102 ROBB BRINDLE

Robb und die anderen Gefangenen starrten ungläubig durch die trübe Membran ihrer Zelle. Das kleine Mädchen in der kristallenen Kugel wirkte hilflos und völlig fehl am Platz.

»Ist das Kind ebenfalls gefangen?«, fragte er. »Was machen die Hydroger?«

»Seht nur, wie die Hydroger ihre Kugel bewegen«, sagte Anjea Telton. »Sie scheinen sie zu eskortieren.«

Das Mädchen blickte so zu den Gefangenen herüber, als mache es sich Sorgen um sie anstatt um sich selbst. Schließlich geriet es außer Sicht.

»Die Kugel sah besser aus als das Ding, das mich in die Tiefen des Gasriesen gebracht hat.« Robbs Taucherglocke war noch immer intakt und nicht weit entfernt. Er fragte sich, ob er als zur Selbstaufopferung bereiter Held in die Geschichte eingehen würde oder als geblendeter Narr, dessen Mission von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war. Wenn er eine Chance zur Flucht gesehen hätte, wäre er bereit gewesen, jedes Risiko einzugehen, nur um zumindest einen Versuch zu wagen.

»Vielleicht wollen die Hydroger die Kleine ebenso zerquetschen wie Charles«, sagte Anjea niedergeschlagen. »So wie uns alle, letzten Endes.«

Sie sah demonstrativ zur anderen Seite der Zelle, wo die Hydroger einen weiteren Behälter zurückgelassen hatten. Er erinnerte Robb an einen Sarkophag. Die stummen Fremden hatten den Behälter hereingebracht, vermutlich mit der Absicht, einen weiteren Gefangenen zu holen, aber dann waren die Quecksilber-Geschöpfe wie alarmiert fortgeeilt. Vielleicht wegen der Ankunft des seltsamen Mädchens?

Anjea schnappte nach Luft, als sie plötzlich eine Idee hatte. »Glaubst du, die Systeme deines kleinen Schiffes funktionieren noch, Brindle?«

»Sie funktionierten, als die Droger mich schnappten. Aber die Chancen dafür, dass jemand von uns die Taucherglocke lebend erreichen könnte, stehen eins zu einer Million. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass es die Person schafft, in die Kapsel zu gelangen, dort den richtigen Druck herzustellen und den Droger-Verfolgern zu entkommen, selbst wenn alle Systeme funktionieren.«

»Und wenn schon«, sagte Anjea. »Es ist immer noch besser, als hier zu warten, bis Dr. Hydroger-Frankenstein zurückkehrt.«

Der neue »Sarkophag« war mit kleinen Manipulationsfeldern ausgestattet, und als die Gefangenen damit spielten, fanden sie heraus, dass ein Passagier in seinem Innern das schützende Ektoskelett nach vorn, oben und unten bewegen konnte.

»Vielleicht wollen uns die Hydroger Gelegenheit geben, durch ihre Stadt zu wandern«, meinte einer der Gefangenen.

»Wer weiß, was sie denken?«, erwiderte Robb. »Ihre Gehirne bestehen aus Flüssigkristall.«

»Meins nicht – und ich weiß, was ich denke.« Bevor Robb antworten konnte, kletterte Anjea in den Behälter. »Ich verschwinde von hier. Ich habe vor, deine Kapsel zu erreichen, Brindle. Wünsch mir Glück.«

»Ich sollte derjenige sein, der sich in Gefahr begibt«, sagte Robb. »Immerhin ist es meine Taucherglocke.«

»Ich komme schon mit den Kontrollen zurecht.«

»Aber wie willst du zurückkehren, um uns zu retten?«, fragte einer der anderen Gefangenen.

Sie alle wussten: Selbst wenn Anjea die Flucht gelang, selbst wenn sie es irgendwie zur Erde schaffte und der TVF ihre Geschichte erzählte – das terranische Militär konnte so tief im Innern eines Gasriesen keine Rettungsmission durchführen. Nein, Anjea hatte nicht die Möglichkeit, ihnen Hilfe zu bringen.

»Ich tue, was ich kann«, sagte sie trotzdem.

Anjea schloss das mobile Ektoskelett. Durch die kantigen Außenplatten konnte Robb gerade so ihr Gesicht sehen. Die verbissene Frau wirkte erschrocken, aber das war eigentlich immer der Fall.

»Viel Glück«, sagte Robb und meinte es ernst.

Die Hydroger hatten sich entfernt und begleiteten die Kristallkugel des Mädchens. Das Interesse aller Bewohner der Stadtsphäre schien dem sonderbaren Besucher zu gelten. Dies war die einzige Chance, die Anjea bekommen würde.

Unbeholfen experimentierte sie mit den Manipulationsfeldern und lernte, den Behälter zu bewegen. Der Vorgang sah etwa so elegant aus wie die Steuerung eines Mumiensargs.

Robb versuchte, die wachsende Unruhe aus seinem Innern zu vertreiben. Dieser verrückte Plan hatte praktisch keine Erfolgsaussichten, aber er bot die einzige Hoffnung, seit der Kompi DD in den Tiefen eines anderen Gasriesen mit ihnen gesprochen hatte. Auch DD war nicht in der Lage gewesen, sie zu befreien.

»Selbst eine Chance von eins zu einer Million ist größer als die, die wir bisher hatten«, sagte Robb und versuchte, zuversichtlich zu klingen. Zusammen mit den anderen Gefangenen half er Anjea bis zur Membranwand. Sie drückten, und der Behälter glitt so durch die Membran wie ein Baby durch einen feuchten Geburtskanal. Wenige Sekunden später war Anjea auf sich allein gestellt.

Draußen fiel es ihr schwer, den Behälter unter Kontrolle zu halten. Starker Wind und enorme Gravitation schienen an ihm zu zerren. Nach einigen Momenten der Desorientierung setzte sie ihn in Bewegung und korrigierte den Kurs. Sie brauchte nur einige Dutzend Meter durch den atmosphärischen Ozean zurückzulegen, um Robbys leere Kapsel zu erreichen.

»Sie schafft es!«, rief einer der Gefangenen.

Mit ruckartigen Bewegungen näherte sich der »Sarkophag« der Kapsel und schwebte dann vor ihrer Luke. Anjea versuchte, sich mit den primitiven Greifarmen irgendwo festzuhalten. Die Luke der Taucherglocke war ein einfacher Mechanismus, dazu bestimmt, unter allen Bedingungen zu funktionieren.

Als es Anjea gelang, sie zu öffnen, entwich keine Luft. Robb vermutete, dass die Hydroger bereits einen Druckausgleich hergestellt hatten, um das Innere zu untersuchen. Er hoffte inständig, dass die mechanischen Systeme gut genug abgeschirmt waren, um dem gewaltigen Druck in dieser Tiefe des Gasriesen standzuhalten.

Anjea brachte ihre steife Hülle in die richtige Position und glitt ins Innere der Kapsel.

Die Gefangenen jubelten. »Sie schafft es tatsächlich!«

Robb wies nicht darauf hin, dass Anjea noch mehrere unmögliche Dinge bewerkstelligen musste, bevor sie fliehen konnte. Trotzdem: Es erstaunte ihn, dass sie so weit gekommen war.

Zuerst galt es, das Hochdruckgas aus dem Innern der Kapsel zu entfernen und durch atembare Luft zu ersetzen, und dazu mussten die Tanks intakt sein. Die Luke schloss sich wieder, und für einige endlose Momente geschah nichts. Dann gelang es Anjea offenbar, mit den Greifarmen die internen Kontrollen zu bedienen. Statuslichter blinkten an der Taucherglocke.

Ventile öffneten sich, und Pumpen pressten das Hochdruckgas nach draußen. Kleine Blasen bildeten sich und stiegen funkelnd auf.

»Die Systeme funktionieren noch«, sagte Robb. »Wenn sie die Kapsel mit Sauerstoff gefüllt hat, müsste sie aufsteigen wie eine Luftblase im Meer. Sie hat eine Chance!«

»Aber keine sehr große«, ließ sich ein anderer Gefangener kummervoll vernehmen.

Zwei Klikiss-Roboter erschienen plötzlich auf einer parabelförmig gekrümmten Brücke. Sie bewegten ihre Arme und schienen Alarm zu geben.

Schlangenartige Pseudopodien vereinten sich zu silbernen Lachen, strömten über Rampen und polygonale Plattformen und wurden zu einzelnen Hydrogern, die sich der Kapsel näherten.

Robb fühlte Übelkeit in sich emporsteigen und biss die Zähne zusammen. »Na los, na los! Beeil dich, Anjea!«

Eine Gruppe von Hydrogern umgab die Taucherglocke und verwandelte sich in Säulen, viel größer als die übliche Nachahmung der Roamer-Gestalt. Drei Klikiss-Roboter gesellten sich ihnen hinzu.

Die Roboter näherten sich der Kapsel, und Hydroger klammerten sich wie unheilvolle Parasiten an ihr fest. Die schwarzen Maschinen streckten ihre Arme aus, tasteten mit Klauen über die Außenhülle und suchten nach einem Weg ins Innere.

Die unteren Düsen der Kapsel wurden aktiv, als Anjea versuchte, das Triebwerk zu aktivieren. Die Gefangenen brüllten, sie solle sich beeilen, obwohl sie sie nicht hören konnte.

Die Klikiss-Roboter fanden die Luke, zerrten an den Kontrollen und zerfetzten die Abdichtungen. Sie rissen die Luke aus den Angeln.

Hochdruckgas schmetterte ins Innere der Kapsel. Die Hydroger erhoben sich wie Geister aus Silber und strömten durch die Öffnung.

Die Menschen in ihrer Zelle beobachteten entsetzt, wie die Fremden erst eine Hälfte des Behälters aus der Kapsel brachten und dann die andere. Selbst wenn Anjea in die schützende Hülle zurückgekrochen war, bevor die Klikiss-Roboter die Luke aufgerissen hatten… Inzwischen konnte nicht mehr als Brei von ihr übrig sein.

Robb sank auf die Knie. Die anderen Gefangenen stöhnten.

Während der nächsten Stunde nahmen die Klikiss-Roboter Robbs Kapsel Platte für Platte auseinander, bis nur noch ein Haufen Schrott von ihr übrig war.