13 ORLI COVITZ

Orli hatte fassungslos die Zerstörung der Corribus-Kolonie beobachtet. Das Mädchen stand im flüsternden Wind, der mit Einbruch der Nacht auflebte. Er wehte an den granitenen Wänden der Hauptschlucht vorbei, trug den Geruch von Rauch und verbranntem Fleisch mit sich. Wenn er hier und dort über die Felsen strich, erklangen Geräusche, die sich nach einem leisen Stöhnen anhörten.

Orli war vollkommen allein, die einzige Person auf einem ganzen Planeten. Alle anderen waren tot: die Kolonisten, die wenigen Kinder in ihrem Alter, selbst ihr Vater. Sie war die einzige Überlebende des Massakers.

Die Siedlung auf Corribus, einst ein Ort von Träumen und Möglichkeiten, der harten Arbeit und der Hoffnung, lag jetzt in Trümmern. Selbst die alten Klikiss-Ruinen waren zerstört worden. Für Orli gab es kein Zuhause mehr, und wohin sie jetzt auch gehen würde: Sie trug die Bilder der Vernichtung mit sich.

Einen ganzen Tag hatte sie damit verbracht, abgelegene Höhlen in der Schlucht zu erforschen. Sie erinnerte sich daran, von einer hohen Stelle auf die Siedlung hinabgesehen zu haben, die Teil der neuen Kolonisierungsinitiative der Hanse gewesen war.

Die TVF-Kampfschiffe waren ganz plötzlich erschienen. Ihre Waffen hatten Gebäude zerstört und Kolonisten getötet. Aber als die Schiffe dann landeten, kamen nicht etwa Menschen heraus, sondern schwarze Klikiss-Roboter und Soldaten-Kompis. Die gnadenlosen Roboter suchten nach Siedlern, die den Angriff aus der Luft überlebt hatten, und brachten sie nacheinander um, bis alle tot waren.

Orli war weit entfernt gewesen und hatte um ihr eigenes Leben gefürchtet, während sie alles beobachtete. Ein Teil von ihr wäre am liebsten losgelaufen, um gegen die Roboter zu kämpfen oder sie wenigstens anzuschreien, aber sie war klug genug, sich zu verstecken, bis die schrecklichen Maschinenwesen schließlich in die TVF-Schiffe zurückkehrten und starteten.

Orli blieb allein zurück. War irgendjemand jemals so einsam gewesen? Auf dem ganzen Planeten hatte es nur jene kleine Siedlung gegeben. Ihre Gruppe war als erste durchs Transportal gekommen, um eine Kolonie auf Corribus zu gründen. Zwar musste sie es noch überprüfen, aber Orli vermutete, dass die Klikiss-Roboter auch das Transportal zerstört hatten, um jeden Kontakt mit dem Rest der menschlichen Zivilisation zu verhindern. Sie durfte nicht damit rechnen, dass jemand kam, um ihr zu helfen. Außerhalb von Corribus wusste niemand, dass ein Angriff stattgefunden hatte.

In der ersten Nacht ließ sie sich an einer Mauer aus faserigem Zement nieder, vor Jahrtausenden von den insektoiden Klikiss errichtet. Sie war geschwärzt und halb eingestürzt, aber sie bot Orli einen Ort, wo sie die Beine anziehen und den Kopf auf die Knie legen konnte. Sie zitterte, als sie auf die Nacht wartete. Furcht und blank liegende Nerven hinderten sie daran, Ruhe zu finden und zu schlafen. Sie hörte das Prasseln der in der Siedlung brennenden Feuer, manchmal ein Knacken und Knirschen, wenn Reste von Gebäuden einstürzten. Dort lebte nichts mehr.

Niemand hörte Orli, als sie lange weinte und sich die Nase mit rußigen Händen abwischte. Sie schluchzte, bis ihre Kehle rau wurde. Sie war nie eine besonders anhängliche Person gewesen, aber jetzt vermisste sie ihren Vater sehr. Jan Covitz hatte gern nach Lösungen für Probleme gesucht, es aber nur selten geschafft, sie auch zu realisieren. Ganz deutlich erinnerte sie sich an sein offenes Lächeln, an sein warmes, freundliches Wesen. Er war bei allen beliebt gewesen, aber nur wenige hatten sich auf ihn verlassen.

Orli wollte bei ihrem Vater sein und sich von ihm umarmen lassen, während er von seinen Träumen erzählte. Er hätte sicher gewusst, was es nun zu tun galt.

Bei diesem Gedanken seufzte Orli, und ein bittersüßes Lächeln berührte ihre Lippen. Nein, er hätte nicht gewusst, was es zu tun galt. Allein auf sich gestellt wäre er vielleicht noch schlechter dran gewesen als sie. Aber das spielte keine Rolle. Sie wünschte sich ihn an ihre Seite.

»Wenn Wünsche Pferde wären, Mädchen, würden wir alle reiten«, hatte er oft gesagt.

In der dunkelsten Stunde der Nacht, noch immer hellwach, hörte Orli etwas, das nach Stimmen klang, die in den Resten der seit langem leeren Klikiss-Stadt flüsterten. Sie sprang auf, verließ ihren Unterschlupf und kletterte über geborstene Felsen.

»Hallo?«, wollte sie rufen, aber es wurde nur ein Krächzen daraus. Zu langes Weinen und zu viel Rauch hatten ihr die Stimme genommen. Sie versuchte es erneut. »Hallo?« Etwas lauter diesmal. »Ist dort jemand?«

Orli machte sich auf den Weg zu den Klikiss-Ruinen und lief durch die Dunkelheit, so schnell sie konnte. Das Licht der Sterne reichte gerade aus, vor ihr auftauchende Hindernisse rechtzeitig zu erkennen. Oben lösten sich kleine Steine von den alten Gebäuden, und kurz darauf geriet ein größerer Brocken in Bewegung und fiel zu Boden.

Ein weiterer hoffnungsvoller Ruf blieb Orli in der Kehle stecken. Und wenn sie gar keinen Überlebenden gehört hatte? Sie dachte plötzlich an die Möglichkeit, dass einer der Roboter zurückgeblieben war. Die tödlichen Maschinen waren perfekte Mörder – das hatten sie deutlich gezeigt. Vielleicht hatten die schwarzen Klikiss-Roboter einen der ihren zurückgelassen, damit er auf jemanden wie Orli wartete, auf Kolonisten, die zum Zeitpunkt des Angriffs nicht in der Siedlung gewesen waren. Mit dem Auftrag, auch solche Überlebende zu töten.

Das Herz klopfte Orli bis zum Hals. Wie erstarrt stand sie in der Dunkelheit und fühlte sich schrecklich hilflos und verletzlich. Sie lauschte, wagte nicht einmal zu atmen. Warum hatte sie gerufen? Wie dumm von ihr! Sie musste vorsichtiger sein. Bestimmt würde sie nicht lange überleben, wenn sie einfach so herumstolperte und davon ausging, dass sich alles zum Besten wandte.

Sie versuchte zu schlucken, aber ein staubiger Lappen schien in ihrem Hals zu stecken. In Gedanken zählte sie bis hundert, doch es kamen keine weiteren Geräusche aus den Ruinen.

Dann hörte sie erneut das Klacken kleiner Steine.

Nach einer Weile glaubte Orli, dass die Steine von ganz allein in Bewegung geraten waren. Nichts trat vor ihr aus der Dunkelheit, weder eine große schwarze Maschine noch ein kleiner Soldaten-Kompi. Die anderen Geräusche, die sie in der Finsternis hörte, stammten von kleinen Tieren oder Insekten.

Und vielleicht von hungrigen Raubtieren?

Orli kehrte zu ihrem Unterschlupf zurück, nahm einen Stein und fragte sich, ob er als Waffe taugte. Er musste genügen. Sie blickte zum dunklen Horizont und hoffte, dass bald die Sonne aufging…

Am Morgen, geschwächt und die Augen gerötet, ging sie zur zerstörten Siedlung. Ihr erstes Ziel waren die Reste des Sendeturms, in der ihr Vater stolz Kommunikationsdienste für die Kolonie geleistet hatte. Kurz nach der Ankunft hatte Orli dort bei ihm gesessen, als er auf eintreffende Nachrichten wartete, den Weg von Hanse-Schiffen verfolgte, Bestandsverzeichnisse anlegte und Wunschlisten für die Händler zusammenstellte.

Orli versuchte, sich einen letzten Rest von Hoffnung zu bewahren, aber sie hatte die Explosionen gesehen. Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich: Die Sendebaracke ihres Vaters war vollkommen zerstört. Es gab kaum Trümmer, zwischen denen sie suchen konnte, nur einige Metall- und Polymerreste. Wenigstens blieb es ihr erspart, die Leiche ihres Vaters zu sehen.

Die enorme Hitze der Energiestrahlen hatte den Boden in Glas verwandelt. Es erinnerte Orli an die Glasur eines leckeren Desserts, das sie einmal mit ihrem Vater gegessen hatte. Ihre Augen brannten plötzlich, und sie schüttelte die Erinnerung ab.

Sie kletterte über rußige Trümmer hinweg, bis sie die Mauer mit dem Klikiss-Transportal erreichte. Das fremde Aggregat war wie erwartet zerstört worden, und das bedeutete für Orli: Sie konnte Corribus nicht verlassen.

Jede neue Enttäuschung verringerte den letzten Rest von Hoffnung in ihr.

Schließlich ging Orli zu der Ruine des Gebäudes, das für ihren Vater und sie ein neues Zuhause gewesen war. Die Zerstörung der Siedlung war so enorm, dass sie das Haus nur finden konnte, indem sie sich mithilfe von Geländepunkten orientierte, Fundamente zählte und bekannten Wegen folgte, bis sie schließlich vor einem Haufen aus verbrannten Bauelementen stand.

Sie fand einige Kleidungsfetzen, zwei Kochtöpfe und – ein Glücksfall – sechs Nahrungspakete, die ihr Vater behalten hatte, um eines Tages ein besonderes Essen zu kochen. Orli verschlang das Aromaprotein regelrecht und merkte dabei, wie hungrig sie gewesen war.

Bei einer geborstenen Mauer fand sie zwei versiegelte Beutel mit konservierten Riesenpilzen, die ihr Vater und sie auf Dremen angepflanzt hatten. Ein weiterer von Jans Damit-werden-wir-reich-Plänen. Die wachsenden Pilze waren rasch außer Kontrolle geraten, und als die anderen Siedler ihr graues Fleisch mit dem Wildgeschmack nicht essen wollten, war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als die Farm aufzugeben und nach der Rettungsleine der neuen Kolonisierungsinitiative zu greifen. Orli hatte jene kalte, feuchte, dunkle Welt verabscheut, aber wenn sie dort geblieben wären… Dann wäre ihr Vater jetzt noch am Leben.

Orli hielt die Beutel in den Händen und fühlte die gummiartigen Pilze in ihrem Innern. Plötzlich wurde ihr schlecht, aber sie biss die Zähne zusammen, schluckte mehrmals, atmete durch die Nase und kämpfte gegen die Dunkelheit an. Sie hatte gerade etwas gegessen und wollte es nicht erbrechen, denn sie brauchte Kraft, um zu überleben. Und Orli wollte überleben.

Sie steckte die Pilzbeutel für später ein und setzte die Suche fort. Ihre Pelzgrille, die sie lieb gewonnen hatte, fiel ihr erst ein, als sie den zerschmetterten Käfig entdeckte und das kleine Tier tot unter einem umgestürzten Träger fand.

Das war zu viel. Orli begann erneut zu weinen, nicht nur um ihren kleinen Liebling, sondern auch um ihren Vater und alle anderen Kolonisten, um die zerstörte Siedlung. Sie schluchzte wegen all der Dinge, die sie verloren hatte, und der vor ihr liegenden Mühsal.

Schließlich verstummte sie. Es gab niemanden, der sie hörte, der Anteil nahm, und Selbstmitleid brachte sie nicht weiter. Orli beschloss, inmitten der Trümmer nach nützlichen Dingen Ausschau zu halten, die ihr beim Überleben helfen konnten.

Sie begann mit einer systematischen Suche bei den Resten ihres Hauses, räumte ein Bauelement nach dem anderen beiseite, sammelte die wenigen noch intakten Gegenstände ein und war überrascht, als sie ihre Synthesizer-Streifen entdeckte. Erstaunlicherweise funktionierten sie noch, und die Batterie enthielt genug Strom für ein oder zwei Wochen.

Orli verbrachte den ganzen Tag damit, in der Siedlung nach Dingen zu suchen, die sie vielleicht noch gebrauchen konnte, und sie fand tatsächlich das eine oder andere: medizinische Notfallpakete, eine kleine Schüssel, Proviant, Reste metallischer Kleidung, eine Drahtrolle – das alles konnte nützlich sein. Am Abend gelang es ihr, eine der automatischen Wasserpumpen wieder in Betrieb zu setzen, und daraufhin trank sie gierig. Sie überlegte, ob sie zu der Höhle zurückkehren sollte, wo sie sich verstecken konnte, wenn die Roboter zurückkehrten, aber sie war zu weit entfernt, und der Gedanke an einen langen Marsch durch die Dunkelheit schreckte sie ab.

Sie schlug ihr Lager unweit der Trümmer ihres Hauses auf und wartete dort, Tag für Tag. Am Abend spielte sie traurige Melodien auf ihren Synthesizer-Streifen, und die klagenden Töne stiegen gen Himmel auf, wie der Gesang eines einsamen Vogels.

Eine knappe Woche nachdem Orli damit begonnen hatte, die verstreichende Zeit zu messen – mit den ersten Tagen verbanden sich nur vage Erinnerungen –, kam eine Gestalt aus der weiten Grasebene.

In der Abenddämmerung zeichnete sich eine vogelscheuchenartige Silhouette im hohen Gras ab, die offenbar keine Furcht vor den Tieren hatte, dir dort lauern mochten. Der Mann blieb stehen und hob den Arm, als wollte er sich die Augen abschirmen, aber er schien Orli nicht zu sehen. Er kam näher, trug einen langen Stock wie einen Zauberstab und strich damit das Gras beiseite.

Orli hockte zwischen den Trümmern und fragte sich, ob es ein Freund der Roboter war. Doch die Gestalt des Fremden und seine Bewegungen deuteten darauf hin, dass es sich um einen Menschen handelte. Eine zweite Person auf dieser leeren Welt?

Oder hatten die Roboter menschliche Kollaborateure? Orli schauderte bei dieser Vorstellung, duckte sich hinter einen Träger und überlegte, wie dieser Mensch das schreckliche Massaker überlebt haben konnte. Sie stellte sich vor, dass er das Lagerfeuer gesehen, die Musik gehört und sie vielleicht gesehen hatte. Jetzt kam er, und sie würde sterben, so wie die anderen.

Aber er war nur ein Mann, ein dürrer Alter, wie es schien. Orli nahm ein dünnes Stück Metall, das sie als Keule verwenden konnte und das sich angenehm fest anfühlte. Sie versuchte, so grimmig auszusehen, wie es für eine verdreckte, ängstliche Vierzehnjährige möglich war, hob ihre improvisierte Waffe, verließ ihr Versteck und trat dem Fremden gegenüber.

Sofort erkannte sie den alten Eremiten Hud Steinman, der mit Orli und ihrem Vater auf Rheindic Co Freundschaft geschlossen hatte, vor dem Transfer ihrer Gruppe nach Corribus. Nach ihrem Eintreffen in der Kolonie war der alte Mann ganz allein aufgebrochen, weil er nichts mit anderen Leuten und Kleinstadtpolitik zu tun haben wollte. Natürlich! Deshalb hatte er überlebt – weil er zum Zeitpunkt des Angriffs weit von der Siedlung entfernt gewesen war!

Orli ließ alle Vorsicht fallen, winkte und eilte der Gestalt entgegen. Als sie den Namen des Mannes rief, überschlug sich ihre Stimme: »Mr. Steinman! Mr. Steinman!«

Er blieb stehen, bestürzt vom Anblick der zerstörten Kolonie und dann verblüfft von dem Derwisch, der ihm entgegeneilte. Er stützte sich auf seinen Stock und wartete darauf, dass Orli näher kam. Sie warf sich ihm mit solcher Wucht in die Arme, dass er fast gestürzt wäre.

»Ich habe den Rauch und die großen Schiffe gesehen«, sagte er und versuchte, sie auf Armeslänge zu halten. Sie war schmutzig, ihre Kleidung zerrissen. Tränen zeigten sich in ihrem rußverschmierten Gesicht. »Sag mir, was geschehen ist, Kind.«

»Ich habe die Höhlen am Ende der Schlucht erforscht, als die großen TVF-Schiffe kamen. Sie eröffneten das Feuer auf die Kolonie, zerstörten alles und töteten die Siedler…«

»TVF-Schiffe? Bist du übergeschnappt?«

»Ich habe gesehen, wie sie landeten, und es kamen Soldaten-Kompis und Klikiss-Roboter heraus. Sie brachten alle um.« Orli stockte. »Alle«, wiederholte sie und blickte über die Schulter. »Es ist nichts übrig.«

Steinman sah zur schützenden Schlucht, in der es einst eine blühende Metropole der Klikiss und vor kurzer Zeit eine Kolonie der Hanse gegeben hatte. »Du bleibst besser bei mir, Kind. Ich habe nicht nach Gesellschaft gesucht, aber du scheinst recht nett zu sein. Und zweifellos brauchst du Hilfe.«

Orli widersprach nicht. Sie sammelten die aus den Trümmern geborgenen Dinge ein, und dann folgte das Mädchen dem alten Mann ins weite Grasland von Corribus.