21. Kapitel

Nachdem er dreizehn Stunden durchgeschlafen hatte, fühlte er sich bedeutend besser. Wie die Erkältung zurückgekommen war, war sie wieder verschwunden. Im richtigen Augenblick erwischt, bevor sie ganz ausbrechen konnte. Einzig ein unangenehmes Kratzen im Hals, das sich vor allem beim Schlucken bemerkbar machte, zeugte noch davon, wie mies sich Ferrari gestern gefühlt hatte. Und die Gewissheit, dass seine Mitmenschen egoistisch und ohne Mitgefühl durch die Gegend spazierten. Ausser Denise Grieder, obwohl selbst da kamen ihm Zweifel, jetzt wo seine grauen Zellen wieder normal funktionierten. Die ganze Welt lachte hinterrücks über ihn und hielt ihn für einen Simulanten.

Mittelprächtig gelaunt suchte Ferrari mit Nadine die Abteilung Neue Medien auf, die sich rund um die Uhr mit Internet, Computern, Videos und allerlei sonstigem technischen Krimskrams auseinandersetzte. Vor zwei Wochen hatten die Kollegen einen illegalen Kopier-Ring in Basel ausgehoben und Unmengen von CDs sowie Videos beschlagnahmt. Im Keller der Abteilung stapelten sich die Kisten. Und einige Videos mit Trickfilmen lagen auch bei Ferrari zu Hause. Der zuständige Leiter hatte ihn wiederholt aufgefordert, sich für Nikki doch zwei, drei Videos unter den Nagel zu reissen. Er hatte nicht widerstehen können und die günstige Gelegenheit ergriffen. In jedem von uns steckt kriminelle Energie, sinnierte er, als sie den Flur entlang zur Spezialabteilung gingen. Nikki hatte sich sehr über das unverhoffte Geschenk gefreut und ihm einen herzhaften Kuss gegeben. Das ist eine Verbrecherkarriere allemal wert!

Noldi sass über irgendwelche Akten gebeugt am Schreibtisch.

«Hallo Noldi.»

«Hallo Nadine, ciao Francesco.»

Er küsste Nadine auf die rechte Wange. Es geht voran, dachte Ferrari und schmunzelte.

«Nun, wie siehts mit dem Video aus?», nahm Nadine den Faden auf. Das Schmunzeln war ihr nicht entgangen, auch nicht der allwissende Blick, der so viel wie «Habe ich es doch gewusst» ausdrückte.

«Wie ihr ja wisst, sind die ersten drei nicht weiter interessant. Da hat er nur zu Beginn etwas aufgenommen. Der hintere Teil ist unbespielt. Ganz anders bei der vierten Aufnahme.»

«Machs nicht so spannend.»

«Bei der letzten DVD fehlt meiner Ansicht nach etwas. Ich vermute, dass da jemand etwas rausgeschnitten hat.»

«Aber sicher bist du nicht?»

«Nein, Nadine. Das kann ich auf dieser DVD nicht mehr feststellen, denn ich gehe davon aus, dass ich hier eine Kopie des Originals in Händen halte.»

«Vielleicht hat er da etwas erzählt, was er im Nachhinein gar nicht sagen wollte», überlegte Ferrari.

«Oder er machte an besagter Stelle eine Mitteilung, die demjenigen nicht passte, der uns die DVD sandte», gab Nadine zu bedenken.

«Meiner Meinung nach hat das dieser Rost nicht selber gemacht. Der sieht mir nicht einmal danach aus, als ob er überhaupt eine Kamera bedienen könnte. Eher die Person hinter der Videocam.»

«Oder gemeinsam», ergänzte Ferrari.

«Wollt ihr euch die anderen DVDs samt Todessprung nochmals zu Gemüte führen, Francesco?»

«Ja gern. Vielleicht fällt uns etwas auf, das wir bisher übersehen haben. Eine Kleinigkeit. Eine Geste, eine Formulierung oder eine Bewegung. Irgendein Detail.»

Ferrari und Nadine sahen sich innerhalb der nächsten Stunde nochmals alle Aufnahmen an. Zum Schluss den Todessprung.

«Diese Grieder ist noch recht mutig!», bewunderte Noldi die Fernsehfrau.

«Wie kommst du darauf?»

Nadines Stimme klang spitz. Oje, Noldi, du bewegst dich auf dünnem Eis. Vor seinem geistigen Auge sah Ferrari, wie er ganz langsam, aber sicher einbrach.

«Sie war ganz nahe an ihm dran. Wenn du das Standbild betrachtest, siehst du es. Es haben nur Zentimeter gefehlt.»

«Tatsächlich. Aber sie hat ihn nicht zu fassen gekriegt.»

«Ist auch gut so.»

«Wieso?»

«Glaubst du wirklich, sie hätte ihn zurückreissen können? Die wäre voll mit ihm in den Abgrund gesaust. Die spinnt, dass sie es überhaupt versucht hat.»

«Vielen Dank, Noldi. Wie siehts mit deinem nächsten Sprachaufenthalt aus?»

Ferrari hätte sich für diese Bemerkung ohrfeigen können. Wieder einmal war seine Zunge schneller gewesen als sein Verstand. In den nächsten zehn Minuten mussten sie sich eine Abhandlung über die Toscana, deren Weingüter, historisch interessanten Gebäude und Sprache anhören, ohne dass Ferrari auch nur das Geringste davon begriff. Als Noldi einmal kräftig Luft holte, nutzte er die Gunst der Stunde. Der Kommissär bedankte sich und zerrte Nadine, die förmlich an Noldis Lippen hing, in Richtung Ausgang. Mit knapper Not entging er so weiteren linguistischen Ausführungen.

«Sehen wir uns heute Abend, Nadine?»

«Ich rufe dich an. Tschüss Noldi!»