8. Kapitel
Das Stammlokal des Kegelklubs Harmonie, das Restaurant «zum Anker», befand sich in Kleinhüningen. Ferrari fuhr mit dem Achter ins Kleinbasel, vorbei an der Zentrale eines riesigen erfolgreichen Pharmakonzerns. Unweigerlich wurden Erinnerungen an seinen letzten Fall wach, der ihm den Ruf als Schickeria-Kommissär eingebracht hatte. Was solls, die Kollegen können es nicht lassen. Reiner Neid, dachte Ferrari und stieg an der Endstation aus. Vom Hafen her hörte man Schiffssirenen und kreischende Möwen, die sich gegenseitig das Futter streitig machten. Der «Anker» befand sich in einem renovierten Eckhaus, das wahrscheinlich aus dem 19. Jahrhundert stammte. Heinz Werner, Wirt und Inhaber der Liegenschaft, so viel hatte Nadine bereits ausfindig gemacht, erwartete ihn.
«Bier oder Wein?», war die Begrüssung.
«Bier hatte ich schon. Also bleiben wir dabei», entgegnete der Kommissär.
«Setzen wir uns an die Bar oder lieber an den Tisch dort hinten?»
Ferrari sah sich um. Das Restaurant war für einen Nachmittag aussergewöhnlich gut besetzt.
«Erstaunlich, nicht wahr? Das Lokal ist immer bumsvoll!»
«Und weshalb?»
Der Wirt nahm das Reservé-Schildchen vom letzten freien Tisch und setzte sich.
«Ganz einfach, Köpfchen!», er tippte sich an die Stirn. «Vor einigen Jahren stand ich kurz vor dem Aus. Dann hatte ich die geniale Idee mit Basel Tourismus. Sie unterbrechen die Touristenführungen hier im Rheinhafengebiet und kehren bei mir ein. Das ist das ganze Geheimnis. Bin halt ein schlaues Kerlchen!»
Der Erfolg schien ihm Recht zu geben.
«Verdammt noch mal, jetzt bin ich aber gespannt, was Sie von mir wollen. Verdammt hart für Christina. Wie kommt der Hans dazu, solch einen Mist zu machen? Er war doch immer fröhlich und zu einem Spässchen aufgelegt.»
«Sie waren einer seiner besten Freunde?»
«Seit der Kindheit. Wir sassen immer in der gleichen Schulbank. Haben uns gegenseitig abgeschrieben. Er bei mir Sprachen, ich bei ihm Mathematik. Primarschule im Matthäusschulhaus, Realschule im Inseli. Dann trennten sich unsere Wege. Aber nur beruflich. Wir blieben immer in Kontakt.»
«Auch durch den Kegelklub.»
«Ja, vor allem durch den Kegelklub. Er ist … war unser Star. Verdammt noch mal, was für eine Schande! Es gibt nicht mehr viele wie ihn. Die Jungen interessieren sich nicht fürs Kegeln. Bowling ist in, denn das ist schneller, mehr Action, mehr Power. Du kannst mehr draufhauen und auf den Bahnen gibts laute Musik. Modernes Zeugs, versteht sich. Samstagnacht sogar noch eine Lightshow. Darauf stehen die Dreikäsehochs. Da kann ich mit meinen zwei Bahnen nicht mithalten. Will ich auch nicht. Kegeln ist etwas für Männer, für richtige Männer», fügte er augenzwinkernd hinzu. «Wir kegeln, saufen und rauchen. Und wenn wir die Kugel irgendwann nicht mehr halten können, dann schliesse ich halt die Bahn. Aber Schluss mit dem Gequatsche, was wollen Sie von mir? Ihre Sekretärin hat etwas von Kommissariat und Leib oder Leben geredet.»
Der joviale Ton war verklungen. Ein leises Misstrauen lag in der Stimme von Heinz Werner.
«Ich arbeite beim Kriminalkommissariat und ermittle unter anderem in Tötungsdelikten.»
«Ja, du heilige Scheisse! Nun sagen Sie mir nicht, dass Hans ermordet wurde.»
«Könnten Sie sich das vorstellen?»
«Nein und nochmals nein. Ich kann mir weiss Gott vieles vorstellen, nur das nicht.»
«War auch keine ernst gemeinte Frage. Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Wenn jemand Selbstmord begeht, muss die Polizei trotzdem standardmässig einige Untersuchungen durchführen», flunkerte der Kommissär. «Da ich bereits die Familie Rost kannte, wurde ich damit beauftragt. Also, ich muss Sie enttäuschen, es war kein Mord.»
«Jetzt haben Sie mich aber ganz schön verarscht. Der Hans konnte keiner Fliege was zuleide tun. Der lebte so richtig nach der Bibel. Haust du ihm die oberen Zähne raus, dann hält er dir noch die unteren hin.»
Diese Bibelversion kannte der Kommissär bisher noch nicht. Er würde sie sich aber merken.
«So schildert ihn auch seine Frau.»
«Ein verdammt tolles Weib, die Christina. Ich bin immer scharf auf sie gewesen. Ich werde sie mal einladen. Nach einer gewissen Zeit.»
«Sind Sie verheiratet?»
«Witwer, seit beinahe zehn Jahren. Konnte mich nicht für eine andere entscheiden. Aber die Christina, die wäre schon was.»
«Ihre Kegelabende sind sicher eine feuchtfröhliche Angelegenheit.»
«Das will ich meinen. Wie gesagt, kegeln, saufen und rauchen. Nehmen Sie noch eine Stange, auf Kosten des Hauses?»
«Ich weiss nicht. Ja, doch, eine geht noch rein.»
«Ja, verdammt noch mal, das gefällt mir. Emmy, bring uns noch zwei Bier. Bei uns gehts immer hoch zu und her, Herr Kriminalkommissarius.»
Die Stimmung hatte sich wider Erwarten gewendet. Als wäre Ferrari ein alter Freund prostete ihm der Wirt zu.
«Auf Hans! Er war ein Naturtalent im Kegeln. Möge er in Frieden ruhen.»
«Ja, verdammt noch mal.»
«Was meinen Sie?», fragte Werner erstaunt.
«Sie haben vergessen, ‹Ja verdammt noch mal› zu sagen.»
«Ja, verdammt noch mal, Sie gefallen mir. Sie gefallen mir ganz ausgezeichnet», schrie er durch den Saal und liess seine Pranken auf die Schultern des Kommissärs klatschen. «Mit ihm hätten wir bestimmt die Basler Meisterschaft zum zwölften Mal gewonnen.»
«Und jetzt ist er tot», stellte Ferrari sachlich fest.
«Was hat denn das damit zu tun?»
«Sie würden die Meisterschaft gewinnen, wenn er noch am Leben wäre.»
«Ja, verdammt noch mal, jetzt weiss ich, worauf Sie hinaus wollen. Die ist doch schon vorbei. Nein, Hans ist seit längerem gar nicht mehr zum Kegeln gekommen.»
Ferrari hielt den Atem an. Alles in ihm war angespannt.
«Nicht mehr gekommen? Und bitte die Antwort ohne Fluchen.»
«Ja, v…, also ich konnte ihn einfach nicht mehr dazu bewegen. Sein Beruf frass ihn auf. Ich glaube, er war hoffnungslos überfordert. Er benutzte den Donnerstagabend, um seine Rückstände aufzuarbeiten.»
«Woher wissen Sie das?»
«Er hat es mir im Vertrauen erzählt. Nur Christina durfte nichts davon wissen. Sie glaubt bis heute, dass er den Donnerstagabend mit uns verbracht hat. Er ist … war ein armes Schwein. Aber ein liebes, armes Schwein. Er wollte nicht, dass sich Christina Sorgen macht. Also liessen wir sie im Glauben, dass er bei uns ist.»
«Sind Sie sicher, dass er arbeitete?»
«Ja, klar. Was denn sonst?»
«Da gäbe es so einige Möglichkeiten. Eine Freundin vielleicht?»
«Ja, verdammt noch mal, doch nicht der Hans! Der blieb seiner Christina treu bis zum … hm, Tod.»
Der Wirt verstummte nachdenklich.
«Ich glaube nicht, dass ich noch mehr wissen muss. Das reicht für meine Routineuntersuchung. Falls ich noch Fragen habe, rufe ich Sie an.»
«Machen Sie das. Stehe immer zur Verfügung.»
Ferrari erhob sich. Ich bin leicht angetrunken, ich Idiot! An der Tramhaltestelle wurde er von Werner eingeholt.
«He, Kommissarius! Was ich noch fragen wollte, können Sie kegeln?»
«Weshalb fragen Sie?»
«Ja, verdammt noch mal, jetzt muss ich doch definitiv Ersatz für den Hans besorgen. Also, was ist?»
«Nein, danke. Das ist nichts für mich.»
«Schade. Sie hätten in unseren Verein gepasst!»