Kapitel 15
Der Citroën brachte sie tatsächlich noch bis zu der abgelegenen Bar am Straßenrand, bevor der Motor endgültig den Dienst versagte, weil der Kühlerventilator nicht mehr funktionierte. Roberta verabschiedete sich mit einem letzten traurigen Blick von ihrem Wagen, den sie in einer dunklen Ecke auf dem Parkplatz abgestellt hatten. Dann wandten sie sich um und gingen, vorbei an einer Gruppe von Motorrädern und ein paar vereinzelten Pkws, zum Eingang der Bar. Über der Tür flackerte ein rotes Neonschild.
Das Lokal war fast leer. Zwei langhaarige Biker spielten im Hinterzimmer Pool, tranken Bier direkt aus der Flasche und lachten hin und wieder laut über irgendeinen derben Witz.
Ben und Roberta setzten sich schweigend in eine Ecke, möglichst weit weg von der plärrenden Musikbox. Ben ging zur Bar und kam kurz darauf mit einer Flasche billigem Rotwein und zwei Gläsern zurück. Er schenkte die Gläser voll und schob ihr eins über den fleckigen Tisch zu. Sie nahm einen großen Schluck und schloss die Augen. «Meine Güte, was für ein Tag! Also schön, was haben Sie angestellt?»
Er zuckte die Schultern. «Nichts. Ich hab auf den Zug gewartet, das ist alles.»
«Fast hätten Sie ihn bekommen.»
«Ist mir aufgefallen. Danke für Ihre Hilfe.»
«Bedanken Sie sich nicht bei mir. Erzählen Sie mir, was das zu bedeuten hat und warum wir plötzlich so populär geworden sind?»
«Wir?»
«Ja, wir», entgegnete sie hitzig und tippte mit dem Zeigefinger energisch auf den Tisch. «Seit ich Sie heute Morgen kennengelernt habe, hat ein Einbrecher versucht, mich umzubringen, ein Freund hat sich als Feind herausgestellt, ein Toter ist aus meiner Wohnung verschwunden, und Bullen stellen sich als Arschlöcher heraus, die glauben, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.»
Er lauschte aufmerksam und mit wachsender Nervosität, während sie ihm erzählte, was sich im Verlauf der vergangenen Stunden zugetragen hatte. «Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wäre ich fast von einem Zug überfahren worden, als ich versucht habe, Ihnen den Arsch zu retten!» Sie stockte. «Ich nehme an, Sie haben meine Nachricht nicht erhalten», sagte sie schließlich indigniert.
«Was für eine Nachricht?»
«Vielleicht sollten Sie Ihr Handy eingeschaltet lassen.»
Er lachte säuerlich, als ihm einfiel, dass er sein Handy während des Interviews ausgeschaltet hatte. Er zog das Gerät aus der Tasche und aktivierte es. «Eine Nachricht», stöhnte er, als das kleine Briefumschlagsymbol auf dem Display blinkte.
«Gut gemacht, Sherlock», erklärte Roberta sarkastisch. «Dann hatten Sie erst recht Glück, dass ich beschloss, Ihnen hinterherzufahren und Sie persönlich zu warnen, als Sie nicht ans Telefon gegangen sind. Obwohl ich mich jetzt allmählich zu fragen anfange, warum ich mir die Mühe gemacht habe.»
Er runzelte die Stirn. «Woher wussten Sie, wo Sie mich finden?», fragte er misstrauisch.
«Schon vergessen? Ich war dabei, als Sie den Anruf von diesem …»
«Loriot.»
«Wie auch immer. Charmante Freunde haben Sie, das muss man Ihnen lassen. Wie dem auch sei, ich erinnerte mich, dass Sie erwähnt hatten, Sie würden heute Abend nach Brignancourt fahren. Ich dachte, ich würde Sie dort antreffen, falls es nicht schon zu spät wäre.» Sie musterte ihn mit hartem Blick. «Werden Sie mir jetzt bitte verraten, was das zu bedeuten hat, Ben? Haben die Reporter von der Sunday Times alle ein so aufregendes Leben?»
«Klingt, als wäre Ihr Tag viel aufregender gewesen als meiner.»
«Hören Sie auf mit dem Mist, okay? Sie haben was mit diesen Zwischenfällen zu tun, oder vielleicht nicht?»
Er antwortete nicht.
«Nun? Reden Sie schon. Soll ich vielleicht glauben, alles ist nur Zufall? Sie tauchen auf, fragen nach meiner Arbeit, und wir werden fotografiert. Dann taucht ein Killer in meiner Wohnung auf und will mich umbringen, und andere versuchen das Gleiche mit Ihnen, alles am selben Tag? Ich kaufe Ihnen nicht mehr ab, dass Sie Journalist sind. Was sind Sie wirklich?»
Er schenkte beide Gläser nach. Seine Zigarette war aufgeraucht. Er schnippte den Stummel aus dem Fenster, griff nach seinem Zippo und steckte sich eine neue an.
Sie hustete demonstrativ, als der Rauch über den Tisch hinweg in ihre Nase trieb. «Müssen Sie unbedingt rauchen?»
«Ja.»
«Aber es ist verboten.»
«Interessiert mich einen Dreck», erwiderte er.
«Werden Sie mir jetzt die Wahrheit sagen – oder soll ich einfach die Polizei rufen?»
«Meinen Sie allen Ernstes, die Polizei würde Ihnen diesmal mehr glauben?»
Der Herzschlag des Lokführers hatte sich immer noch nicht wieder beruhigt, als er erneut Fahrt aufnahm. Als die Scheinwerfer die beiden Fahrzeuge auf den Gleisen erfasst hatten, war es für ihn längst zu spät gewesen, um noch rechtzeitig zu bremsen und so die Kollision zu vermeiden. Er atmete tief durch. O mein Gott. Bisher hatte er höchstens hin und wieder Wild auf den Gleisen gehabt. Ein Reh, einmal. Er wollte überhaupt nicht daran denken, was hätte passieren können, wenn die beiden Wagen nicht rechtzeitig aus dem Weg gewesen wären.
Was für ein Idiot musste das sein – zwischen zwei Bahnschranken zu fahren, wenn sich ein Zug näherte? Kids wahrscheinlich, die Unsinn mit gestohlenen Fahrzeugen anstellten. Der Lokführer stieß einen langen Seufzer aus, während sein Herzschlag sich allmählich normalisierte, dann griff er nach seinem Funkgerät.
«Verdammte Scheiße!»
«Ich hab euch gleich gesagt, wir hätten in der Nähe bleiben sollen!»
Die drei Männer saßen in dem schwarzen Audi und sahen hinaus auf die Bahnstrecke, wo sie vorhin den Mercedes zurückgelassen hatten. Naudon bedachte seine Kollegen mit einem ätzenden Blick und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Während Berger und Godard kichernd in der Bar gesessen hatten, war er im Wagen geblieben und hatte die Nachrichten im Radio abgehört. Falls es zu einem Zugunglück gekommen war, würden die Nachrichten eine Meldung bringen. Nichts! Also hatte er den anderen keine Ruhe gelassen, bis sie schließlich nachgegeben hatten und zur Bahnschranke zurückgekehrt waren, nur damit er endlich den Mund hielt.
Und er hatte recht behalten. Kein Wrack, kein entgleister Zug, kein toter Engländer. Der leere Mercedes stand ein paar Meter abseits der Bahngleise und sah nicht aus wie eine Limousine, die von einem schnell fahrenden Zug erfasst worden war.
Schlimmer noch – der Wagen stand nicht allein dort. Im dunklen Lack spiegelte sich das blitzende Blaulicht zweier Streifenwagen der Polizei, die davor und dahinter parkten.
«Das ist vielleicht eine Scheiße!», murmelte Berger und packte das Lenkrad, bis die Knöchel hervortraten.
«Hattest du nicht behauptet, die Bullen würden nie hier entlangkommen?», sagte Godard. «Das war doch der verdammte Grund, warum wir diesen Bahnübergang ausgesucht hatten, oder nicht?»
«Ich hab’s euch gleich gesagt», wiederholte Naudon vom Rücksitz.
«Wie ist er …?»
«Jungs, der Boss wird nicht erfreut sein.»
«Besser, du rufst ihn an.»
«Das tue ich bestimmt nicht. Ihr ruft ihn an.»
Die Polizeibeamten untersuchten die Umgebung, und die Lichtkegel ihrer Taschenlampen huschten hierhin und dorthin wie Suchscheinwerfer, während im Hintergrund Funkgeräte knackten und rauschten.
«He, Jean-Paul», sagte einer der Beamten und hob einen verbeulten Citroën-Doppelpfeil vom Boden auf. «Das hier sieht aus wie von einem 2CV. Außerdem liegt überall Scheinwerferglas rum.»
«Der Lokführer hat was von einem 2CV gesagt», erwiderte einer seiner Kollegen.
«Wo ist er hin?»
«Nicht weit, so viel steht fest. Hier liegen überall Flügelteile vom Kühlerventilator herum.»
Zwei weitere Polizisten leuchteten in das Innere des Mercedes. Einer der beiden entdeckte ein kleines glänzendes Objekt im Fußraum des Fonds. «Hoppla, was haben wir denn hier? Eine 9-mm-Patronenhülse!» Er schnüffelte an der Messinghülse, und Korditgeruch stieg ihm in die Nase. «Sie wurde erst vor kurzer Zeit abgefeuert.»
«Pack sie in einen Asservatenbeutel.»
Der andere Beamte hatte ebenfalls etwas entdeckt. Eine Visitenkarte auf dem Sitz. Er blinzelte im Lichtschein seiner Maglite, als er versuchte, den Namen zu lesen. «Ein ausländischer Name», sagte er.
«Was ist deiner Meinung nach hier passiert?»
«Wer weiß.»
Zwanzig Minuten später traf der Abschleppwagen ein, und der Mercedes wurde im Licht der blitzenden Blau- und Orangelichter aufgeladen. Dann fuhr der kleine Konvoi davon, ein Streifenwagen vorneweg, ein zweiter hinterdrein. Der Bahnübergang lag wieder still und verlassen im Dunkeln wie zuvor.