Kapitel 12

Als der Mann namens Saul sich vor einigen Monaten zum ersten Mal mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, war Michel Zardi völlig unklar gewesen, was für ein Mensch das war oder was er von ihm wollte. Michel wurde nur mitgeteilt, dass er Robertas Fortschritte beobachten und regelmäßige Berichte an eine bestimmte Adresse senden sollte.

Doch er war kein Idiot. Er war von Anfang an bei Robertas Projekt dabei gewesen, und er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von seinem potenziellen Wert, sollte es ihr gelingen, jemanden zu überzeugen, die Sache ernst zu nehmen. Und jetzt sah es so aus, als wäre genau dieser Fall eingetreten – auch wenn es nicht die Art von Aufmerksamkeit war, die Roberta sich gewünscht hätte. Michel war klug genug, keine Fragen zu stellen. Was sie von ihm wollten, war nicht sehr schwer, und sie zahlten eine Menge Geld.

Genügend Geld, um Begehrlichkeiten in ihm zu wecken. Ihm kam der Gedanke, dass er nicht den Rest seines Lebens als unterbezahlter Labortechniker verbringen wollte – insbesondere jetzt, nachdem Roberta gezwungen war, ihre Forschung in der eigenen Wohnung fortzuführen. Das Projekt kam nicht richtig voran, und sie wussten es beide. Er kannte sie außerdem gut genug, um zu wissen, dass sie die Wahrheit niemals akzeptieren würde. Ihr sturer Stolz ließ sie beharrlich weitermachen, doch er war es auch, der sie beide letztlich zu Fall bringen würde.

Lange Zeit hatte Michel mit dem Gedanken gespielt, zu kündigen und sich woanders eine besser bezahlte Arbeit zu suchen. Gerade als er ihr hatte sagen wollen, dass er aussteigen würde, war wie aus dem Nichts Saul aufgetaucht, und plötzlich hatte alles ganz anders ausgesehen. Die Aussicht auf eine stabilere, interessante Zukunft mit einem Job für Saul und seine Leute, wer auch immer sie waren, ließ seine Stimmung beträchtlich steigen. Und sie trug dazu bei, sich von der amerikanischen Wissenschaftlerin zu distanzieren, von der er früher einmal geglaubt hatte, sie wäre seine Freundin. Er musste nur alle zwei Wochen seinen Bericht absenden, und am Ende eines jeden Monats lag ein mit Bargeld vollgestopfter Umschlag in seinem Briefkasten. War das Leben nicht schön?

 

Es war eine Pyramide der Macht, breit an der Basis, schmal an der Spitze. An der Basis bestand sie aus zahllosen unwissenden, unbedeutenden Individuen wie Michel Zardi – kleinen Männern, deren Loyalität billig zu erkaufen war. Die Spitze der Pyramide wurde von einem Mann und seiner ausgewählten Gruppe von engen Verbündeten gebildet. Sie waren die Einzigen, die die wahre Natur, den Zweck und die Identität der Organisation in vollem Ausmaß kannten – einer Organisation, die ihre Aktivitäten sorgfältig vor neugierigen Augen verborgen hielt.

Zwei der Männer an der Pyramidenspitze saßen nun in einem Raum beieinander und redeten. Es war kein gewöhnliches Zimmer, sondern ein Kuppelsaal in der Mitte einer eleganten Renaissancevilla ein wenig außerhalb von Rom.

Der große, respekteinflößende Mann, der am Fenster stand, hieß Massimiliano Usberti. Der andere, Fabrizio Severini, war sein Privatsekretär und die einzige Person, der Usberti vollkommen vertraute und mit der er vollkommen offen redete.

«In fünf Jahren wird unsere Organisation sehr viel mächtiger als heute sein, mein Freund», verkündete Usberti.

Severini trank einen Schluck Wein aus einem Kristallglas. «Wir sind bereits sehr mächtig», sagte er mit einem mahnenden Unterton in der Stimme. «Wie willst du unsere Aktivitäten vor den anderen rings um uns verschleiern, wenn wir noch größer und mächtiger werden?»

«Wenn meine Pläne umgesetzt sind, müssen wir uns keine Gedanken mehr um Verschleierung machen», entgegnete Usberti. «Die Position, in der wir uns befinden und die uns zur Geheimhaltung zwingt, ist lediglich eine vorübergehende Phase in unserer Entwicklung.»

Fabrizio stand Massimiliano Usberti näher als jeder andere lebende Mensch. Sie waren beide Ende fünfzig und kannten sich seit vielen, vielen Jahren. Als sie sich kennengelernt hatten, war Usberti ein junger Priester unter vielen gewesen, wenn auch ein stark getriebener. Außerdem hatte er damals schon den gewaltigen Reichtum seiner adligen Familie im Rücken, der ihm half, seine ehrgeizigen Ziele umzusetzen. Doch nicht einmal Fabrizio wusste, wie Usbertis Pläne letztendlich aussahen: was das Endziel war, von dem er so oft im Lauf der Jahre phantasiert hatte. Er hakte nicht besonders hart nach und bedrängte ihn auch nicht offen. Ihre Freundschaft hatte sich im Verlauf der Jahre gewandelt, je mehr Usberti an Macht und Selbstbewusstsein gewonnen hatte – und an Fanatismus. Den letzten Ausdruck benutzte Fabrizio nur ungern, doch es war der einzige, der ihm passend erschien. Er wusste, dass sein Freund – oder besser, sein Herr und Meister, zu dem er nach und nach geworden war – ein äußerst skrupelloser Mensch war, der vor überhaupt nichts haltmachte. Er fürchtete ihn, und er wusste, dass Usberti diese Tatsache insgeheim genoss.

Usberti löste sich vom Fenster und kehrte zu seinem Sekretär unter der großen Kuppel zurück. Auf dem kunstvollen, mit Blattgold überzogenen Holztisch aus dem siebzehnten Jahrhundert stand ein Laptop, auf dessen Bildschirm eine Diashow lief. Die Fotos zeigten einen Mann und eine Frau, die sich miteinander unterhielten. Das Gesicht der Frau war vertraut: Dr. Roberta Ryder. Die demnächst verstorbene Dr. Roberta Ryder.

Der Mann auf den Fotos war jemand, den Usberti niemals zu sehen gehofft hatte. Er wusste bereits alles über den Engländer, was es zu wissen gab – einer seiner Informanten hatte ihm erzählt, dass ein professioneller Ermittler kommen und herumschnüffeln würde. Der Informant hatte ihn gewarnt, dass Benedict Hope ein ehemaliger Angehöriger einer militärischen Spezialeinheit war und über ganz bestimmte Talente verfügte. Dies schien sich zu bestätigen, als der bezahlte Killer, den sie auf ihn angesetzt hatten, nicht wieder zurückgekommen war und sich auch nicht gemeldet hatte. Niemand wusste etwas von seinem Verbleib, bis eine von Usbertis Quellen in Paris angerufen hatte: In den Nachrichten wäre berichtet worden, ein Mann hätte sich über die Brüstung der Kathedrale Notre-Dame geworfen. Es war ihr Mann gewesen.

Usberti hatte nicht erwartet, dass Hope so weit kommen würde. Andererseits machte es ihn nicht übermäßig nervös. Viel weiter würde er nicht mehr kommen.

«Monsignore …», begann Severini nervös und rang die Hände.

«Ja, mein Freund?»

«Wird Gott uns vergeben, was wir tun?»

Usberti sah ihn scharf an. «Selbstverständlich wird Er das! Was wir tun, tun wir, um Sein Haus zu schützen.»

Als Severini gegangen war, trat der Erzbischof vor die alte, goldgebundene Bibel auf dem antiken Lesepult.

Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß: Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit.
Und er war angetan mit einem Gewand, das mit Blut getränkt war, und sein Name ist: das Wort Gottes. Und ihm folgte das Heer des Himmels auf weißen Pferden, angetan mit weißem, reinem Leinen.
Und er führte ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlage; und dass er sie regiere mit eisernem Stabe; und er tritt die Kelter voll des grimmigen Zorns und der Rache des Allmächtigen Gottes.

Usberti klappte das Buch zu. Er starrte einen Moment ins Leere, und auf seinem Gesicht erschien ein grimmiger, entschlossener Ausdruck.

Dann ergriff er mit ernstem Nicken den Telefonhörer und wählte eine Nummer.

Das Fulcanelli-Komplott
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