22. Kapitel
Es gab eine Anzahl von Ungereimtheiten und offenen Fragen, die Ferrari immer mehr stutzig machten. Zuerst einmal diese letzte Aufzeichnung, bei der offensichtlich etwas gelöscht worden war. Eine Sequenz fehlte. Warum? Und von wem gelöscht? Vom Mörder? Oder doch von Rost selbst? Wer war die unbekannte Person, die Denise Grieder laufend mit DVDs belieferte und über sämtliche Schritte von Hans Rost Bescheid gewusst hatte? Wenn es gelang, diese zu finden, war der Fall praktisch gelöst. Nur sie konnte Licht ins Dunkel bringen. Es war anzunehmen, dass dieselbe Person auch die Aufnahmen gemacht und Hans Rost bis zum Abschluss begleitet hatte. Ein ebenfalls ungelöstes Rätsel waren die zwei Millionen, die Rost in den letzten eineinhalb Jahren gescheffelt hatte. Woher stammte dieser enorme Betrag? Vielleicht doch ein Lottogewinn? Oder war Hans Rost womöglich ein Erpresser? Den letzten Gedanken verwarf der Kommissär sofort wieder. Vollkommen geheimnisvoll schliesslich war der Todessprung. Aus Stalders Aufnahmen ging klar hervor, dass er sich über das Geländer gestürzt hatte. Dazu passte auch die Ankündigung des Selbstmordes beim Sender TV1. Die Sendeleitung nahm solche Anrufe immer auf Band auf. Wie die Untersuchung ergeben hatte, war es ohne Zweifel die Stimme von Hans Rost gewesen. Ausserdem wurde die Szene von den beiden Augenzeugen vor Ort übereinstimmend bestätigt. Bei aller Quotengeilheit nahm Ferrari Denise Grieder nicht ab, dass der Sturz spurlos an ihr vorbeigegangen war. Die Bemerkung von Arnold Blumer, dass Denise Grieder versucht habe, Rost festzuhalten, auf die Gefahr hin, selber runterzustürzen, und danach in einen Weinkrampf ausgebrochen war, sprach Bände.
Ein verdammt kniffliger Fall, resümierte Ferrari. Oder habe ich mich verrannt? Aus einem Selbstmord einen Mordfall kreiert? Was sprach überhaupt für meine Theorie? Er dachte lange darüber nach. Eigentlich nur die paar Ungereimtheiten und unbeantworteten Fragen. Wirkliche Verdachtsmomente, die auch nur annähernd für eine Mordtheorie sprachen, gab es keine. Von stichhaltigen Beweisen konnte schon gar keine Rede sein. Wäre er Staatsanwalt und würden ihm die Akten so vorgelegt, hätte er objektiv für einen klassischen Selbstmord plädiert. Nach einer weiteren halben Stunde gestand er sich ein, dass er einem Phantom nachrannte. Er schloss symbolisch die Akte und zog einen Schlussstrich unter den Fall Rost. Schluss, aus und vorbei.
Ferrari erhob sich langsam. Er wollte Nadine seine eben gewonnene Erkenntnis und den schweren Herzens gefassten Entschluss mitteilen, als sie plötzlich in sein Büro stürmte.
«Francesco, wir müssen zu Denise Grieder. Es ist eine neue DVD aufgetaucht. Kommst du?»
Nadine wartete keine Antwort ab, sondern schob den unverständlich murmelnden Kommissär ungeduldig zum Ausgang. Einzelne Worte wie Schlussstrich, Phantom und verrannt glaubte Nadine zu hören. Ein komischer Kauz war ihr Chef, sie konnte sich nur wiederholen.
«Ah, es geht Ihnen besser, Francesco. Möchten Sie einen Tee? Hallo, Frau Kupfer.»
«Danke, ein Kaffee wäre mir lieber.»
«Für Sie auch?»
Nadine nickte nur und half wie beim letzten Mal. Beinahe ein eingespieltes Team. Aber Freundinnen werden die beiden wohl nie, dachte Ferrari und nahm sich vor, nur noch diese eine Aufzeichnung anzusehen, um seinen ruhelosen Geist zu beruhigen. Danach war Schluss, sofern sich keine Verdachtsmomente auftaten. Ein für alle Mal.
«Die Botschaften häufen sich!», frohlockte Denise Grieder und zeigte auf den noch verschlossenen Versandschuber.
«Wenn diese Aufnahmen keine weiteren Erkenntnisse bringen, stelle ich meine Untersuchungen ein.»
«Jetzt mal ganz ehrlich, Francesco. Was glaubten Sie, herauszufinden?»
«Ich war von Anfang an überzeugt, dass Hans Rost ermordet wurde. Reine Intuition. Aber offensichtlich habe ich mich geirrt.»
«Tja, dann kann mich wohl nur noch diese DVD retten. Vielleicht offenbart sie uns den wahren Mörder.»
«Wieso rettet Sie das, Denise?»
«Weil auch ich von Anfang an mit einer Mordstory spekuliert habe. Ein Selbstmörderporträt mit Todessprung bringt hohe Einschaltquoten. Sicher. Aber ein Mord, der als Selbstmord getarnt wurde, bringt den Durchbruch. Diese Sensationsgeschichte könnten wir weltweit verkaufen und unwahrscheinlich viel Geld verdienen.»
«Was heisst das in Franken?»
«Das ist schwer zu sagen. Allein für die deutschsprachigen Rechte kassieren wir mehrere Millionen. Weltweit multipliziert, sprechen wir von Lizenzeinnahmen von über hundert Millionen. Mein Sekretär hängt seit dieser Woche an der Strippe und klärt ab, wer interessiert ist. Wir haben bereits Vorverträge über zehn Millionen abgeschlossen.»
«Das ist unglaublich!»
«Aber wahr, Francesco. Nichts zieht so, wie das Elend des anderen.»
«Und Sie kassieren für eine Sendung hundert Millionen?», fragte der erstaunte Kommissär.
«Wir machen eine mehrteilige TV-Show daraus. Wenn wir das Material ein wenig strecken, gibt es genug her. Hundert Millionen ist das absolute Minimum. Ich schätze, dass wir in Europa rund fünfzig bis sechzig Millionen einnehmen. Vielleicht schon die hundert Millionen knacken. Und dann gehts weiter nach Übersee.»
«Und was ist mit Christina Rost?»
Sie blickte ihn irritiert an.
«Wie meinen Sie das?»
«Bekommen Sie keine Gewissensbisse?»
«Ach, jetzt verstehe ich, worauf Sie hinaus wollen. Ehrlich gesagt, nein. Bringen wir die Story nicht, macht es ein anderer. Da muss sie durch. Wir werden ihr eine grosszügige Abfindung bezahlen.»
«Nach dem Motto, mit Geld kann man alles kaufen», setzte Nadine nach.
«Oh, wieder einmal ein Votum des weiblichen Moralapostels! Sie treffen den Nagel auf den Kopf, meine Liebe. Geld öffnet sämtliche Türen und macht dich zum Herrscher der Welt. Über mir thront nur ein Gott, die Einschaltquote.»
«Sie sind eine schreckliche Frau.»
«Danke für das Kompliment, Frau Kupfer. Aus Ihrem Mund gefällt mir das besonders gut. Allerdings glaube ich nicht, dass Sie beide käuflich sind. Keine Regel ohne Ausnahme.»
«Das betrachte ich jetzt als Kompliment, Denise.»
«Sie sind ein eigenartiger Mensch, Francesco. Ein Mensch mit Prinzipien, vom Aussterben bedroht.»
«Dürfen Sie das überhaupt?»
«Was?»
«Ist es juristisch zulässig, dass Sie Hans Rost der Öffentlichkeit vorführen? Was geschieht, wenn Christina Rost gerichtlich gegen Sie vorgeht?»
«Das lasse ich getrost auf mich zukommen. Prozesse sind teuer.»
«Christina Rost verfügt über zwei Millionen.»
«Sie wollen mich nur verunsichern, Francesco. Ich werde mit ihr eine Vereinbarung treffen. Zudem ist unsere Rechtsabteilung der Ansicht, dass Christina Rost keine rechtlichen Schritte gegen einen Dokumentarbericht ergreifen kann. Wir sind auf korrekte Art und Weise an alle Unterlagen gekommen. Die DVDs wurden uns zugeschickt. Und der Zufall war beim Sprung in den Tod auf unserer Seite. Sie sehen, wir sind gewappnet. Ausserdem muss uns Frau Rost im jeweiligen Land verklagen und die Gerichtsmühlen mahlen langsam. Bis ein Richter etwas entscheidet, vergehen Jahre. Mit zweifelhaftem Ausgang für Frau Rost. Wenn sie versucht, die Ausstrahlung mit einer superprovisorischen Verfügung zu verhindern, bringen wir eben bis zur Entscheidung des Gerichts immer wieder einen Zwischenbericht. Das heizt die Zuschauer erst richtig an.»
«Sie sind eiskalt, Denise.»
«Übertreiben Sie es nicht mit den Komplimenten, Francesco! Nun, was ist, soll ich die DVD reinschieben?»
Ferrari nickte stumm.
Vollkommen überraschend hielt Hans Rost die Dienstagsausgabe der «Basler Zeitung» in den Händen. Er wirkte noch unsicherer als auf den bisherigen Aufnahmen.
«Dies ist jetzt mein letztes Video. Die Ereignisse überschlagen sich. Deshalb haben wir den Aufnahmetermin vorverlegt. Heute führte ich ein Gespräch mit einem Kommissär von der Basler Polizei. Christina bat ihn darum, mit mir zu sprechen. Wir unterhielten uns sehr angeregt. Selbstverständlich erzählte ich ihm nicht die ganze Wahrheit. Ich glaube, dass er meine Version geschluckt hat. Dieser Ferrari ist bestimmt ein anständiger Mensch, aber nicht besonders intelligent. Er schaute mich mit seinem Bernhardinerblick treuherzig an und entschuldigte sich mal für mal. Beinahe kam es mir vor, als ob er sich dafür entschuldigen wolle, dass er geboren wurde. Ich habe ihm eine schöne Geschichte aufgetischt. Er liess sich schon nach wenigen Minuten von mir einlullen.»
Ferrari rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her.
«Soll ich die peinliche Szene überspringen, Francesco?», flötete Denise Grieder genüsslich.
«Nein! Ich habe mich tatsächlich von ihm einlullen lassen. Ansonsten, kein Kommentar», brummte der Kommissär. «Also, weiter!»
«Ich konnte ihm natürlich nicht erklären, dass er mit seiner Predigt zu spät gekommen ist. Ich werde Christina beruhigen und mit einer Reise nach Kreta überraschen. Ich bin vollkommen erlöst. Die ganze Anspannung scheint von mir abzufallen. In den nächsten Tagen bringe ich jetzt diese Geschichte zu Ende.»
Er trank einen Schluck Wasser.
«Leider habe ich einen grossen Fehler gemacht. Hansruedi war gestern bei mir. Er ist nicht in der Lage, das Darlehen zurückzuzahlen. Er bat mich auf Knien, ihm mehr Zeit einzuräumen. Seine Geschäfte würden gut laufen. Aber wenn ich jetzt von ihm verlange, dass er das Geld augenblicklich zurückzahlen müsse, könne er sich gleich eine Kugel durch den Kopf schiessen. Es macht keinen Sinn, den Druck auf ihn zu erhöhen. Ich werde mir etwas anderes überlegen.»
Erneut griff er zum Glas.
«Ich habe grosse Angst.»
Er unterbrach sich und überlegte, wie er weiterfahren sollte.
«Was kommt denn jetzt, Francesco?», flüsterte Nadine.
«Psst, es geht weiter.»
«Grosse Angst um meine Familie. Gestern habe ich auch mit Heinz gesprochen. Er hat mich bedroht, wollte mich zusammenschlagen. Er warf mir eine Bierflasche nach. Nur mit Mühe konnte ich ausweichen. Ich weiss nicht, was ich tun soll. Heinz ist nicht bereit, die halbe Million zurückzuzahlen und drohte mir erneut. Nicht nur damit, dass er Christina alles erzählen würde. Er sagte wortwörtlich, dass er mich umbringen würde. Und nicht nur das. Er würde auch Christina und Edith umbringen, wenn er wegen mir seine Existenz verliert. Und ich traue ihm das zu. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass wir uns nochmals in einer Woche treffen. Er versucht in der Zwischenzeit, das Geld doch noch aufzutreiben. Zumindest hat er das gesagt, nachdem er sich einigermassen beruhigt hatte. Ich weiss gar nicht, ob ich nicht mit diesem Ferrari darüber sprechen soll. Nur, dann muss ich auch alles andere erzählen und das will ich natürlich nicht. Auf jeden Fall werde ich Heinz nicht mehr in Kleinhüningen aufsuchen. Wir treffen uns entweder im Bahnhofsrestaurant oder an einem Ort, wo ich nicht alleine mit ihm bin. Jetzt nimmt das Ganze Formen an, die ich nicht voraussehen konnte. Es ist nicht mehr kalkulierbar. Es läuft aus dem Ruder. Unter keinen Umständen darf Christina und Edith etwas geschehen. Mein Gott, was habe ich nur angerichtet. Von Hansruedi kann ich wie gesagt nichts erwarten. Das kriege ich aber schon auf die Reihe. Heinz muss hingegen das Geld sofort zurückzahlen. Ich brauche es. Und dann ist endlich alles wieder wie früher!»
Hans Rost lächelte zaghaft. Die Kamera verharrte noch einige Sekunden auf ihm und schwenkte dann zur Seite.
«Soll ich weiter vorwärts spulen?»
«Wie? Ja, bitte.»
Die restliche DVD war leer.
«Und jetzt, Francesco?»
«Jetzt fahren wir nach Kleinhüningen und nehmen uns Heinz Werner vor.»
«Wir?»
«Nadine und ich. Sie bleiben bitte hier, Denise, und halten die Stellung.»
«Schade, ich wäre gerne dabei gewesen. Sie informieren mich doch über das Gespräch, Francesco?»
«Abgemacht.»
Sie fuhren mit dem Lift in die Tiefgarage. Voller Tatendrang klemmte sich Ferrari auf den Beifahrersitz des Porsches. Sein Vorsatz, den Fall mangels Indizien ad acta zu legen, war wie weggeblasen.
«Soll ich wirklich mitkommen?»
«Nur, wenn du willst, Nadine. Zwingen kann ich dich nicht dazu.»
«Ich weiss nicht …»
«Du kannst mich ja nach Kleinhüningen fahren und draussen auf mich warten.»
«Nein. Ich komme mit. Mitgegangen, mitgehangen», entschied sich Nadine und gab Gas.