Kapitel 35

Ben versuchte, die Beine aus dem Bett zu schwingen. Er hatte lange genug gelegen.

Es war ein schwieriges Unterfangen, es gelang ihm nur Zentimeter um Zentimeter. Die verletzten Muskeln schmerzten beinahe unerträglich. Er biss die Zähne zusammen, als er behutsam die Füße auf den Boden stellte und sich erhob. Sein Hemd war gewaschen worden und hing ordentlich über einem Stuhl. Er benötigte lange Zeit, um sich anzuziehen.

Durch das Fenster sah er die Dächer des Dorfes und die Hügel und Berge dahinter, die sich in den klaren blauen Himmel erhoben. Er verfluchte sich innerlich dafür, dass er sich in diese Situation hatte treiben lassen. Er hatte die Gefahr unterschätzt, die mit dem Auftrag verbunden war, gleich von Anfang an. Und jetzt steckte er hier fest, in diesem abgelegenen Dorf. Er war kaum imstande, sich zu rühren oder irgendetwas Sinnvolles zu tun, während irgendwo ein sterbendes Kind auf seine Hilfe wartete. Er packte seinen Flachmann und nahm einen großen Schluck. Wenigstens dazu bin ich imstande. Er wünschte, er hätte eine ganze Flasche, oder vielleicht sogar zwei.

Dann fiel ihm Fulcanellis Journal ein. Er bückte sich steif und angelte es aus seinem Seesack. Dann legte er sich mit dem Buch zurück auf das Bett und blätterte durch die Seiten bis zu der Stelle, wo er aufgehört hatte zu lesen.

3. September 1926
 
Nun ist es tatsächlich geschehen: Der Schüler hat den Meister herausgefordert. Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich immer noch Daquins Worte in meinen Ohren, wie er mich heute im Labor zur Rede gestellt hat: Seine Augen funkelten, und die Fäuste waren in die Hüften gestemmt.
«Aber Meister!», protestierte er. «Ist das nicht selbstsüchtig von uns? Wie könnt Ihr sagen, dass es richtig ist, derart bedeutsames Wissen geheim zu halten, wo es doch so vielen Menschen helfen könnte? Seht Ihr denn nicht all das Gute, das es imstande ist zu bewerkstelligen? Überlegt doch nur, wie es alles ändern würde. Wirklich alles!»
«Nein, Nicholas», widersprach ich ihm. «Ich bin nicht selbstsüchtig. Ich bin vorsichtig. Diese Geheimnisse sind sehr bedeutsam, das stimmt. Aber sie sind zugleich auch viel zu gefährlich, um sie jemandem zu offenbaren. Einzig die Eingeweihten, die Adepten, dürfen je über dieses Wissen verfügen.»
Nicholas starrte mich wutentbrannt an. «Dann sehe ich keinen Sinn darin!», rief er entrüstet. «Ihr seid ein alter Mann, Meister. Ihr habt den größten Teil Eures Lebens mit der Suche verbracht, doch es war alles umsonst, wenn Ihr es nicht benutzt. Setzt es ein, um der Welt zu helfen.»
«Und du bist jung, Nicholas», entgegnete ich. «Zu jung, um die Welt zu verstehen, der du so dringend helfen möchtest. Nicht jeder ist so reinen Herzens, wie du es bist. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die dieses Wissen ohne Zögern zur Befriedigung ihrer eigenen Gier und zu ihrem Vorteil einsetzen würden. Nicht, um Gutes zu bewirken, sondern um Unheil über andere zu bringen.»
Auf dem Tisch neben uns lag die uralte Schriftrolle in ihrer ledernen Umhüllung. Ich nahm sie hoch und schüttelte sie vor seinem Gesicht. «Ich bin ein direkter Nachfahre der Schöpfer dieser Weisheit», erklärte ich. «Meine katharischen Vorfahren wussten, wie bedeutsam es ist, ihre Geheimnisse zu wahren, koste es, was es wolle. Sie wussten, wer danach auf der Suche war, und sie wussten auch, was geschehen würde, falls sie in falsche Hände gerieten. Sie gaben ihr Leben in dem Bemühen, dieses Wissen zu schützen.»
«Ich weiß, Meister, aber –»
«Kein Aber!», unterbrach ich ihn. «Dieses Wissen, mit dem wir ausgezeichnet wurden, bedeutet Macht, und Macht ist etwas Gefährliches. Sie korrumpiert die Menschen und zieht das Böse an. Das ist der Grund, aus dem ich dich vor der Verantwortung gewarnt habe, die dir auferlegt wurde. Und vergiss nicht – du hast einen heiligen Eid geschworen, Schweigen zu bewahren.» Ich ließ traurig den Kopf hängen und fügte leise hinzu: «Ich fürchte, ich habe dir viel zu viel enthüllt.»
«Bedeutet das, dass Ihr mir nichts mehr beibringen werdet? Was ist mit dem Rest? Was ist mit dem zweiten großen Geheimnis?»
Ich schüttelte den Kopf. «Es tut mir leid, Nicholas. Es ist einfach zu viel Wissen für jemanden, der noch so jung ist an Jahren und so unbesonnen. Ich kann nicht ungeschehen machen, was ich bereits an Schaden angerichtet habe. Aber ich werde dich nicht weiter ausbilden, bevor du nicht größere Weisheit und Reife erreicht hast.»
Bei diesen Worten stürmte er aus dem Laboratorium. Ich konnte sehen, dass er den Tränen nah war. Und auch ich spürte ein heißes Messer in meinem Herzen angesichts dessen, was nun zwischen uns gekommen war.

Ben hörte ein leises Klopfen an der Tür. Er blickte von Fulcanellis Journal auf, als die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde und Roberta den Kopf hereinstreckte.

«Wie geht es dir?», fragte sie. Sie blickte besorgt drein, als sie die Tür ganz öffnete und ein Tablett brachte.

Er klappte das Journal zu. «Schon wieder ganz gut», antwortete er.

«Hier, ich habe dir etwas zu essen gemacht.» Sie stellte ihm eine Schale mit dampfender Hühnersuppe hin. «Iss, solange sie heiß ist.»

«Wie lange war ich bewusstlos?»

«Zwei Tage.»

«Zwei Tage!» Er nahm einen raschen Schluck von seinem Whiskey und zuckte schmerzvoll zusammen bei der Bewegung.

«Solltest du nicht lieber auf das Trinken verzichten, Ben? Du hast Antibiotika bekommen.» Sie stieß einen Seufzer aus. «Iss wenigstens etwas. Du musst essen, damit du wieder zu Kräften kommst.»

«Mach ich. Kannst du mir meinen Seesack geben? Meine Zigaretten sind dadrin.»

«Rauchen tut dir im Moment nicht gut.»

«Es tut mir nie gut.»

«Schön, wie du willst. Ich hol sie dir.»

«Nein, nur …» Er bewegte sich zu abrupt, und der Schmerz drohte ihn zu übermannen. Er sank in das Kissen zurück und schloss die Augen.

Sie beugte sich vor. Als sie in dem Seesack nach den Zigaretten kramte, fiel ein kleines Objekt heraus und landete auf dem Boden. Sie bückte sich und hob es auf. Es war ein winziges Foto in einem silbernen Rahmen. Sie betrachtete das Bild und fragte sich, was es hier zu suchen hatte. Es war alt und verblasst, zerknittert und an den Rändern abgewetzt, als hätte es jahrelang in einer Brieftasche oder einem Portemonnaie gesteckt. Es zeigte ein Kind, ein süßes Mädchen von vielleicht acht oder neun Jahren mit blonden Haaren. Die Kleine hatte glänzende, intelligente Augen und ein sommersprossiges Gesicht. Sie strahlte in einem Ausdruck ungebändigten Glücks in die Kamera.

«Wer ist sie, Ben?», erkundigte sich Roberta und begann unwillkürlich zu lächeln. «Sie ist hinreißend.» Sie drehte sich zu ihm um, und ihr verging das Lachen.

Er starrte sie mit einem Ausdruck von kalter Wut an, wie sie es noch nie gesehen hatte.

«Leg das sofort wieder zurück und mach, dass du verschwindest!», schrie er sie an.

 

Pater Pascal Cambriel bemerkte den Ausdruck von Verletztheit und Ärger in Robertas Gesicht, als sie die Treppe herunterkam. Er legte ihr eine Hand auf den Arm. «Manchmal, wenn ein Mann unter Schmerzen leidet, schlägt er blindlings um sich und sagt und tut Dinge, die er nicht so meint», erklärte er leise.

«Nur weil er verletzt ist, hat er noch lange nicht das Recht, sich wie ein Arsch–» Sie fing sich wieder. «Ich habe doch nur versucht, ihm zu helfen.»

«Das war nicht der Schmerz, den ich meine», erwiderte der Geistliche. «Der wirkliche Schmerz ist in seinem Herzen, in seiner Seele, nicht in seinen Wunden.» Er lächelte warm. «Ich werde mit ihm reden.»

Er ging in Bens Zimmer und setzte sich zu ihm auf die Bettkante. Ben lag da, hielt seinen Flachmann umklammert und starrte an die Decke. Der Whiskey benebelte seinen Schmerz ein wenig. Es war ihm irgendwie gelungen, an seine Zigaretten zu kommen, hatte dann aber feststellen müssen, dass die Packung fast leer war.

«Du hast nichts dagegen, wenn ich dir ein wenig Gesellschaft leiste?», fragte Pater Pascal.

Ben schüttelte den Kopf.

Der Geistliche saß einige Augenblicke schweigend da, dann redete er leise und freundlich zu Ben. «Mein Sohn, Roberta hat mir erzählt, was sie von deiner Arbeit weiß. Du hast eine Berufung, jenen zu helfen, die in Not sind – eine wahrhaft noble und ehrenvolle Beschäftigung. Auch ich habe eine Berufung, die ich erfülle, so gut ich es kann. Ich muss gestehen, sie ist weniger dramatisch und weniger heldenhaft als die deine, doch die Bestimmung, die der Herr mir auferlegt hat, ist nichtsdestotrotz eine wichtige Pflicht. Ich helfe den Menschen dabei, sich von ihrem Leid zu befreien. Erlösung zu finden. Gott zu finden. Für manche geht es einfach darum, Frieden zu finden in sich selbst. In welcher Form auch immer er daherkommt.»

«Das hier ist mein Frieden, Vater», murmelte Ben und hob seinen Flachmann.

«Du weißt, dass das nicht genug ist, mein Sohn. Es wird niemals genug sein. Der Alkohol kann dir nicht helfen, er verletzt dich nur noch mehr. Er treibt den Schmerz tiefer in dein Herz. Der Schmerz ist wie ein vergifteter Dorn. Wenn er nicht herausgezogen wird, beginnt er zu eitern wie eine schlimme Wunde. Und es ist nicht so eine einfache Wunde, die sich allein durch die Verabreichung von ein wenig Penicillin für Ziegen heilen lässt.»

Ben lachte bitter. «Ja, Pater. Da haben Sie wahrscheinlich recht.»

«Du hast vielen Menschen geholfen, will mir scheinen», fuhr Cambriel fort. «Und doch setzt du den eingeschlagenen Weg der Selbstzerstörung fort und suchst Zuflucht beim Alkohol, diesem falschen Freund. Wenn die Freude darüber, anderen geholfen zu haben, abgeklungen ist, kehrt der Schmerz kurze Zeit später zurück – und schlimmer als zuvor, nicht wahr?»

Ben schwieg.

«Ich denke, du kennst die Antwort.»

«Hören Sie», sagte Ben, «ich bin Ihnen wirklich dankbar für alles, was Sie für mich getan haben. Aber ich will keine Predigten mehr hören. Dieser Teil von mir ist vor langer Zeit gestorben. Bei allem Respekt für Sie, Pater, doch wenn Sie hergekommen sind, um mir eine Predigt zu halten, dann verschwenden Sie Ihre Zeit.»

Sie saßen schweigend da.

«Wer ist Ruth?», fragte der Geistliche unvermittelt.

Ben sah ihn scharf an. «Hat Roberta Ihnen das nicht erzählt? Das kleine Mädchen, das im Sterben liegt. Die Enkeltochter meines Klienten. Das Kind, das ich zu retten versuche. Wenn es nicht schon verdammt nochmal zu spät dazu ist.»

«Nein, Ben, diese Ruth meine ich nicht. Wer ist die andere Ruth? Die Ruth aus deinen Träumen?»

Ben spürte, wie sein Blut kalt wurde und sein Puls schneller ging. «Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Pater», antwortete er mit zugeschnürter Kehle. «Es gibt keine Ruth in meinen Träumen.»

«Wenn ein Mann zwei Nächte lang bei einem fiebernden Patienten sitzt, dann findet er womöglich Dinge über ihn heraus, über die man nicht offen spricht», sagte der Priester. «Du hast ein Geheimnis, Ben. Wer ist Ruth? Wer war Ruth?»

Ben stieß einen tiefen Seufzer aus und hob den Flachmann an die Lippen.

«Warum willst du dir nicht von mir helfen lassen?», fragte der Priester sanft. «Komm, mein Sohn. Teil deine Bürde mit mir.»

Nach langem Zögern begann Ben mit leiser Stimme zu reden – abgehackt und monoton. Seine Augen starrten ins Leere, während er zum millionsten Mal die vertrauten, schmerzvollen Bilder vor seinem geistigen Auge abspulte.

«Ich war sechzehn. Sie war meine Schwester. Sie war erst neun … Wir standen uns so nah … Wir waren Seelenverwandte. Sie war der einzige Mensch, den ich jemals aus ganzem Herzen geliebt habe.» Er lächelte bitter. «Sie war wie der Sonnenschein, Pater. Sie hätten sie sehen sollen. Für mich war sie der Grund, an den Schöpfer zu glauben. Es mag Sie überraschen, aber es gab einmal eine Zeit, da wollte ich Priester werden.»

Pascal Cambriel lauschte aufmerksam. «Sprich weiter, mein Sohn.»

«Meine Eltern flogen mit uns in den Urlaub, nach Marokko», fuhr Ben fort. «Wir wohnten in einem großen Hotel. Eines Tages beschlossen meine Eltern, ein Museum zu besuchen. Sie ließen uns im Hotel zurück. Sie sagten zu mir, dass ich auf Ruth aufpassen und das Hotelgrundstück unter keinen Umständen verlassen sollte.» Er hielt inne, um seine letzte Zigarette anzustecken. «Eine Schweizer Familie wohnte im selben Hotel. Sie hatte eine Tochter, ungefähr ein Jahr älter als ich. Ihr Name war Martina.» Obwohl er zum ersten Mal seit Jahren darüber redete, konnte er sich an alles genau erinnern. Er sah Martinas Gesicht vor sich. «Sie war sehr schön. Ich mochte sie von Anfang an, und sie fragte mich, ob ich Lust hätte, mit ihr auszugehen. Sie wollte einen Souk besuchen, ohne dass ihre Eltern dabei waren. Zuerst sagte ich nein – ich müsste im Hotel bleiben und auf meine Schwester aufpassen. Doch Martina flog am nächsten Tag nach Hause, zurück in die Schweiz. Und sie sagte zu mir, wenn ich mitginge, würde sie, sobald wir zurück wären … Na ja. Die Versuchung war da. Ich überlegte, dass ich Ruth ja mitnehmen konnte und dass meine Eltern es nie erfahren würden.»

«Sprich weiter, mein Sohn», ermutigte ihn der Priester.

«Wir verließen das Hotel. Wir wanderten über den Markt. Es war voll, überall Stände, Schlangenbeschwörer, all diese seltsamen Dinge und die Musik und die Gerüche.»

Pascal Cambriel nickte. «Ich war vor vielen Jahren im Krieg, in Algerien. Es ist eine fremdartige, unverständliche Welt für uns Europäer.»

«Es war jedenfalls großartig», fuhr Ben fort. «Ich war gerne in Martinas Gesellschaft, und sie hielt meine Hand, während wir uns alle Stände ansahen. Trotzdem behielt ich Ruth ununterbrochen im Auge. Sie blieb die ganze Zeit direkt neben mir. Dann entdeckte Martina ein silbernes Schmuckkästchen, das ihr gefiel. Sie hatte nicht genug Geld, und ich sagte, ich würde es ihr kaufen. Ich drehte Ruth den Rücken zu, während ich das Geld abzählte. Nur für einen kurzen Augenblick. Ich bezahlte das Geschenk für Martina, und sie umarmte mich.» Er stockte erneut. Sein Hals war trocken. Er wollte erneut aus dem Flachmann trinken.

Der Geistliche hielt seinen Arm fest, sanft, doch entschieden. «Wir wollen diesen trügerischen Freund für einen Moment außen vor lassen.»

Ben nickte und schluckte mühsam. «Ich weiß nicht, wie es so schnell passieren konnte. Ich habe sie nur für ein paar Sekunden aus den Augen gelassen … aber sie war weg. Verschwunden. Einfach so.» Er zuckte die Schultern. «Wie vom Erdboden verschluckt.» Sein Herz fühlte sich an wie eine Blase, die jeden Moment zerspringen konnte. Er verbarg das Gesicht in den Händen, schüttelte den Kopf. «Sie war einfach nicht mehr da. Ich habe keinen einzigen Schrei gehört, nichts. Alles ringsum war völlig normal. Als hätte ich die ganze Geschichte nur geträumt. Als hätte Ruth nie existiert.»

«Sie ist nicht einfach davonspaziert.»

Ben nahm den Kopf aus den Händen und richtete sich auf. «Nein. Es ist ein lukratives Geschäft. Die Leute, die Kinder rauben, sind Profis. Experten. Wir haben alles unternommen, was in unserer Macht stand. Polizei, Konsulat, Monate der Suche. Wir fanden nicht eine Spur.»

Die Blase platzte. Er hatte es so lange zurückgehalten, doch jetzt war irgendetwas in ihm durchbrochen. Ein Damm. Er hatte seit damals nicht mehr geweint, außer in seinen Träumen.

«Und … und es war alles meine Schuld. Weil ich ihr den Rücken zugewandt habe. Ich habe sie im Stich gelassen.»

«Du hast seit damals nie wieder einen Menschen geliebt», sagte Pater Pascal. Es war keine Frage.

«Ich weiß nicht, wie man liebt», offenbarte Ben. Er sammelte sich allmählich wieder. «Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal glücklich war. Ich weiß nicht, wie sich das anfühlt.»

«Gott liebt dich, Benedict.»

«Gott ist kein besserer Freund als der Whiskey.»

«Du hast den Glauben verloren.»

«Ich habe damals versucht, ihn nicht zu verlieren. Zuerst betete ich jeden Tag, dass sie gefunden würde. Dann betete ich um Vergebung. Ich wusste, dass Gott mich nicht erhörte, aber ich glaubte weiter und betete weiter.»

«Und was war mit deiner Familie?»

«Meine Mutter hat mir nie verziehen. Sie ertrug meinen Anblick nicht mehr. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Dann verfiel sie in tiefe Depressionen. Eines Tages hatte sie sich im Schlafzimmer eingeschlossen. Mein Vater und ich riefen nach ihr und hämmerten gegen die Tür, doch sie antwortete nicht. Sie hatte eine große Überdosis Schlaftabletten genommen. Ich war achtzehn und hatte gerade mit meinem Theologiestudium angefangen.»

Pascal nickte traurig. «Und dein Vater?»

«Er verfiel zusehends, nachdem wir Ruth verloren hatten. Mutters Tod beschleunigte die Sache noch. Mein einziger Trost war, dass ich glaubte, er hätte mir verziehen.» Ben seufzte. «Ich war zu Hause, in den Ferien. Ich ging in sein Arbeitszimmer. Ich weiß nicht mal mehr, warum. Ich glaube, ich brauchte Papier. Er war nicht da. Ich fand sein Tagebuch.»

«Du hast es gelesen?»

«Und ich erfuhr, was er wirklich dachte. Die Wahrheit war – er hasste mich. Er gab mir die Schuld für alles. Ich hatte es nicht verdient zu leben, nach allem, was ich über meine Familie gebracht hatte. Danach konnte ich nicht zurück zur Universität. Ich verlor das Interesse an allem. Kurze Zeit später starb auch mein Vater.»

«Was hast du danach getan, mein Sohn?»

«An das erste Jahr erinnere ich mich nicht so gut. Ich bin durch Europa getrampt. Habe versucht, mich abzulenken. Nach einer Weile kehrte ich heim, verkaufte das Haus und zog mit Winnie, unserer Haushälterin, nach Irland. Dann ging ich zur Armee. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich hasste mich. Ich war voller Wut, und ich packte jedes Gramm davon in meine Ausbildung. Ich war der disziplinierteste und motivierteste Rekrut, den sie je gesehen hatten. Sie hatten ja keine Ahnung, was dahintersteckte. Nach einer Weile wurde ich ein sehr guter Soldat. Ich hatte das gewisse Etwas. Die gewisse Härte. Ich war wild, und das nutzten sie für ihre Zwecke aus. Es endete damit, dass ich eine Menge Dinge tat, über die ich nicht so gerne reden möchte.»

Er zögerte, und seine Gedanken füllten sich mit Erinnerungen, Geräuschen, Bildern, Gerüchen. Er schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben.

«Am Ende wurde mir klar, dass die Armee nicht das war, was ich wollte», fuhr Ben fort. «Ich hasste alles, wofür sie stand. Ich kehrte nach Hause zurück, versuchte mein Leben in den Griff zu bekommen. Irgendwann meldete sich jemand bei mir – ich sollte einen vermissten Teenager suchen. Das war in Süditalien. Als es vorbei war und das Mädchen sich in Sicherheit befand, wurde mir klar, dass ich meine Berufung gefunden hatte.» Er hob den Blick und sah den Geistlichen an. «Das war vor vier Jahren.»

«Indem du verschwundene Angehörige zu denen zurückbringst, die sie lieben, versuchst du, die Wunden zu heilen, die Ruths Verlust geschlagen hat.»

Ben nickte. «Jedes Mal, wenn ich jemanden sicher nach Hause zurückgebracht hatte, trieb es mich weiter zum nächsten Auftrag. Es war wie eine Sucht. Das ist es immer noch.»

Pascal Cambriel lächelte. «Du hast sehr viel Schmerz erlitten, mein Freund. Ich freue mich, dass du mir genügend vertraust, um darüber zu sprechen, Benedict. Vertrauen ist ein großer Heiler. Vertrauen und Zeit.»

«Die Zeit hat nichts geheilt», entgegnete Ben. «Der Schmerz wird dumpfer, aber er sitzt immer noch ganz tief.»

«Du glaubst, indem du das Heilmittel für das kleine Mädchen Ruth findest, kannst du den Dämon der Schuld vertreiben.»

«Ich hätte den Auftrag sonst nicht angenommen.»

«Ich hoffe, du hast Erfolg, mein Sohn, um des Mädchens willen und um deiner selbst willen. Aber ich denke, dass wahre Erlösung, wahrer Frieden von tiefer innen kommen muss. Du musst lernen zu vertrauen. Dein Herz zu öffnen und dich selbst wieder zu lieben. Nur dann werden deine Wunden heilen, mein Sohn.»

«Wie Sie das sagen, klingt es ganz einfach.»

Der Priester lächelte. «Du hast dich bereits auf den Pfad begeben, indem du mir dein Geheimnis gebeichtet hast, mein Sohn. Die Erlösung liegt nicht darin, deine Gefühle zu begraben. Es mag schmerzen, das Gift aus der Wunde zu saugen, weil wir dabei unserem Dämon von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Aber wenn er erst heraus und freigelassen ist, finden wir unseren Frieden.»

 

Wachs tropfte Ben auf die Hand, als er in die kleine Kirche von Saint-Jean schlich. Die Tür war niemals abgesperrt, nicht einmal um zwei Uhr morgens. Seine Beine waren noch immer schwach und zittrig, als er nach vorn zum Altar ging. Überall ringsum tanzten die Schatten an den Wänden des leeren, stillen Gebäudes. Direkt vor dem Altar sank er auf die Knie, und das Licht der Kerze fiel auf den glänzenden Leib der Christusstatue über ihm.

Ben senkte den Kopf und betete.

 

Die Spur führte Luc Simon nach Süden. Sie war kaum zu übersehen – Leichen und Kugeln pflasterten den Weg.

Ein Bauer in Le Puy hatte Schüsse gemeldet und zwei Fahrzeuge gesehen, die sich auf Feldwegen eine Verfolgungsjagd geliefert hatten. Als die Polizei die Stelle entdeckte, wo der Schusswechsel stattgefunden hatte, fand sie drei Tote, zwei von Kugeln durchsiebte Wagen, Waffen und überall auf der Erde Patronenhülsen. Der Peugeot war nicht auf einen Besitzer zugelassen, und der BMW war vor mehreren Tagen in Lyon als gestohlen gemeldet worden.

Interessanter jedoch waren die Fingerabdrücke, die sie in dem silbernen Peugeot mit der Pariser Nummer fanden. Sie gehörten Roberta Ryder. Und unter den vielen Patronenhülsen im Gras gab es achtzehn Stück vom Kaliber 9 mm, die aus demselben Browning stammten wie jene, die in dem schwarzen Mercedes und am Ufer der Seine gefunden worden waren.

Genauso gut hätte Ben Hope seinen Namen in einen Baum ritzen können.

Das Fulcanelli-Komplott
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