9 JESS TAMBLYN

Umgeben von seinem schimmernden Schiff und geschützt von der Macht der Wentals sank Jess in die Tiefen des Gasriesen Golgen. Er hatte die Wasserentitäten gebeten, ihn hierher zu bringen, denn er wollte mit eigenen Augen sehen, was er mit seinem ersten Schlag gegen die Hydroger bewirkt hatte.

Sein sonderbares Schiff glitt durch faserige Wolken und starke Winde. Dunstschwaden strichen über die Außenhülle. Apokalyptische Stürme peitschten durch die Hochdruckmeere der verdichteten Atmosphäre, die einst Heimat der Hydroger gewesen waren. Vor sieben Jahren hatte ihnen Jess als forscher, rachsüchtiger Mensch einen tödlichen Schlag versetzt.

Zusammen mit den Clan-Technikern von Plumas hatte er Kometen als kosmische Geschosse eingesetzt und auf den Planeten hinabstürzen lassen. Sie waren wie göttliche Hammerschläge gewesen und hatten mehr Zerstörungskraft entwickelt als die stärksten thermonuklearen Bomben.

Der Gasriese trug noch immer die Flecken jener Katastrophe, wie brandige Wunden. Die vergangenen Jahre hatten nicht genügt, um das Chaos aus der Atmosphäre verschwinden zu lassen. Die Folgen des Kometenbombardements würden sich noch jahrzehntelang bemerkbar machen. Der nach wie vor zornige menschliche Teil von Jess Tamblyn nahm das mit Zufriedenheit zur Kenntnis. Er sah darin angemessene Rache für den Tod von Ross und die Zerstörung der Blauen Himmelsmine.

Während er in Gedanken noch bei seinen damaligen Bemühungen weilte, die Hydroger zu besiegen, empfing er plötzlich Bilder von den Wentals, Nachrichten, die die Wasserwesen untereinander austauschten. Die Bilder folgten so schnell aufeinander, dass Jess keine Einzelheiten erkennen konnte, aber er begriff, was geschehen war: Die TVF hatte einen weiteren Außenposten der Roamer angegriffen, das Zuhause von Nikko Chan Tylar, dem mit knapper Not die Flucht gelungen war.

Jess’ vierzehn freiwillige »Wasserträger« brachten die Wentals zu den Seen und Ozeanen unbewohnter Welten, wo sie wachsen und sich ausbreiten konnten. In gewisser Weise ähnelten die Wentals den Verdani, den Weltbäumen von Theroc, aber die vierzehn Roamer waren nicht wie die grünen Priester des Weltwalds physisch verändert worden, damit sie direkt mit anderen Wentals kommunizieren konnten.

Unter allen Freiwilligen wies Nikko eine besondere Sensibilität den Wentals gegenüber auf. Die Wasserentitäten hatten ihm gestattet, mit ihnen zu kommunizieren und die Nachricht vom TVF-Angriff auf das Hurricane-Depot weiterzugeben. Doch Jess bezweifelte, ob die anderen Wasserträger die Details der Botschaft erfassen konnten, die Nikko gerade mithilfe der Wentals gesendet hatte.

Jess erlebte all die Dinge, die der junge Mann dem Wental-Wasser an Bord seines Schiffes mitteilte. Die TVF brachte die Treibhausasteroiden unter ihre Kontrolle und nahm alle Roamer gefangen, während Nikko den Tiwi-Verfolgern entkam.

Als sein Schiff tiefer in die Atmosphäre von Golgen sank, rang Jess mit sich selbst. Er war noch immer ein Roamer und fühlte sich verpflichtet zu helfen – wenn er Hilfe leisten konnte. Aber der Angriff auf die Treibhausasteroiden war schon vorbei, ebenso wie die Zerstörung von Rendezvous und des Hurricane-Depots. Es hatte keinen Sinn mehr, wenn er sich jetzt auf den Weg machte.

Sein schimmerndes Schiff wäre zweifellos eine große Überraschung für die Schlachtschiffe der Tiwis gewesen, aber so mächtig er auch sein mochte: Er konnte nicht allein mit der ganzen TVF fertig werden. Er hoffte, dass seine Schwester Tasia nicht zu den Angreifern zählte. Sie leistete Dienst beim terranischen Militär, aber bestimmt wäre sie nicht bereit gewesen, an dem Überfall auf einen Außenposten der Roamer teilzunehmen. Wo mochte sie jetzt sein?

Nein, Jess wusste, dass er sich nicht ablenken lassen durfte. Er musste seine Mission fortsetzen, die zum Ziel hatte, die Wentals wieder erstarken zu lassen. Wenn kein Sieg über die Hydroger gelang, waren die Streitereien unter den Menschen bald bedeutungslos…

Um ihn herum wurden die Wolken aus Ammoniak, Kohlenwasserstoff, Phosphin und Schwefelkohlenwasserstoff immer dichter. Unerwartete Furcht kratzte wie ein Fingernagel über Jess’ Knochen. Seine Empfindung ging auf die Wentals zurück: Sie erinnerten sich voller Unruhe an die Jahrhunderte der Fast-Auslöschung, die sie den Hydrogern verdankten.

»Seltsam, aber ich glaube, wir waren dazu bestimmt, Verbündete zu werden«, sagte Jess. »Noch bevor ich von den Wentals erfuhr, habe ich den Hydrogern eine tiefe Wunde zugefügt – mit Kometen, gefrorenem Wasser. Ich würde gern sehen, was jene Kometen angerichtet haben.«

Das schimmernde Schiff sank noch tiefer ins Wolkenmeer, und Jess blickte durch die transparente Hülle nach draußen. In einer stabilen Schicht sah er verblüffende Trümmer: gewaltige Fragmente von Kuppeln, Reste einer riesigen Stadt der Hydroger. Durch den Einschlag der Kometen waren die Stadtsphären geborsten und implodiert.

Die fremden Städte mussten wundervoll gewesen sein, und Jess fragte sich, wie viele Hydroger er mit dem Kometenbombardement getötet hatte. Aber ganz gleich, wie viele es auch sein mochten: Es waren nicht annähernd genug für die vielen Roamer, die die Hydroger umgebracht hatten, oder für die Wentals, die vor zehntausend Jahren fast ausgelöscht worden waren.

Die Wentals sprachen zu Jess. Wir werden wieder stärker, und Golgen wird nur der erste von vielen Siegen über die Hydroger sein.

Bei den Trümmern in der dichten Atmosphäre hielt Jess vergeblich nach Resten der Blauen Himmelsmine Ausschau. Die Hydroger hatten sie vor Jahren vernichtet und vermutlich keinen Gedanken an die unschuldigen Menschen vergeudet, die dabei ums Leben gekommen waren.

Jess dachte an das letzte Mal, als Ross ihm voller Stolz auf seiner eigenen Mine begegnet war. Seinem Bruder war es gelungen, ein geschäftliches Wagnis in einen Erfolg zu verwandeln, und dadurch hatte er sich seiner schönen jungen Verlobten würdig erwiesen. Cesca. Damals hatte Jess’ größtes Problem darin bestanden, seine geheime Liebe für sie zu verbergen, denn immerhin war sie mit Ross verlobt gewesen.

Wieder vernahm er die geistige Stimme der Wentals. Wir lösen einen Teil von uns aus diesem Schiff und lassen ihn in den Wolken von Golgen zurück. Die Atmosphäre enthält genug Wassermoleküle für uns; wir können hier bleiben und uns ausbreiten. Es wird ein langsamer Vorgang sein, aber im Lauf der Zeit sollte es uns gelingen, ein Wental-Bewusstsein zu schaffen, das diesen Ort schützt.

Wasserperlen bildeten sich an der Außenseite des schimmernden Schiffes, als ein Teil der Wentals durch die Hülle diffundierte. Sie wurden immer größer, lösten sich schließlich und flogen als silberne Kugeln in die Sturmschichten der Atmosphäre.

Wir können die Turbulenzen beenden und Ruhe in die Wolkenmeere dieser Welt bringen, Golgen erneut zähmen. Unsere Wental-Essenz wird überleben.

»Könnt ihr eine ganze Hydroger-Welt in Besitz nehmen?«

Nicht vollständig, aber wir werden hier sein. Es fließt bereits Wental-Energie durch die Wolken und dehnt sich aus, um das zerstörte Herz dieses Planeten zu füllen. Es gibt hier keine Hydroger mehr, und wir zerstören die Transtore, damit sie nie zurückkehren können.

»Jetzt weiß ich, warum mein Leitstern mich hierher gebracht hat.«

Golgen ist sicher. Du kannst die anderen Roamer auffordern, ihre Himmelsminen hierher zu bringen und so viel Ekti zu produzieren, wie sie wollen.

Darüber freute sich Jess sehr. Ein sicherer Planet für die Ekti-Produktion! »Ich treffe mich bald mit den Wasserträgern, und dann geben wir den Roamern Bescheid.«