn entgegen. «Ich will den Schwur jetzt gleich auf mich nehmen, Meister», erklärte er.
«Denk darüber nach, Nicholas. Überstürze nichts. Es ist eine Tür, die, einmal geöffnet, nicht wieder geschlossen werden kann.»
Während wir redeten, war Jacques Clément hereingekommen und hatte sich schweigend darangemacht, die Unordnung und die Scherben von der Explosion aufzuräumen. Nachdem Nicholas gegangen war, sah Clément mich nervös an. «Vergebt mir, Meister», sagte er zögernd. «Wie Ihr wisst, habe ich niemals eine Eurer Entscheidungen in Frage gestellt …»
«Was willst du mir sagen, Jacques?»
Clément wand sich. «Ich weiß, dass Ihr große Wertschätzung für den jungen Nicholas empfindet. Er ist ein aufgeweckter und eifriger Lehrling, daran besteht kein Zweifel. Doch diese impulsive Art … Er verzehrt sich nach Wissen auf eine Weise, wie es einen gierigen Menschen nach Reichtum gelüstet. In ihm brennt ein Feuer, das sich kaum kontrollieren lässt.»
«Er ist jung, das ist alles», entgegnete ich. «Wir waren selbst einmal jung, Jacques. Was versuchst du mir zu sagen? Sprich frei von der Seele weg, mein alter Freund.»
Er zögerte immer noch. «Seid Ihr ganz sicher, Meister, dass der junge Nicholas bereit ist für dieses Wissen? Es ist ein großer Schritt für ihn. Kann er ihn verkraften?»
«Ich glaube, er kann es», erwiderte ich. «Ich vertraue ihm.»

Ben klappte das Journal vorsichtig zu und sinnierte einige Augenblicke. Es schien klar, dass Fulcanelli sein besonderes Wissen aus den in der Burgruine entdeckten Artefakten erfahren hatte, worum auch immer es sich handelte. Den Artefakten, die jetzt, wie es schien, im Besitz von Klaus Rheinfeld waren. Endlich hatte Ben eine Spur.

Neben ihm auf dem Tisch summte der Laptop leise vor sich hin. Ben zog ihn zu sich und begann zu tippen. Das vertraute Geräusch einer Modemverbindung ins Internet erklang, und im Browser erschien die Startseite einer Suchmaschine. Er tippte den Namen «Klaus Rheinfeld» in die Suchmaske und startete die Suche.

«Wonach suchen Sie?», fragte Roberta und zog neben ihm einen Stuhl unter dem Esstisch hervor.

Die Suchergebnisse erschienen im Browserfenster. Zweihunderteinundsiebzig Treffer für «Klaus Rheinfeld». «Meine Güte», murmelte er überrascht und machte sich daran, die Liste durchzuscrollen. «Ah, das sieht vielversprechend aus.»

Klaus Rheinfeld führt Regie bei Outcast mit Brad Pitt und Reese Witherspoon in den Hauptrollen …

«Ein packender Thriller … Rheinfeld ist der neue Quentin Tarantino», las Roberta laut.

Ben grunzte und scrollte weiter nach unten. So gut wie jeder Eintrag in der Liste war eine Besprechung des neuen Films Outcast oder ein Interview mit dem Regisseur, einem zweiunddreißig Jahre alten Kalifornier. Außerdem gab es noch «Klaus Rheinfeld Export», einen Weinhändler.

«Und hier: ‹Klaus Rheinfeld, der Pferdeflüsterer›», las Roberta vor.

Mehrere Bildschirmseiten weiter kamen sie zu einer regionalen Schlagzeile. Sie stammte aus einer kleinen Zeitung in Limoux, einer Ortschaft im Languedoc im Süden Frankreichs. Die Schlagzeile lautete:

 

LE FOU DE SAINT-JEAN

 

«Der Wahnsinnige von Saint-Jean», übersetzte Ben. «Der Artikel stammt von Oktober 2001 … Okay, schauen Sie sich das an …»

Ein verletzter Mann wurde halb nackt umherirrend im Wald von Saint-Jean gefunden. Nach den Worten von Pater Pascal Cambriel, dem Priester der Gemeinde, der den Mann fand, redete er in einer unverständlichen Sprache und schien den Verstand verloren zu haben. Der Mann, nach seinen Papieren identifiziert als ein gewisser Klaus Rheinfeld, ehemals wohnhaft in Paris, hat sich offensichtlich selbst zahlreiche Schnittverletzungen mit einem Messer zugefügt. Ein Sanitäter sagte gegenüber unserem Reporter: «So etwas habe ich noch nie gesehen. Er war über und über bedeckt von merkwürdigen Zeichen – Dreiecken und Kreuzen und dergleichen. Es war ekelhaft. Wie kann sich jemand nur selbst so etwas antun?» Gerüchten zufolge stehen diese bizarren Wunden mit satanischen Ritualen im Zusammenhang, obwohl einheimische Behörden dies entschieden bestreiten. Rheinfeld wurde im Hospital von Sainte Vierge behandelt …

«Da steht nicht, wohin sie ihn hinterher gebracht haben. Verdammt. Er könnte überall sein.»

«Zumindest scheint er noch am Leben zu sein», meinte Roberta.

«Oder er war es vor sechs Jahren. Falls es überhaupt der gleiche Klaus Rheinfeld ist.»

«Ich gehe jede Wette mir Ihnen ein, dass er es ist», erwiderte sie. «Satanische Zeichen? Sprich: alchemistische Zeichen.»

«Warum hat er sich diese Schnittverletzungen beigebracht?», sinnierte er.

Sie zuckte die Schultern. «Vielleicht war er wirklich wahnsinnig.»

«Okay … also haben wir einen wahnsinnigen Deutschen, der sich mit dem Messer verschönert hat, vielleicht – vielleicht aber auch nicht – über wichtige Geheimnisse von Fulcanelli verfügt und sich inzwischen überall auf der Welt aufhalten könnte. Das engt die Möglichkeiten natürlich wunderbar ein.» Er seufzte, löschte den Fensterinhalt und startete eine neue Suche. «Während wir schon online sind, können wir auch gleich das hier überprüfen.» Er tippte den Namen der Webseite von Michel Zardis E-Mail-Provider ein. Als die Seite fertig geladen war, gab er den Namen des Kontos ein. Jetzt fehlte nur noch das Passwort, um auf Zardis E-Mails zuzugreifen. Da Ben wusste, dass die meisten Menschen irgendein Wort aus ihrem privaten Umfeld benutzten, fragte er Roberta: «Was wissen Sie über Zardis Privatleben? Den Namen seiner Freundin beispielsweise, irgendetwas in der Art.»

«Nicht viel. Er hatte keine feste Freundin, soviel ich weiß.»

«Der Name der Mutter?»

«Hm … Warten Sie … Ich glaube, sie heißt Claire.»

Er tippte den Namen in das Passwort-Feld. Sogleich kam die Rückmeldung: Falsches Passwort.

«Lieblings-Fußballteam?»

«Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass er sich für Sport interessiert hat.»

«Fahrzeugmarke? Fahrrad?»

«Er ist mit der Metro gefahren.»

«Haustiere?»

«Eine Katze.»

«Richtig. Der Fisch», sagte Ben.

«Dieses Arschloch und sein Fisch … wie konnte ich das vergessen? Wie dem auch sei, die Katze hieß Lutin. Das buchstabiert sich L – U – T – I – N.»

Er tippte den Namen ein. «Bingo!»

Michel Zardis E-Mails scrollten über den Bildschirm. Hauptsächlich Spam, vor allem spezielle Angebote für Viagra-Pillen und Penisverlängerungen. Nichts von einem seiner geheimnisvollen Kontaktleute. Roberta beugte sich vor und klickte auf GESENDETE OBJEKTE. Sämtliche Berichte, die Michel an «Saul» abgeschickt hatte, erschienen nach Datum geordnet in einer langen Liste.

«Sehen Sie sich das an», sagte sie und blätterte durch die Liste. «Das hier ist die letzte Mail, mit dem Anhang, von dem ich Ihnen erzählt habe.» Sie klickte auf das Büroklammersymbol und zeigte Ben die JPEG-Bilddateien, die Zardi mit seiner Handykamera aufgenommen hatte. Er ging die Fotos durch, bevor er die Mail schloss und auf NEUE E-MAIL-NACHRICHT VERFASSEN klickte.

«Was machen Sie da?»

«Ich erwecke unseren Freund wieder zum Leben.» Er tippte die Adresse von Saul in das Empfängerfeld – die gleiche wie bei den anderen Mails. Robertas Augen weiteten sich, als sie las, was er schrieb.

Ratet mal, wer hier ist? Richtig, ihr habt den Falschen erwischt. Ihr Schweinehunde habt meinen Freund erledigt. Und jetzt wollt ihr die Ryder, stimmt’s? Ich hab sie. Tut, was ich euch sage, und ich geb sie euch.

«Nicht gerade wie von Shakespeare, aber es wird reichen.»

«Was zum Teufel tun Sie da?» Sie sprang auf und starrte ihn erschrocken an.

Er packte sie beim Handgelenk. Sie wehrte sich dagegen, und er ließ locker und zog sie sanft wieder zurück auf ihren Stuhl. «Sie wollen herausfinden, wer diese Leute sind, oder?»

Sie setzte sich, doch das Misstrauen in ihren Augen war nicht zu übersehen.

Er seufzte und warf seinen Schlüsselbund auf den Tisch. «Hier. Wie ich bereits sagte, wenn Sie wollen, können Sie jederzeit verschwinden. Aber Sie waren einverstanden, dass wir das auf meine Weise machen, erinnern Sie sich?»

Sie antwortete nicht.

«Vertrauen Sie mir», bat er leise.

Sie seufzte. «Also schön. Ich vertraue Ihnen.»

Er wandte sich zum Bildschirm um und schrieb seine Nachricht zu Ende. «Bombe ausgelöst», sagte er, als er auf SENDEN klickte.

Das Fulcanelli-Komplott
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