Kapitel 37

Am dritten Tag fühlte sich Ben wieder stark genug, um nach unten zu gehen und sich draußen in die herbstliche Mittagssonne zu setzen. In der Ferne sah er Roberta beim Füttern der Hennen. Sie ging ihm demonstrativ aus dem Weg. Er fühlte sich schlecht; er wusste, dass er ihre Gefühle verletzt hatte. Er saß da, trank von dem Kräutertee, den Marie-Claire für ihn zubereitet hatte, und las weiter in Fulcanellis Journal.

19. September 1926
 
Ich fange an zu bereuen, dass ich Nicholas Daquin so blind vertraut habe. Ich schreibe diese Worte mit schwerem Herzen und in dem sicheren Wissen, dass ich mich zum Narren gemacht habe. Mein einziger Trost ist die Tatsache, dass ich ihm nicht sämtliche Erkenntnisse aus den Artefakten der Katharer verraten habe.
Gestern haben sich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Gegen all meine Prinzipien und zu meiner ewigen Schande habe ich einen Detektiv eingeschaltet, einen diskreten, vertrauenswürdigen Mann namens Corot. Er soll Nicholas überallhin folgen und mir seine sämtlichen Bewegungen berichten. Wie es scheint, ist mein junger Lehrling schon seit geraumer Zeit Mitglied in einer Pariser Verbindung, die sich «Die Wächter» nennt. Selbstverständlich wusste ich schon früher von der Existenz dieses kleinen Zirkels von Intellektuellen, Philosophen und Initiierten in das esoterische Wissen. Ich wusste auch, warum sich Nicholas zu ihnen hingezogen fühlte. Das Ziel der Wächter besteht darin, sich aus den Beschränkungen der geheimen alchemistischen Tradition zu lösen. Bei ihren monatlichen Treffen in einem Zimmer über dem Buchladen von Chacornac diskutieren sie darüber, wie die Früchte alchemistischen Wissens in die moderne Wissenschaft eingebracht und zum Nutzen der Menschheit verwendet werden können. Für einen jungen Menschen wie Nicholas repräsentieren sie die Zukunft, das Fundament einer neuen Ära. Ich verstehe sehr gut, wie hin- und hergerissen er sich fühlen muss zwischen ihrer progressiven Sicht einer neuen Alchemie und meiner Position, die er als altmodisch, überkommen und misstrauisch betrachtet.
Solche jugendliche Frische und Aufrichtigkeit darf man nicht geringschätzen. Doch was Corot mir sonst noch berichtet hat, gibt mir Anlass zu großer Besorgnis. Durch seine Verbindung zu den Wächtern hat Nicholas einen neuen Freund gefunden. Ich weiß wenig über diesen Mann, außer dass sein Name Rudolf ist, dass er das Okkulte studiert und dass sie ihn, nach seinem Geburtsort in Ägypten, den «Alexandriner» nennen.
Corot hat Nicholas mehrfach bei Treffen mit diesem Rudolf observiert und gesehen, wie die beiden in Cafés gesessen und endlos lange Diskussionen geführt haben. Gestern folgte er ihnen in ein teures Restaurant und konnte einen Teil ihrer Konversation belauschen, da sie draußen auf der Terrasse saßen.
Rudolf schenkte meinem jungen Lehrling ein Glas Champagner nach dem anderen ein. Es ist offensichtlich, dass er versuchte, seine Zunge zu lösen.
«Aber es ist die Wahrheit, weißt du?», sagte Rudolf, während Corot an einem Nachbartisch heimlich Notizen anfertigte. «Wenn Fulcanelli wirklich an die Macht seiner Kenntnisse glaubte, würde er nicht versuchen, einen seiner vielversprechendsten Schüler zu behindern.» Nach diesen Worten füllte er Nicholas’ Glas bis zum Rand.
«Ich bin nicht an solche Schwelgerei gewöhnt», hörte Corot meinen Nicholas sagen.
«Eines Tages wirst du alle Schwelgerei genießen, die du dir jemals wünschen kannst», versprach Rudolf.
Nicholas runzelte die Stirn. «Ich bin nicht auf Ruhm und Berühmtheit aus», erwiderte er. «Ich möchte meine Kenntnisse nutzen, um den Menschen zu helfen, weiter nichts. Das ist es ja gerade, was ich nicht verstehe bei meinem Meister. Warum er glaubt, dass das so schlecht ist.»
«Deine Selbstlosigkeit ist aller Ehren wert, mein Freund», erklärte Rudolf. «Vielleicht kann ich dir helfen. Ich kenne eine Reihe von einflussreichen Leuten.»
«Tatsächlich?», fragte Nicholas. «Aber es würde bedeuten, dass ich mein Verschwiegenheitsgelübde brechen müsste. Du weißt, dass ich oft daran gedacht habe – aber ich bin immer noch nicht zu einer Entscheidung gekommen.»
«Du solltest auf dein Gefühl vertrauen, junger Freund», sagte Rudolf. «Welches Recht hat dein Lehrmeister, dich daran zu hindern, dass du dein Schicksal erfüllst?»
«Mein Schicksal …», echote Nicholas.
Rudolf lächelte. «Männer des Schicksals sind eine seltene und bewundernswürdige Sorte. Wenn ich mich nicht irre in Bezug auf dich, dann habe ich das Privileg, jetzt schon zwei solcher Männer in meinem Leben kennengelernt zu haben.» Er schenkte den letzten Champagner aus. «Ich kenne einen Mann, einen Visionär, der die gleichen Ideale hat wie du. Ich habe ihm von dir erzählt, Nicholas, und er denkt wie ich, dass du eine wichtige Rolle spielen könntest bei der Erschaffung einer neuen, wundervollen Zukunft für die gesamte Menschheit. Eines Tages wirst du ihn kennenlernen.»
Nicholas leerte sein Glas in großen Schlucken und stellte es auf den Tisch zurück. Er atmete tief durch. «Also schön. Ich habe mich entschieden. Ich werde dir anvertrauen, was ich weiß. Ich will endlich, dass sich etwas ändert.»
«Ich fühle mich geehrt», sagte Rudolf mit einer knappen Verneigung.
Nicholas beugte sich in seinem Stuhl vor. «Wenn du nur wüsstest, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, mit jemandem über dieses Wissen zu sprechen. Es gibt zwei bedeutende Geheimnisse, die beide in einem antiken, verschlüsselten Dokument enthüllt werden. Mein Meister hat es entdeckt, im Süden, in den Ruinen einer alten Burg.»
«Und er hat dir diese Geheimnisse gezeigt?», fragte Rudolf begierig.
«Er mir eins davon gezeigt. Ich habe seine Macht mit eigenen Augen gesehen. Es ist wirklich erstaunlich. Ich habe das Wissen, und ich weiß, wie ich es einsetzen muss. Ich kann es dir zeigen.»
«Was ist mit dem zweiten Geheimnis?»
«Sein Potenzial ist noch unglaublicher», erklärte Nicholas. «Allerdings gibt es ein Problem. Fulcanelli weigert sich, es mir zu verraten.»
Rudolf legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. «Ich bin sicher, du wirst es irgendwann erfahren», sagte er mit einem Lächeln. «Warum erzählst du mir nicht einstweilen mehr über dieses erstaunliche erste Geheimnis? Vielleicht sollten wir unsere Unterhaltung in meiner Wohnung fortsetzen?»

Ben legte das Journal zur Seite. Wer war dieser «Alexandriner»? Was hatte Daquin ihm erzählt? Und wer war dieser zweite Visionär, den Rudolf kannte und den er Nicholas vorzustellen versprochen hatte?

Wahrscheinlich irgend so ein schrulliger Irrer wie Gaston Clément, dachte Ben. Er blätterte durch das Journal und stellte fest, dass der gesamte letzte Teil der Seiten stark verrottet war. Es war schwer zu sagen, wie viele Seiten fehlten. Ben versuchte den letzten, beinahe unkenntlichen Eintrag im Journal zu entziffern. Er war unmittelbar vor Fulcanellis Verschwinden niedergeschrieben worden.

23. Dezember 1926
 
Alles ist verloren. Meine geliebte Frau Christina wurde ermordet. Daquins Verrat hat unser kostbares Wissen in die Hände des Alexandriners gelegt. Möge Gott mir vergeben. Ich habe zugelassen, dass es so weit kommen konnte. Ich fürchte um so viel mehr als um mein eigenes Leben. Das Schreckliche, das diese Männer anzurichten imstande sind, ist unaussprechlich.
Meine Pläne sind in die Wege geleitet. Ich werde Paris auf der Stelle verlassen, zusammen mit Yvette, meiner geliebten Tochter, die nun alles ist, was ich noch habe. Alles andere überlasse ich meinem treuen Gehilfen Jacques Clément. Ich habe ihn gewarnt, dass er ebenfalls Vorsichtsmaßnahmen ergreifen muss. Ich für meinen Teil werde nicht zurückkehren.

Das war es also. Irgendwie hatte Daquins Verrat an Fulcanelli zu einer Katastrophe geführt. Alles schien auf diesen mysteriösen Rudolf hinzudeuten, diesen «Alexandriner». Hatte er Fulcanellis Frau ermordet? Und mehr noch, wohin war der Alchemist von Paris aus gegangen? Er war so hastig aus Paris aufgebrochen, dass er sogar sein Tagebuch zurückgelassen hatte.

«Was für ein schöner Tag», sagte eine bekannte Stimme und riss Ben aus seinen Gedanken. «Darf ich mich zu dir setzen?»

«Hallo, Pater.» Ben klappte das Journal zu.

Pascal Cambriel setzte sich zu ihm und schenkte sich ein Glas Wasser aus einem Steinzeugkrug ein. «Du siehst heute schon wesentlich besser aus, mein Sohn.»

«Danke. Ich fühle mich auch besser.»

«Gut.» Der Priester lächelte. «Gestern hast du mir eine große Ehre erwiesen, indem du mir dein Geheimnis anvertraut hast. Es wird nie über meine Lippen kommen, sei versichert.» Er zögerte kurz. «Jetzt bin ich an der Reihe, denke ich. Auch ich habe ein kleines Geheimnis.»

«Ich kann Ihnen sicher nicht annähernd so viel Trost geben wie Sie mir gestern», meinte Ben.

«Und doch denke ich, mein Geheimnis wird dich interessieren. Es betrifft dich, auf gewisse Weise.»

«Wie das?»

«Du bist hierhergekommen, weil du nach mir gesucht hast. Aber in Wirklichkeit suchst du nach Klaus Rheinfeld, nicht wahr? Roberta hat es mir erzählt.»

«Wissen Sie, wo er ist?»

Der Priester nickte. «Lass mich von vorn erzählen. Wenn du wusstest, dass du nach mir suchen musst, dann musst du auch bereits gewusst haben, dass ich den armen Teufel gefunden habe.»

«Es war eine Schlagzeile in einer alten Zeitung.»

«Er schien vollkommen den Verstand verloren zu haben», erklärte Pascal Cambriel traurig. «Als ich sah, was für schreckliche Schnitte er sich selbst zugefügt hatte, überall am Leib, dachte ich im ersten Moment, das muss das Werk des Teufels sein.» Er bekreuzigte sich mechanisch, indem er Stirn, Brust und Schultern berührte. «Und du weißt wahrscheinlich auch, dass ich den Kranken aufgenommen und gepflegt habe und dass er fortgebracht und in eine Anstalt eingewiesen wurde.»

«Wohin hat man ihn gebracht?»

«Geduld, mein Sohn. Geduld ist eine große Tugend. Ich komme schon noch dahin. Lass mich fortfahren … Was du nicht weißt, was wahrscheinlich niemand weiß außer mir und dem armen Tropf, ist die Natur des Instruments, mit dem Rheinfeld sich diese grässlichen Wunden zugefügt hat. Das ist mein Geheimnis.» Sein Blick ging in weite Ferne, als er sich erinnerte. «Es war eine schlimme Nacht – jene Nacht, in der Rheinfeld in Saint-Jean auftauchte. Ein wilder, unbarmherziger Sturm tobte. Ich folgte Rheinfeld in den Wald, dort drüben …» Er zeigte zu der Stelle. «Ich sah, dass er ein Messer hatte, einen höchst eigenartigen Dolch. Im ersten Moment dachte ich, er würde mich damit töten. Stattdessen musste ich voller Grauen mit ansehen, wie der arme Kerl die Klinge gegen sich selbst richtete. Ich begreife immer noch nicht, wie er dazu imstande war. Sein Geisteszustand ist mir ein vollkommenes Rätsel. Wie dem auch sei, kurz darauf wurde er bewusstlos, und ich trug ihn zum Haus. Wir taten für ihn in jener Nacht, was wir konnten. Er war völlig von Sinnen. Erst als die Behörden früh am nächsten Morgen kamen, um ihn zu holen, fiel mir der Dolch wieder ein, der im Wald liegengeblieben war. Ich kehrte zu der Stelle zurück und fand ihn zwischen den Blättern am Boden.» Er stockte. «Der Dolch stammt aus dem Mittelalter, denke ich. Er ist perfekt erhalten. Doch das Besondere ist, dass er in einem Christuskreuz steckt – einer sehr geschickten Konstruktion, in der eine Klinge verborgen ist. Das Kreuz ist über und über bedeckt mit fremdartigen Symbolen. Auf der Klinge befindet sich eine Inschrift. Ich war fasziniert und schockiert, als ich sah, dass die Symbole genau übereinstimmten mit der Form der Schnitte, die Rheinfeld sich zugefügt hatte.»

Ben begriff, dass es sich um das goldene Kreuz handeln musste, das der alte Clément erwähnt hatte. Fulcanellis Kreuz. «Was ist damit passiert?», fragte er. «Haben Sie es der Polizei ausgehändigt?»

«Nein, wie ich zu meiner Schande gestehen muss», antwortete der Geistliche. «Es gab keine Untersuchung. Niemand stellte in Frage, dass Rheinfeld sich die Wunden selbst zugefügt hatte. Die Polizei nahm lediglich ein Protokoll auf und notierte einige Details. Also behielt ich den Dolch. Ich fürchte, ich habe eine Schwäche für alte religiöse Artefakte, und der Dolch ist eines der Prunkstücke meiner Sammlung.»

«Darf ich ihn sehen?»

«Aber natürlich.» Vater Pascal lächelte. «Aber lass mich weitererzählen. Ungefähr fünf Monate später empfing ich einen höchst ungewöhnlichen und illustren Besuch. Ein Bischof aus dem Vatikan – er trug den Namen Massimiliano Usberti – kam eigens her, um mich zu sehen. Er stellte mir zahlreiche Fragen über Klaus Rheinfeld, über seinen Wahnsinn, über Dinge, die er vielleicht zu mir gesagt hatte, und über die Symbole auf seinem Leib. Doch was ihn am meisten interessierte, war die Frage, ob Rheinfeld etwas bei sich getragen hatte, als ich ihn fand. Nach dem, was er sagte, auch wenn er es nicht direkt ansprach, nehme ich an, er interessierte sich für den Dolch. Möge der Herr mir vergeben, ich habe ihm nichts gesagt. Das Kruzifix ist so wunderschön, und ich habe mich wie ein dummes, gieriges Kind verhalten und wollte ihn nicht hergeben. Aber ich spürte auch etwas, das mir Angst machte. Irgendetwas an diesem Bischof. Er wusste es gut zu verbergen, doch ich bemerkte, dass er ganz verzweifelt auf der Suche nach etwas war. Er wollte auch wissen, ob der Wahnsinnige Papiere bei sich getragen hatte, Dokumente, irgendwas in der Art. Er sagte immer wieder etwas von einem Manuskript. Ein Manuskript – er fragte mich immer und immer wieder danach.»

Ben merkte auf. «Hat er mehr darüber erzählt?»

«Der Bischof blieb ziemlich verschlossen. Ich hatte das Gefühl, dass er absichtlich ausweichend antwortete, als ich ihn fragte, was für ein Manuskript das denn wäre, nach dem er suchte. Er wollte auch nicht sagen, warum er sich dafür interessierte. Sein Verhalten erschien mir höchst merkwürdig.»

«Und hatte Rheinfeld wirklich ein Manuskript bei sich?», wollte Ben wissen. Es fiel ihm schwer, seine wachsende Ungeduld im Zaum zu halten.

«Ja …», gestand der Geistliche zögernd. «Hatte er. Allerdings fürchte ich …»

Ben war bis zum Platzen gespannt. Zwei Sekunden dehnten sich für ihn zu einer unerträglichen Ewigkeit.

«Nachdem Rheinfeld abgeholt worden war, kehrte ich, wie gesagt, zu der Stelle zurück, wo ich ihn gefunden hatte. Der Dolch und das Kruzifix lagen da, und außerdem die durchnässten Überreste von etwas, das aussah wie Blätter von einer alten Handschrift. Sie müssen aus seiner zerfetzten Kleidung gefallen sein. Sie waren in den Dreck gedrückt, wo er zusammengebrochen war. Der Regen hatte sie so gut wie zerstört: Die Tinte war fast völlig ausgewaschen. Ich konnte noch einige Zeichnungen und Schriftfetzen erkennen. Ich dachte, dass es eine kostbare Handschrift wäre und dass ich sie vielleicht später ihrem Besitzer zurückgeben könnte. Doch als ich versuchte, die Blätter aufzuheben, zerfielen sie mir in den Händen. Ich sammelte die Einzelteile auf und nahm sie mit hierher, aber es war unmöglich, noch etwas zu retten. Ich habe sie weggeworfen.»

Bens Hoffnung zerplatzte. Falls es sich bei den Blättern, die Rheinfeld bei sich getragen hatte, um das Fulcanelli-Manuskript gehandelt hatte, dann war seine Suche vorbei.

«Ich habe dem Bischof gegenüber nichts von alldem gesagt», beichtete der Geistliche weiter. «Ich hatte Angst, auch wenn ich überhaupt nicht verstehen konnte, warum. Irgendeine innere Stimme warnte mich davor.» Er schüttelte den Kopf. «Ich habe schon damals gewusst, dass es nicht das letzte Mal sein würde, dass ich von Klaus Rheinfeld hören würde. Ich habe immer gewusst, dass eines Tages andere zu mir kommen würden auf der Suche nach ihm.»

«Wo ist Rheinfeld heute?», fragte Ben. «Ich würde trotzdem gerne mit ihm reden.»

Der Geistliche seufzte. «Ich fürchte, das wird schwierig sein.»

«Warum?»

«Weil er tot ist. Möge er in Frieden ruhen.»

«Tot?»

«Ja. Er starb erst vor kurzer Zeit. Ungefähr vor zwei Monaten.»

«Woher wissen Sie das?»

«Während du geschlafen hast, habe ich beim Institut Legrand angerufen. Das ist die Anstalt in der Nähe von Limoux, in der Rheinfeld seine letzten Jahre verbracht hat. Doch es war zu spät. Man hat mich informiert, dass der arme unglückselige Kerl sein Leben auf höchst grausame Weise selbst beendet hat.»

«Das war’s dann wohl», murmelte Ben.

«Benedict, ich habe dir bis jetzt nur die schlechten Nachrichten erzählt», tröstete der Priester ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Ich habe auch gute Nachrichten für dich. Ich sagte den Leuten im Institut, wer ich bin, und fragte, ob es möglich wäre, mit jemandem zu reden, der Rheinfeld gekannt hat. Vielleicht hat ihn jemand genauer kennengelernt während der Jahre, die er dort war. Ich erfuhr, dass es niemandem vom Institut gelungen war, den Panzer des Wahnsinnigen zu durchbrechen. Er hatte niemanden an sich herangelassen und zu niemandem eine engere Beziehung. Sein Verhalten war abweisend und gewalttätig. Doch es gab eine Frau, eine Ausländerin, die ihn während seiner letzten Monate gelegentlich besuchte. Aus irgendeinem Grund schien ihn ihre Gegenwart zu beruhigen, und sie konnte sich fast normal mit ihm unterhalten. Das Personal hat berichtet, die beiden hätten über Dinge geredet, die keiner der Wärter verstanden hätte. Ich frage mich, Benedict, ob diese Frau nicht vielleicht Informationen entdeckt hat, die für dich interessant sein könnten.»

«Wo finde ich sie? Haben Sie den Namen?»

«Ich habe meine Nummer hinterlassen und gebeten, man möge ihr ausrichten, dass Pater Pascal Cambriel sich gerne mit ihr unterhalten würde.»

«Jede Wette, sie hat sich nicht gemeldet», sagte Ben düster.

«Glaube ist eine der Tugenden, über die wir gestern gesprochen haben, mein Sohn, und du musst lernen, sie zu kultivieren. Tatsächlich hat Anna Manzini – das ist der Name der Frau – sich heute früh telefonisch gemeldet, während du und Roberta noch geschlafen habt. Sie ist Schriftstellerin und Historikerin, wenn ich das richtig behalten habe. Sie wohnt in einer Villa ein paar Kilometer von hier. Sie erwartet von dir zu hören, und sie hat morgen Nachmittag Zeit, falls du sie besuchen möchtest. Du kannst meinen Wagen benutzen.»

Also gab es noch eine Chance. Bens Stimmung stieg. «Pater, Sie sind ein Heiliger.»

Der Geistliche lächelte. «Wohl kaum. Ein Heiliger hätte kein goldenes Christuskreuz unterschlagen und einen Bischof belogen.»

Ben grinste. «Selbst Heilige werden hin und wieder vom Teufel in Versuchung geführt.»

«Zugegeben, aber die Idee dahinter ist, ihm zu widerstehen», erwiderte Pater Pascal kichernd. «Ich bin ein alter Narr. So, und jetzt möchte ich dir den Dolch zeigen. Meinst du, Roberta würde ihn auch gerne sehen?» Er runzelte die Stirn. «Du wirst ihr doch wohl nicht erzählen, dass ich ihn gestohlen habe, oder?»

Ben lachte. «Keine Sorge, Pater. Ihr Geheimnis ist bei mir sicher.»

 

«Er ist wunderschön», hauchte Roberta. Ihre Stimmung hatte sich deutlich gebessert, nachdem Ben sich für seine rauen Worte ihr gegenüber entschuldigt hatte. Ihr war klar, dass sein unfreundliches Verhalten etwas mit dem Foto zu tun und sie den Finger in eine schwärende Wunde gelegt hatte. Doch nun schien Ben irgendwie verändert nach seinem Gespräch mit Pater Pascal.

Ben drehte den Dolch – der, wenn er in seiner Scheide steckte, ein Kreuz darstellte – in den Händen. Das also war eines der kostbaren Artefakte, die für Fulcanelli so wichtig gewesen waren. Doch seine Bedeutung war Ben ein Rätsel. Nichts in Fulcanellis Journal lieferte auch nur den kleinsten Hinweis.

Das Kreuz war ungefähr fünfundvierzig Zentimeter lang. Wenn die Klinge in der Scheide steckte, sah ein Betrachter lediglich ein exquisit verziertes goldenes Christuskreuz. Um die Scheide herum wand sich – ähnlich wie bei dem antiken Äskulapstab – eine Schlange. Bei diesem Kunstwerk war die Schlange aus Gold, und winzige Rubine stellten ihre Augen dar. Der Kopf am oberen Ende der Scheide, wo die Parierstange begann, war ein Federbügel. Wenn man den oberen Teil des Kreuzes packte wie das Heft eines Kurzschwerts und den Federbügel mit dem Daumen herunterdrückte, ließ sich die glänzende, dreißig Zentimeter lange Klinge herausziehen. Sie war schmal und scharf, und im Stahl waren merkwürdige Symbole in feinen Linien eingraviert.

Ben nahm die Waffe hoch. Niemand würde damit rechnen, dass ein Mann Gottes plötzlich einen verborgenen Dolch ziehen könnte. Es war eine zynische, teuflische Idee. Oder auch nur eine sehr praktische. Der Dolch war ein sehr treffendes Symbol für das mittelalterliche Christentum. Auf der Seite der Gewinner hatte jene Kategorie von Kirchenmännern gestanden, die einem jederzeit in den Rücken stechen konnten. Auf der anderen Seite waren jene Priester gewesen, die ständig auf der Hut sein mussten, dass man ihnen nicht in den Rücken stach. Nach allem, was Ben inzwischen herausgefunden hatte über die Beziehungen zwischen Kirche und Alchemie, erschien es ihm nicht unwahrscheinlich, dass der einstige Träger dieses Kreuzes zur zweiten Kategorie gehört hatte.

Pater Pascal deutete auf die Klinge. «Das ist das Zeichen, das Rheinfeld sich mitten auf die Brust geritzt hatte. Es sah aus, als hätte er es wieder und wieder nachgeschnitten – ein riesiges Muster aus Narbengewebe, das sich deutlich von seiner Haut abgehoben hat.» Er erschauerte bei der Erinnerung.

Das fragliche Symbol waren zwei sich schneidende Kreise. Im oberen Kreis gab es einen sechszackigen Stern, dessen Spitzen den Kreisumfang berührten, im unteren einen fünfzackigen – ein Pentagramm. Die beiden Kreise schnitten sich derart, dass die Sterne ineinander verzahnt waren. Dünne Linien zeigten das exakte Zentrum der eigentümlichen geometrischen Figur.

Ben starrte das Symbol an. Hatte es eine tiefere Bedeutung? Für Klaus Rheinfeld offensichtlich schon. «Irgendeine Idee, Roberta?»

Sie studierte die geometrische Figur. «Wer weiß? Alchemistische Symbologie ist manchmal so kryptisch, dass man unmöglich dahinterkommen kann. Es ist, als würden sie einen herausfordern, einen mit kargen Informationen weiter und weiter locken, bis man endlich weiß, wohin man gehen muss – nur um dann neue Hinweise zu erhalten. Es ging im Grunde immer nur darum, ihre Geheimnisse zu schützen. Sie waren fanatisch auf Sicherheit bedacht.»

Hoffen wir nur, dass diese «Geheimnisse» auch wert sind, entdeckt zu werden, dachte Ben. «Vielleicht kann Anna Manzini ja mehr Licht auf die ganze Sache werfen», sagte er laut. «Wer weiß? Vielleicht hat Rheinfeld ihr erzählt, was die Symbole bedeuten.»

«Falls er es wusste.»

«Hast du eine bessere Idee?»

 

Er musste auf den Berg oberhalb von Saint-Jean marschieren, bevor sein Mobiltelefon Empfang bekam, damit er Fairfax anrufen und ihm über seine Fortschritte berichten konnte. Seine Seite schmerzte, als er dort saß und auf das bewaldete Tal hinuntersah.

Oben am Himmel kurvten zwei Adler in einem eleganten, majestätischen Tanz umeinander durch die Lüfte. Er sah ihnen zu, wie sie auf der Thermik schwebten, hin und her glitten und einander umkurvten, und er fragte sich müßig, wie sich diese Art von Freiheit wohl anfühlen mochte. Dann erst wählte er Fairfax’ Nummer und schirmte das Handy mit der Hand vor dem Rauschen des Windes ab.

Das Fulcanelli-Komplott
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