6. Kapitel

Der Kommissär ging durch die Unterführung am Schnellimbisskiosk an der Heuwaage vorbei und bog in die Steinenvorstadt. Die Restaurants- und Barbetreiber nutzten das schöne Wetter. Überall sassen die Menschen draussen und genossen den lauen Frühsommerabend. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Fröhlichkeit, Unbeschwertheit, wohin er auch blickte. Unter normalen Umständen hätte er den Trubel in der Kinostrasse genossen. Aber heute war ihm nicht danach. Beim Kino Capitol blieb er einen Augenblick stehen und blickte ins Schaufenster. Die Bilder der Filmvorschau flogen an ihm vorbei, ohne dass er sie wirklich wahrnahm. Irgendein Horrorfilm. Als ob er heute nicht schon genug Horror erlebt hatte. Horror im wahrsten Sinn des Wortes. Vor dem «Cindy» kreischten einige Mädchen. Kino oder Fastfood? Oder beides? Der Kommissär kämmte vor der Ex Libris die Auslagen mit den Ramschbüchern durch und wurde dabei von einem hungrigen Schnäppchenjäger zur Seite gestossen, der mit stierem Blick Stapel für Stapel durchforstete. Ein gehetzter Bücherwurm, in ständiger Angst, dass ihm jemand bei der Kiloware zuvorkommen könnte. Ferrari schmunzelte für einen Bruchteil einer Sekunde, dann holten ihn seine Gedanken wieder ein. Die lebensfrohen Menschen in seiner geliebten Stadt hatten nichts mit ihm zu tun. Nein. Denn im Leichenschauhaus lag ein Toter, den er auf dem Gewissen hatte.

Etwas war nicht in Ordnung. Monika sah es sofort.

«Willst du mit mir darüber sprechen, Francesco?»

«Hans Rost ist tot!»

«Ist das der Mann, der von einem Dach gesprungen ist?»

«Ja.»

«Ich habe es in den Nachrichten gehört. Anscheinend wurde der Selbstmord gefilmt.»

«Wurden die Bilder gezeigt?» Ferrari geriet in höchste Erregung.

«Nein, nur einige Male in TV1 darauf hingewiesen, dass demnächst die Beweggründe vollständig aufgezeigt würden.»

«Es geht nicht auf. Das Ganze geht nicht auf.»

Er erzählte seiner Freundin von der Vorgeschichte, den beiden Gesprächen, und was heute Morgen geschehen war.

«Glaubst du, dass er umgebracht wurde?»

«Nein, das ergibt keinen Sinn. Aber auch bei Selbstmord ist etwas seltsam. Er ruft bei TV1 an, kündigt seinen Selbstmord an. Er bereitet alles systematisch vor. Und gleichzeitig bucht er Urlaub auf Kreta. Das ist doch schizophren.»

«Handeln Selbstmörder nach logischen Strickmustern?»

«Normalerweise nicht. Aber bei Rost ist es anders. Irgendwie …», Ferrari verstummte.

«Was stört dich?»

«Die Bemerkungen von Frau Rost machen mich stutzig. Ich habe schon einmal über sie gelacht. Und jetzt läuten die Alarmglocken in meinem Hinterkopf. Sie kannte ihn verdammt gut. Und genauso, wie sie den Selbstmord voraussah, mit der gleichen Überzeugung sagt sie, dass sich bei Hans Rost eine Wandlung vollzogen habe.»

«Also doch Mord? Mit welchem Motiv? Und wie soll es der Mörder angestellt haben? Hans Rost ist doch ohne Fremdeinwirkung gesprungen, Francesco.»

«Es gibt weder ein Motiv noch einen Verdächtigen. Da hast du Recht. Trotzdem, mein Bauch sagt mir, dass etwas nicht stimmt.»

«Meinst du nicht, dass du dich ein wenig verrennst, mein Schatz?»

«Irgendetwas gefällt mir an der Sache nicht. Glaub mir, da ist was faul.»

«Dann musst du dranbleiben, Herr Kommissär! Oder ist es nur das schlechte Gewissen, das dich plagt?»

«Ich weiss es nicht, Monika. Aber ich werde es herausfinden. Zumindest will ich sicher sein, dass es kein Mord war.»

«Was gibt es denn bisher für Verdachtsmomente?»

«Keine!», brummte ein sichtlich genervter Kommissär.

«Ist er vom Dach herunter gesprungen?»

«Ja!»

«Oder wurde er gestossen?»

«Nein!»

«Bist du sicher?»

«Ja. Stalder sagte es richtig. Er stand reglos am Geländer, dann gab er sich einen Ruck und sprang. Hätte dort oben ein Kampf stattgefunden, müsste man es auf dem Film sehen.»

«Dann ist er freiwillig in den Tod gesprungen.»

«Ja! Aber vielleicht hat ihn jemand in den Tod getrieben.»

«Wie meinst du das?»

«Vielleicht wurde er erpresst oder mit einem Problem nicht fertig. Ach, ich weiss es selbst nicht. Du hast bestimmt Recht, Monika. Ich lasse die Finger davon.»

Monika schaute ihn von der Seite her an.

«Ich glaube dir kein Wort, mein Schatz! Und, wie ist deine neue Sekretärin?»

Ferrari hatte seiner Freundin am Abend zuvor von seinem unfassbaren Glück erzählt.

«Juristin, um die dreissig, intelligent, schöne Figur. Schlicht ein Männertraum.»

«Hm!»

Ferrari lachte.

«Schau mich nicht so an, mein Schatz. Keine Angst. Ich bleibe dir treu. Sie ist nicht mein Typ. Wahrscheinlich werden sie Schlange stehen, vom Detektiv bis zum Ersten Staatsanwalt. Und sich bei ihr die Köpfe einrennen.»

«Bist du sicher?»

«Sicher bin ich sicher. Die lässt alle abblitzen.»

«Das meine ich nicht, mein Schatz.»

Sie gab ihm einen Nasenstüber.

«Oh! Bist du eifersüchtig?»

«Wenn ich die Beschreibung höre, könnte ich es werden», gestand Monika leise.

«Ist Nikki da?»

«Nein, sie übernachtet bei einer Freundin.»

«Falls du nichts anderes vorhast, hätte ich eine Idee für heute Abend. Na, wie wärs, Frau Apothekerin?», fragte Ferrari zärtlich.