Kapitel 61
Die scheinbar endlose steinerne Spirale führte ihn tief hinunter in massiven Fels. Je weiter er kam, desto schwächer wurde das Geräusch des draußen tobenden Gewittersturms, bis schließlich völlige Stille herrschte.
Nach einer Weile endete die Treppe. Vor Ben lag ein waagerechter Gang, dessen Ende im Dunkeln lag. Es gab nur diesen einen Weg, und die einzigen Geräusche waren seine hallenden Schritte und das Tropfen von Wasser. Die glatten, runden Tunnelwände waren hoch genug für Ben, um aufrecht gehen zu können. Es musste Jahrhunderte gedauert haben, die Treppe und diesen Tunnel aus dem Fels zu schlagen. Ein rauer Tunnel hätte es genauso gut getan; doch wer auch immer das hier erschaffen hatte, der war mehr als nur an Funktionalität interessiert gewesen. Er hatte nach Perfektion gestrebt. Doch warum? Wohin führte der Tunnel? Ben ging weiter.
Ohne Vorwarnung beschrieb der Tunnel einen scharfen Knick. Im ersten Augenblick dachte Ben, er wäre in einer Sackgasse gelandet. Doch dann spürte er einen Luftzug in den Haaren. Eine kalte Brise von oben. Er hob seine LED-Lampe. Zur Linken gab es eine Passage und weitere Treppenstufen, die nach oben führten. Er stieg hinauf, höher und höher. Nach einer Weile hatte er das Gefühl, bereits viel höher gestiegen zu sein als zuvor nach unten. Er erinnerte sich an die steile Felswand in der Nähe des Hauses, und ihm wurde klar, dass er sich im Innern des Berges befand. Tief im Innern, auf allen Seiten umgeben von Tausenden Tonnen massivem Fels.
Seine Lampe wurde von Minute zu Minute schwächer. Als sie schließlich ganz erloschen war, steckte er sie in die Tasche und nahm sein Feuerzeug, um damit zu leuchten. Es wurde kälter, und der Wind pfiff um ihn herum, obwohl die Wand um ihn herum geschlossen und der Treppenschacht schmal war. Er verbrannte sich die Finger am Metall des Feuerzeugs und begann sich zu sorgen, dass sich das Benzin im Innern schlagartig entzünden könnte, falls es zu heiß wurde. Unvermittelt stolperte er in der Dunkelheit über eine Stufe und wäre um ein Haar nach unten gestürzt. Éinen Moment lang hielt er mit wild pochendem Herzen inne, während er das glühend heiße Zippo abkühlen ließ. Nach einer Weile schlug er es wieder an und setzte seinen Weg fort.
Bald darauf endete die Treppe, und Ben fand sich in einer Felsenkaverne wieder. Er richtete sich auf, hielt das Feuerzeug in die Höhe und blinzelte erstaunt. Die Kammer erstreckte sich zu allen Seiten in die Dunkelheit. Er kam zu einer Steinsäule, die aus dem Boden zu wachsen schien und oben mit der gewölbten Decke in vier Metern Höhe verschmolz. Die Säule war nicht nur sorgfältig behauen und geglättet, sondern auch mit kunstvollen Reliefs von biblischen Szenen und Heiligen bedeckt. Ein paar Meter weiter stand eine ähnliche Säule, und dann kam die übernächste.
Ben schwenkte die Feuerzeugflamme. Reihen goldener Kruzifixe glitzerten im flackernden Licht. Vor ihm stand ein mächtiger Altar aus massivem, behauenem Stein, der mit Intarsien aus massivem Gold verziert war.
Er war in einer Kirche. Einer mittelalterlichen Kirche, die unter unsäglichen Mühen aus dem Inneren eines Berges herausgeschlagen worden war.
Ben entzündete die Kerzen auf dem Altar. Es gab Unmengen von Kerzen, alle in Ständern aus massivem Gold. Eine nach der anderen erfüllte die Kirche mit ihrem honiggelben Licht. Er schnappte nach Luft angesichts der gewaltigen Dimensionen des ausgehöhlten Raums. Der Reichtum von alldem war atemberaubend.
Dann entdeckte er die steinernen Truhen an den Wänden. Es waren Dutzende, alle kniehoch und etwa einen Meter im Quadrat. Er trat näher heran. Sie waren bis zum Rand mit Gold gefüllt. Er streckte die Hand in eine der Truhen, und seine Finger harkten durch Münzen und Nuggets, Ringe und Amulette. Es war genug Gold in dieser Kirche, um den Finder zum reichsten Mann der Welt zu machen.
Mit einer dicken Kerze ging Ben zu dem mächtigen Altar. Zwei weiße Löwen, aus glattem Stein gehauen, trugen ein rundes Steinbecken von zweieinhalb Metern Durchmesser. Das Kerzenlicht spiegelte sich im dunklen Wasser darin. Auf dem glatten Rand standen in fließender Schrift die Worte:
Omnis qui bibit hanc aquam, Si fidem addit, Salvus erit
Übersetzt hieß dies:
Wer von diesem Wasser trinkt, wird Erlösung finden,
so er glaubt.
Zu den Füßen einer Engelsstatue befand sich ein goldenes Podest, und darauf lag ein langer lederner Zylinder. In seinem Innern fand Ben eine Schriftrolle. Vorsichtig zog er sie hervor, kniete sich hin und entrollte das uralte Dokument auf dem Fußboden, um es zu studieren. Es war offensichtlich mittelalterlich, wenngleich unglaublich gut erhalten. Die Schrift war eine merkwürdige Form von Latein, die er nicht lesen konnte, gemischt mit etwas, das aussah wie ägyptische Hieroglyphen.
Er blinzelte, als ihm bewusstwurde, was er vor sich sah. Das war also das legendäre Manuskript, nach dem alle gesucht hatten? Jetzt war klar, dass die Unterlagen, die Rheinfeld von Clément gestohlen hatte, und die Kopie, die er in seinem Notizbuch angefertigt hatte, lediglich Fulcanellis eigene Notizen darstellten – und nichts mehr. Und diese Notizen des alten Alchemisten waren nur Aufzeichnungen der Hinweise, die ihn selbst zum Manuskript geführt hatten. Die gleichen Hinweise, die den nächsten Suchenden führen würden, der Fulcanellis Schritten folgte.
Jetzt endlich, als Ben es vor sich sah, wurde ihm bewusst, welche Macht dieses geheimnisvolle Dokument über so viele Menschen ausübte. Niemand vermochte auch nur annähernd zu sagen, wie viel Blut im Verlauf der Jahrhunderte wegen dieses Manuskripts geflossen war – entweder um es zu schützen oder um in seinen Besitz zu gelangen. Es hatte zweifellos die Macht, Böses heraufzubeschwören. Aber hatte es auch die Macht, Gutes zu tun?
Noch etwas war aus dem Lederzylinder gefallen. Es war ein gefaltetes Blatt Papier. Ben klappte es vorsichtig auseinander. Es war ein Brief, und er hatte diese Handschrift schon einmal gesehen.
An den Suchenden:
Mein lieber Freund,
Wenn Ihr so weit gekommen seid, diese Worte zu lesen, dann seid Euch meines Beifalls gewiss. Dieses Geheimnis, welches den Großen und Weisen unter den Menschen seit Anbeginn der Zivilisation entgangen ist, liegt nun in Euren tapferen und entschlossenen Händen.
Mir bleibt nur, Euch diese eine Warnung weiterzugeben: Wenn der Erfolg zu guter Letzt die lange Mühe krönt, darf sich der Weise nicht verführen lassen von den Eitelkeiten der Welt. Er muss in Glauben und Demut verharren und darf das Schicksal jener nie vergessen, die von den Mächten des Bösen verführt wurden.
Der Adept muss ewiges Schweigen bewahren, in der Wissenschaft und im Glauben.
Fulcanelli
Ben sah zu dem Steinbecken am Fuß des Altars. Das Elixir Vitae war direkt vor ihm. Seine Suche war vorüber. Jetzt galt es, keine Zeit mehr zu verlieren.
Er sprang auf und blickte sich suchend um nach einem Gefäß, das er benutzen konnte, um das Elixier zu Ruth zu bringen. Sein Flachmann fiel ihm ein. Ohne eine Sekunde zu zögern, schraubte er den Deckel auf und schüttete den Whiskey aus. Die Flüssigkeit spritzte auf den Steinboden. Sein Herz pochte wild, als er das Behältnis in das Wasser eintauchte und es füllte. Glaubte er? Konnte diese spezielle Substanz tatsächlich heilen?
Tropfen der kostbaren Flüssigkeit rannen außen an dem gefüllten Flachmann herunter, als er ihn aus dem Steinbecken hob. Seine Neugier war überwältigend. Er setzte den Flachmann an die Lippen.
Der faulige Geschmack war so intensiv, dass er sich beinahe übergeben hätte. Er spuckte und würgte. Voller Abscheu wischte er sich über den Mund. Er leuchtete mit der Kerze in das Becken hinein, als er einen Teil des Wassers zurückgoss. Es war voller grünlichem Schleim.
Ben sank auf die Knie und ließ den Kopf hängen. Es war vorbei. Er war am Ende der Straße angelangt. Er hatte versagt.
Der plötzliche ohrenbetäubende Knall in der Kaverne schnitt wie ein Messer durch seine Trommelfelle. Einer der weißen Steinlöwen zerbarst, und das Steinbecken brach entzwei. Das Wasser ergoss sich über den Sockel des Altars und überzog den Boden mit grünlichem, stinkendem Schleim.
Von Panik ergriffen, rappelte sich Ben hoch, doch bevor er den Browning ziehen konnte, starrte er in den Lauf eines schweren Colt Automatik, der sich aus den Schatten näherte.
«Na, überrascht, mich zu sehen, Engländer?», fragte Franco Bozza mit heiserer Flüsterstimme, als er in den flackernden Lichtschein trat. Sein blutüberströmtes Gesicht trug einen wilden Ausdruck – eine Maske aus nacktem Hass. «Lass deine Waffe fallen.»
Bozzas Oberkörper unter der kugelsicheren Weste schmerzte noch immer höllisch vom Einschlag der drei 9-mm-Kugeln. Der lange, taumelnde Sturz über die Klippe war von einem Baum abgemildert worden. Die Zweige hatten ihm das Fleisch von den Knochen gerissen und ihn beinahe aufgespießt. Er blutete aus Hunderten kleiner Schnitte, und seine rechte Wange war vom Mund bis zum Ohr aufgerissen. Doch er hatte den Schmerz kaum gespürt, als er im tosenden Sturm wieder nach oben und über den Kamm des Hügels geklettert war. Sein Verstand war nur noch auf eine einzige Sache gerichtet – auf das, was er mit Ben Hope machen würde, sobald er ihn in seiner Gewalt hatte. Er würde Dinge zu erleiden haben, die selbst Bozzas unglückseligste Opfer noch nicht durchgestanden hatten.
Und jetzt war es so weit. Jetzt hatte er ihn.
Ben starrte ihn an, dann bewegte er die Hand zum Halfter und nahm vorsichtig den Browning heraus. Er ließ ihn zu Boden fallen und trat ihn von sich fort, ohne den Blick von Bozza zu nehmen.
«Die Beretta auch», sagte Bozza, «die du mir abgenommen hast.»
Ben hatte gehofft, dass Bozza die Waffe vergessen hatte. Langsam zog er die kleine .380er aus dem Hosenbund und ließ sie ebenfalls fallen.
Bozzas bleiche, dünne Lippen verzogen sich zu einem blutigen Grinsen. «Gut», flüsterte er. «Und jetzt sind wir endlich allein und unter uns.»
«Ist mir ein Vergnügen», erwiderte Ben.
«Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, glaub mir», krächzte Bozza. «Und wenn du erst tot bist, finde ich deine kleine Freundin Ryder und vergnüge mich mit ihr.»
Ben schüttelte den Kopf. «Du findest sie nie im Leben.»
«Ach nein?», entgegnete Bozza mit einem Geräusch, das fast wie ein Lachen klang. Er griff mit einer schwarz behandschuhten Hand in seine Innentasche und wedelte mit Robertas rotem Adressbuch. «Wenn wir hier fertig sind, mache ich Urlaub.» Er grinste. «In den Vereinigten Staaten.»
Eine Welle der Angst erfasste Ben, als er Robertas Adressbuch sah. Er hatte ihr gesagt, dass sie es vernichten sollte. Es musste in ihrer Tasche gewesen sein, als Bozza sie entführt hatte.
«Sie stirbt erst ganz am Schluss», fuhr Bozza fort und grinste in sich hinein. Ben sah ihm an, dass er jedes Wort genoss. «Zuerst wird sie zusehen, wie ich ihre Familie vor ihren Augen langsam in Stücke schneide. Und dann, bevor ich sie töte, werde ich ihr die kleine Trophäe zeigen, die ich ihr eigens mitgebracht habe. Deinen Kopf, Hope. Erst dann werde ich mich mit Dr. Ryder befassen. Denn stark ist Gott der Herr, der sie richten wird.» Bozza grinste sadistisch und senkte die Pistole. Er zielte auf Bens linkes Knie. Sein Finger legte sich um den Abzug. Zuerst würde er Hope eine Kniescheibe wegschießen, dann die andere. Dann einen Arm, gefolgt vom anderen. Und dann, sobald sein Opfer hilflos am Boden lag und sich wand, war die Zeit für das Messer gekommen.
Ben war vor vielen Jahren in den Techniken ausgebildet worden, einen bewaffneten Gegner im Nahkampf zu überwältigen. Es war alles eine Frage der Entfernung, auch wenn es selbst im günstigsten Fall ein verzweifelter Zug war. Falls der Gegner nah genug stand, war es – relativ gesehen – nicht ganz so wahnwitzig, ihm die Waffe abzunehmen. Doch falls er sich auch nur einen Schritt zu weit weg befand, war es praktisch unmöglich, sich schnell genug zu bewegen. Der andere musste nichts weiter tun, als den Finger zu krümmen, und man war tot.
Während Bozza sprach, hatte Ben die Distanz eingeschätzt. Es war haarscharf an der Grenze zwischen «extrem riskant» und «nacktem Selbstmord». Er wusste, dass er nur einen winzigen Reflexvorteil hatte, eine halbe Sekunde bestenfalls. Es war verrückt, doch er hatte nur ein Leben – und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, darum zu kämpfen.
Er benötigte nur eine Zehntelsekunde, um seine Entscheidung zu treffen. Er stand im Begriff, Bozza anzuspringen, als erneut ein Schuss die Stille zerriss.
Bozzas zerfurchtes Gesicht erstarrte in einem Ausdruck von Überraschung, und sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen «Oh», als er den Colt Automatik fallen ließ und verzweifelt das Austrittsloch in seinem Hals zuzuhalten versuchte, aus dem Blut hervorspritzte.
Die Gestalt im Schatten hob erneut die Pistole und feuerte einen zweiten Schuss ab, der ohrenbetäubend durch die Kaverne hallte. Die obere Hälfte von Bozzas Schädel zerplatzte in einem roten Sprühregen aus Blut, Hirn und Knochensplittern. Eine Sekunde stand er da wie festgenagelt und starrte Ben fassungslos an, während bereits das Licht in seinen Augen erlosch.
Dann brach er wie vom Blitz gefällt zusammen. Er zuckte noch einige Male, als das Leben aus seinem Körper wich, dann lag er still da.
Ben starrte ungläubig auf die dunkle Gestalt, eine beinahe geisterhafte Erscheinung, die sich zwischen den schattigen Felssäulen langsam näherte. Es war eine Frau. Im flackernden Kerzenlicht konnte er ihr Gesicht nicht erkennen.
«Bist du das, Roberta?»
Doch als die Frau näher kam und ins Licht trat, sah er, dass es nicht Roberta war. Die uralte Mauser C96 war immer noch auf Bozzas Leichnam gerichtet, und ein dünner Rauchfaden trat aus dem langen, sich nach vorne verjüngenden Lauf heraus. Doch ihre Vorsicht war unnötig. Diesmal würde Franco Bozza nicht wieder aufstehen.
Goldenes Kerzenlicht fiel auf das Gesicht der Frau. Es war wie ein Schock für Ben, als er sie wiedererkannte. Es war die blinde Frau. Die Bewohnerin des Hauses, durch das Ben hierhergekommen war.
Doch sie war nicht länger blind. Die dunkle Sonnenbrille war verschwunden, und sie sah Ben aus vollkommen gesunden Augen direkt an. Um ihre Mundwinkel spielte ein rätselhaftes Lächeln.
«Wer sind Sie?», fragte Ben vollkommen verdattert.
Sie antwortete nicht. Er blickte nach unten und stellte fest, dass die Mauser direkt auf sein Herz zielte.