67 PRINZ DANIEL
OX befolgte die Anweisungen des Vorsitzenden und erwies sich als strenger Zuchtmeister. Zuvor hatte Daniel den Lehrer-Kompi wegen seiner endlosen Erinnerungen und persönlichen Geschichten über längst tote Leute verabscheut. Jetzt begann er den kleinen Roboter zu hassen.
Es erstaunte Daniel, wie wund und müde sich sein Körper anfühlen konnte: Arme, Beine, Bauch, Rücken, Muskeln, von deren Existenz er gar nichts gewusst hatte. Nie zuvor hatte er so viel Bewegung bekommen, und OX zeigte keine Gnade. Konnte ein Kompi auch nur ansatzweise verstehen, wie sich Muskelschmerzen anfühlten?
Die drakonischen neuen Maßnahmen galten noch nicht lange, aber Daniel wusste, dass er sterben würde, wenn es auf diese Weise weiterging. Die Dinge, die man von ihm erwartete, hatten überhaupt keinen Sinn. OX zwang ihn, mit perfekter Haltung zu sitzen; er durfte sich nicht entspannen, nicht einmal die Schultern hängen lassen. Er sollte auf sein äußeres Erscheinungsbild achten – obwohl ihn hier in den Folterkammern des Flüsterpalastes niemand sehen konnte.
OX berechnete den Kalorienbedarf und stellte Mahlzeiten zusammen, die bewirkten, dass der Prinz Gewicht verlor. Die Wächter brachten Teller mit enttäuschend kleinen Portionen abscheulich gesunder Nahrung. Wenn Daniel den Wächtern nicht mit einem angemessenen Maß an Respekt und Dankbarkeit begegnete, schickte der Lehrer-Kompi sie mit dem Essen fort. Warum in aller Welt musste ein Prinz höflich sein? Andere Leute sollten ihm Respekt zeigen, nicht umgekehrt! Daniels Magen knurrte ständig. Nie zuvor war er so hungrig gewesen, und er sehnte sich nach etwas Süßem.
Trotz der Erschöpfung konnte er kaum schlafen. Prinzen sollten in Luxus leben! Er ärgerte sich so sehr über die jüngsten Veränderungen, dass er sich nicht auf den Unterricht konzentrieren konnte. Doch immer dann, wenn er seine Gedanken treiben ließ, zwang ihn der Lehrer-Kompi, während der restlichen Lektion zu stehen und alles zusammenzufassen.
Er sah kein Ende des Elends und beschloss deshalb zu revoltieren. Er musste dem Vorsitzenden Wenzeslas zeigen, dass er so etwas nicht hinnehmen konnte. Er war der Prinz: Niemand durfte ihn so behandeln. Zwischen den Unterrichtsstunden begann Daniel damit, einen Plan zu entwickeln.
Zwar wollte ihn der Vorsitzende noch nicht der Öffentlichkeit präsentieren, aber Schneider hatten prächtige Kleidung angefertigt, die dem zu erwartenden Gewichtsverlust angepasst werden konnten. Dem Prinzen standen bunte Umhänge, weite Hemden aus glattem Stoff und schwere, pelz- und edelsteinbesetzte Stiefel zur Verfügung. Während des täglichen Unterrichts trug er einfachere Sachen, und er hoffte, dass sie für seinen Plan gut genug waren. Wer würde damit rechnen, dass sich ein Prinz auf diese Weise kleidete?
Eines Abends, als die Wächter eine viel zu knappe Mahlzeit brachten, Daniels unaufrichtigen Dank entgegennahmen und ihn unbeaufsichtigt bei OX zurückließen, entschied er zu handeln. Der Lehrer-Kompi hatte gerade begonnen, über institutionelle Reformen zu reden, die von der Vorsitzenden Maureen Fitzpatrick während ihrer Amtszeit eingeleitet worden waren, und er fügte seine Erinnerungen an die Zeiten hinzu, die er mit der alten Frau im Hauptquartier der Hanse verbracht hatte. Der Prinz wusste, dass ihm nur wenige Momente blieben. Er überraschte OX, indem er zu ihm lief, ihn zurückdrängte und in den Schrank stieß. Daniel sperrte ihn darin ein, bei der Kleidung und den anderen Sachen, schob dann den Riegel vor. Es gab kein elektronisches Schloss, und der Prinz begriff, dass es nicht lange dauern würde, bis sich OX befreit hatte.
Die Stimme des Lehrer-Kompi erklang hinter der geschlossenen Tür. »Lass mich heraus, Prinz Daniel. Dieses Verhalten ist inakzeptabel. Der Vorsitzende wird nicht begeistert sein.«
Daniel öffnete die Zimmertür und sah niemanden im Flur. Die gedeckten Farben seiner Kleidung – beigefarbenes Hemd, hellbraune Hose, einfache Schuhe – würden keine Aufmerksamkeit erregen. Er hatte weder Geld noch Waffen, konnte sich nicht einmal ausweisen, aber er wollte endlich frei sein. Der Rest würde sich später ergeben.
Künstliches Licht erhellte die Korridore. Trotz der schmerzenden Muskeln lief Daniel. Er wusste nicht, wo er sich befand, und er hatte keinen Plan vom Flüsterpalast. Er floh einfach in eine Richtung, erreichte einen weiteren Flur und dann eine nach oben führende Treppe. Offenbar gehörte dieser Teil des Palastes zum Keller, denn es fehlten Fenster. Im Erdgeschoss gab es sicher Türen, durch die er nach draußen gelangen konnte.
Immer dann, wenn er weiter vorn Stimmen hörte, wählte Daniel eine andere Route. Innerhalb weniger Minuten hatte er sich vollkommen verirrt und wäre nicht imstande gewesen, zu seinen Gemächern zurückzufinden. Aber das wollte er auch gar nicht.
Er entdeckte eine Tür, die ein Ausgangssymbol trug, und dahinter fand er eine weitere Treppe. Auf halbem Weg nach oben, atemlos vom Laufen, hörte er, wie ihm jemand entgegenkam. Er verharrte und sah sich vergeblich nach einem Versteck um.
Es erschienen keine Wächter, wie er befürchtet hatte, sondern drei Reiniger in Bedienstetenuniformen. Daniel wusste nicht, was er sagen sollte, aber die drei Arbeiter waren in ein Gespräch vertieft und schienen ihn kaum zu bemerken. Auf dem Treppenabsatz über Daniel öffneten sie eine Tür und verschwanden im Palast. Der Prinz war bei der Tür, bevor sie sich schließen konnte.
Er betrat den Hauptbereich des Flüsterpalastes. Bisher hatte er sich immer darüber geärgert, dass sich überall König Peters »wohlwollendes Gesicht« zeigte. Jetzt erfüllte es ihn mit Erleichterung, dass ihn kaum jemand kannte, obwohl er der Prinz war. Das versetzte ihn in die Lage, sich unbemerkt unter den hunderten oder tausenden von Bediensteten zu bewegen, die jeden Tag im Flüsterpalast arbeiteten. Es kam nur darauf an, keine Unsicherheit zu zeigen.
Schließlich erreichte er einen Teil des Palastes, in dem es Lagerräume und kleine Küchen für das Personal gab. In einer davon entdeckte Daniel eine vorbereitete Mahlzeit in einem Kühlfach. Er glaubte, ein Recht darauf zu haben. Immerhin war er der Prinz, und nach zwei Tagen des Hungers sehnte sich sein Magen nach anständigem Essen.
Das Fleisch und die Fruchtscheiben schmeckten seltsam, aber Daniel störte sich nicht an dem sonderbaren Aroma. Er aß, sah sich immer wieder um und rechnete jeden Augenblick damit, dass jemand an der kleinen Küche vorbeikam. Eigentlich wunderte es ihn, dass noch kein Alarm ausgelöst worden war. Wenn die Wächter OX im Schrank entdeckten, würden sie den ganzen Flüsterpalast durchsuchen. Er musste ihn so schnell wie möglich verlassen.
Überall waren Leute in den Fluren unterwegs. Als die Geschäftigkeit zunahm, vermutete Daniel, dass eine Art Schichtwechsel stattfand. Wie beiläufig gesellte er sich den müde wirkenden Bediensteten hinzu und trat kurze Zeit später auf eine große Terrasse. Seit einem Jahr war er nicht mehr im Freien gewesen, und nun staunte er über den Himmel.
Aber er durfte nicht wie ein Narr dastehen und zu den bunten Touristenzeppelinen über dem Königlichen Kanal emporstarren. Er eilte die flachen Stufen der breiten Treppe hinunter und warf einen Blick über die Schulter, bevor er zusammen mit vielen Leuten den großen Platz betrat. Mit einem selbstgefälligen Lächeln stellte er sich den Aufruhr vor, den seine Flucht auslösen würde.