9. Kapitel

Ferrari fuhr durch die Innenstadt zurück ins Kommissariat. Weshalb hatte er Heinz Werner nicht erzählt, dass auch er die Primarschule im Matthäusschulhaus und danach die Realschule im Inseli besucht hatte, bevor ihm, dem Jungen aus dem Arbeitermilieu, der Sprung ans Gymnasium geglückt war? Weil es irgendwie nicht gepasst hätte. Das Tram ratterte durchs Kleinbasel. Häuserzeilen soweit das Auge reichte. Ein graues Häusermeer mit einigen bescheidenen Hochhäusern. Keine Wolkenkratzer im eigentlichen Sinn. Einzig der Messeturm setzte einen markanten architektonischen Akzent und verlieh der Achse Greifengasse-Clarastrasse etwas Grossstädtisches. Das gefiel Ferrari. Was fehlte, waren grosszügige Gartenanlagen und grüne Lungen. Unwillkürlich dachte er an seinen fünfwöchigen Aufenthalt in New York. Er war förmlich durch die atemberaubenden Häuserschluchten gerannt. Tief beeindruckt, aber auch beengt und erdrückt hatte sich der Kommissär gefühlt. Und nichtig angesichts der Dimensionen. Es war bestimmt Gewöhnungssache, wie so vieles andere. Wahrscheinlich fühlte sich ein New Yorker im kleinen und beschaulichen Basel auch nicht gerade wohl. Alles ist eine Frage der Relationen.

Im Büro warf er seine Jacke über den Besucherstuhl. Nach wie vor gab es keinerlei Hinweise dafür, dass Hans Rost ermordet worden war. Wäre da nur nicht sein komisches Gefühl im Bauch gewesen, sein feines Gespür für Dinge, die sich in der Tiefe verborgen hielten und die er mit Hartnäckigkeit und Ausdauer fast immer an die Oberfläche zu zaubern verstand, einem inneren Drang folgend. Staatsanwalt Borer bremste Ferraris Sturm-und-Drang-Gefühl jäh.

«Ein bisschen wenig, um eine Morduntersuchung einzuleiten, Ferrari.»

«Ich will nur noch einige Abklärungen treffen. Zum Beispiel herausfinden, wo sich Rost jeden Donnerstagabend aufhielt.»

«Bei seiner Geliebten!»

«Mag sein. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht steckt mehr dahinter.»

«Eine geheimnisvolle Verschwörung? Ja genau, Rost war Mitglied eines Dealerrings und verkaufte immer am Donnerstag Drogen in grossen Mengen. Oder er war Mitglied bei einer Loge, die sich die Welt unter den Nagel reissen will. Jetzt, wo er aussteigen wollte, floh er aufs Dach seines Arbeitsortes und wurde von seinen Logenbrüdern gestellt und heruntergestossen.»

«Ja, so oder ähnlich!», antwortete Ferrari kleinlaut.

«Absolut filmreif! Ich sehe mich schon in einer der Hauptrollen. Also gut, verbieten werde ich Ihnen Ihre Untersuchungen nicht. Finden Sie heraus, ob Ihre Intuition richtig ist. Mehr ist es ja nicht. Aber bitte alles in Massen. Auf Ihrem Tisch liegen noch andere Fälle. Messerstecherei mit Todesfolge und so. Greifbare Taten und keine Phantommorde. Haben wir uns verstanden, Ferrari?»

«Ihr Sarkasmus ist bemerkenswert, Herr Staatsanwalt. Und Ihre Grosszügigkeit erst. Sie offenbaren mir ja ganz neue Seiten.»

«Im Zynismus stehen Sie mir in Nichts nach. Letztendlich sind wir da, um Morde aufzuklären, und nicht, um Selbstmorde zu Morden umzufunktionieren.»

«Schon gut. Ich spreche noch mit Rosts Dienststelle, dann lese ich den Untersuchungsbericht von Studer und wenn sich keine neuen Erkenntnisse ergeben, schliesse ich die Sache ab.»

«Gut, das klingt vernünftig. Wie sind Sie eigentlich mit Ihrer neuen Sekretärin zufrieden, Ferrari?»

«Sie macht sich gut. Hat innerhalb eines Tages Ordnung in mein Chaos gebracht. Weshalb haben Sie mir nicht gesagt, dass sie Polizistin ist?»

«Habe ich das nicht?»

«Nein, ganz bestimmt nicht.»

«Ist ja auch nicht so wichtig. Damit wir uns verstehen, Ferrari, sie ist Ihre Sekretärin. Sie ist nicht befugt, Ermittlungen durchzuführen. Ist das klar?»

Die Schärfe der Tonlage gab Ferrari zu denken. Sobald der Fall Rost abgeschlossen ist, werde ich in Bern einige Nachforschungen anstellen. Wie ich es mir vorgenommen habe. Und, dass Nadine bereits in die Ermittlungen involviert ist, werde ich dir bestimmt nicht auf die Nase binden. Ferrari nickte und lächelte sein schönstes Lächeln.

Nadines Anfrage bei Rosts Dienststelle ergab, dass er nie am Donnerstagabend länger gearbeitet hatte und dass er vor einiger Zeit einen Posten in der Oberzolldirektion abgelehnt hatte. Unverständlicherweise, wie Rosts Vorgesetzter betonte.

«Was macht eigentlich ein Zollinspektor?»

«Das habe ich Rosts Chef auch gefragt. Scheint sich um ein ziemlich komplexes Aufgabengebiet zu handeln. Soweit ich es begriffen habe, leitet er das gesamte Personal innerhalb eines Zollinspektorats. Rosts Abteilung ist für die Planung, Organisation und für die Arbeitsabwicklung des Zolls verantwortlich. Und Rost sass in gesamtschweizerischen Gremien, in denen Projekte ausgearbeitet wurden. Man wollte ihn längst zum Oberzolldirektor befördern. Aber er hat sich standhaft geweigert.»

«Wow! Da spricht die Fachfrau. Ich bin beeindruckt.»

«Willst du noch wissen, was ein Oberzolldirektor für Aufgaben hat?»

«Danke, mein Bedarf ist gedeckt.»

«Etwas habe ich noch vergessen, fällt mir gerade ein. Rost war auch für die Medien verantwortlich.»

«Für die Medien?»

»Ja. Sozusagen der Pressesprecher des Zolls. Rost muss schon etwas auf dem Kasten gehabt haben.»

Ferrari nickte.

«Ich habe mir die ganze Zeit überlegt, wo ich Rost schon einmal gesehen habe. Das war vor etwa zwei Jahren. Es ging damals um einen grossen Drogenfund, der am Bahnhof vom Zoll sichergestellt wurde. Da hat er im Fernsehen ein Interview gegeben.»

«Das ist gut möglich. Solche Termine gehörten zu seinen Aufgaben. Das Gespräch mit Rosts Boss dauerte gut eine Stunde. Der wollte gar nicht mehr aufhören zu reden.»

«Und was hat Rosts Vorgesetzter sonst noch erzählt?»

«Nichts von Belang. Ein aufgeblasener Pfau, der mich übrigens zum Essen eingeladen hat. Das Gespräch hat uns nicht wirklich weiter gebracht. Was hat Rost nur jeden Donnerstagabend gemacht?»

Eine Frage, die Ferrari vorerst auch nicht beantworten konnte.

«Kannst du versuchen, etwas über Heinz Werner in Erfahrung zu bringen, Nadine?»

«Geht klar. Solange ich nicht mit dir Klinken putzen gehen muss, macht mir die Arbeit richtig Spass. Hat Borer nach mir gefragt?»

«Nein. Aber ich habe ihn gefragt, wieso er mir verheimlicht hat, dass du Polizistin bist.»

«Und was hat er darauf geantwortet?»

«Ein Versehen, einfach vergessen», flunkerte Ferrari und nahm sich Studers Autopsiebericht vor. Nadine hatte Recht, es gab keine neuen Erkenntnisse. Keine Gewaltanwendung. Nur Prellungen und Brüche.