3. Kapitel
Der Mai zeigte sich von seiner Schokoladenseite. Temperaturen über zwanzig Grad waren die Vorboten eines schönen Sommers. Ferrari liebte diese Jahreszeit. Schön warm, aber nicht zu heiss. Wie jeden Morgen spazierte er durch einen kurzen Waldstreifen zur Tramhaltestelle und wähnte sich für einen Augenblick im Einklang mit der Natur. Kurz innehalten und tief durchatmen. So fing der Tag gut an. Die Katerstimmung des Vortags schien vergessen. Gut gelaunt beobachtete der Kommissär zwei Krähen, die über dem Wald kreisten. Die beiden hatten ganz in der Nähe seines Hauses ihr Nest gebaut. Manchmal, wenn er auf dem Balkon sass, ein Glas Wein trank und seinen Gedanken nachhing, flogen sie provokativ nahe an ihm vorbei. Ein faszinierender Vogel, intelligent und frech. Aber nicht überall gern gesehen, denn viele Menschen sahen in ihm einen Vorboten des Todes. Neben Ferrari klatschte etwas auf den Boden. Eine der Krähen hatte eine Baumnuss aus der Luft fallen lassen. Die Nuss zersplitterte und einige Stücke rollten auf die Strasse. Unerschrocken setzte der Vogel zum Sturzflug an, pickte sie entschlossen auf und sprang erst im allerletzten Moment zur Seite, als von links ein Auto in die Seitenstrasse einbog. Der Kommissär glaubte schon, das letzte Stündlein der Krähe hätte geschlagen. Krächzend wetterte sie hinter dem Auto her.
An der Haltestelle drängte sich Ferrari an zwei älteren Menschen vorbei in den hinteren Wagen. Kurz bevor er sich auf seinen Platz setzen konnte, vibrierte sein Handy. Ein kurzes Zögern und er hatte verloren. Wütend musste er mit ansehen, wie ihm ein älterer Herr mit grauem Haar seinen Sitz wegschnappte.
«Ja, Ferrari, was gibt es denn so Dringendes?», murrte er unwirsch in die Muschel.
«Guten Morgen, Herr Ferrari. Mein Name ist Nadine Kupfer.»
«Ah, Frau Kupfer. Freut mich, Ihre Stimme zu hören. Wo sind Sie?»
«Im ehemaligen Büro von Detektiv-Wachtmeister Baer. Staatsanwalt Borer meint, dass das sowieso in nächster Zeit nicht mehr gebraucht würde.»
«Eine logische Schlussfolgerung des Staatsanwalts. Ich bin auf dem Weg ins Büro. Dann können wir die Details unserer Zusammenarbeit besprechen.»
«Nein … ich meine, Sie sollten nicht ins Büro kommen. Beim Bahnhof SBB ist anscheinend jemand ums Leben gekommen. Herr Borer möchte, dass Sie sich darum kümmern.»
«Ein Mord?»
«Das weiss ich nicht. Die Kollegen sind vor Ort. Gehen Sie hin?»
«Sicher. Ich melde mich dann später.»
Ferrari wandte sich wieder seinem unmittelbaren Sitzproblem zu. Gut, ich habe die Schlacht verloren, nicht aber den Krieg, dachte der Kommissär und stand dicht neben den älteren Herrn, der ihn irritiert ansah, war doch der Wagen fast menschenleer. Was hat ein Rentner überhaupt um diese Zeit im Tram zu suchen? Haben den ganzen Tag Zeit und blockieren doch immer zu Stosszeiten Tram, Post, Bank oder Lebensmittelgeschäft. Eine Frechheit! Der ältere Herr fühlte sich langsam, aber sichtlich unwohl. Ferrari rückte noch etwas näher. Noch ein paar Minuten und dann … Tatsächlich, an der nächsten Haltestelle erhob sich der Mann, schaute den Kommissär wütend an und verzog sich kopfschüttelnd nach hinten. Ferrari seinerseits setzte sich triumphierend auf seinen zurückeroberten Sitzplatz. Na also, wer sagts denn.
Die uniformierten Kollegen hatten den Unfallort bereits mit Bändern abgesichert. Polizeiarzt Studer winkte Ferrari zu.
«Willst du dir das wirklich antun, Francesco?»
«Ich muss wohl.»
«Ich warne dich. Der Mann ist alles andere als ein schöner Anblick.»
«Wurde er erschossen, erstochen oder erschlagen?»
Studer legte den Toten frei.
«Wie kommst du darauf? Weder noch. Der Wahnsinnige ist vom Dach gesprungen.»
Ferraris Magenwände zogen sich zusammen. Vor ihm lag ein vom Aufprall entstellter Hans Rost! Studer konnte den Kommissär gerade noch im letzten Augenblick auffangen.
«He! Du wirst mir doch nicht in Ohnmacht fallen, mein Lieber.»
Ferrari atmete tief durch.
«Danke, Peter. Es geht schon wieder. Ich kenne den Mann.»
«Bist du sicher?»
«Natürlich bin ich sicher. Seine Frau hat es kommen sehen.»
«Scheisse!»
«Ich hätte sie ernst nehmen müssen. Es ist meine Schuld, Peter.»
«Quatsch. Wenn wir alle potenziellen Selbstmörder überwachen müssten, wären wir allein schon damit rund um die Uhr ausgelastet.»
«Das ist ein schlechter Trost!», murmelte ein tief betroffener Kommissär und sah zum Dach hinauf.
«Von da oben?»
«Ja. Eigentlich ist das Gebäude gar nicht so hoch, Francesco. Aber er hat sich das Genick gebrochen. Knacks, aus, vorbei!»
«Hör sofort auf, Peter!»
«Entschuldige. Dieser, wie heisst er noch, dieser Rost ist wahrscheinlich bei vollem Bewusstsein gesprungen, hat seinen Selbstmord sogar angekündigt. Der hatte heftig einen an der Waffel.»
Ferrari sah den Polizeiarzt ungläubig an.
«So ist es, Francesco. Ist dir gar nicht aufgefallen, gell? Dort, die Jungs von TV1», er zeigte zum Aufnahmewagen der bekannten regionalen Privatfernsehstation, «wurden von ihm avisiert. Du kannst dir den Todessprung nochmals in aller Ruhe anschauen.»
«Du scherzst!»
«Frag doch Anselm Stalder, wenn du mirs nicht glaubst.»
Anselm Stalder, einer der gefragtesten Sensationsjournalisten von TV1, lümmelte vor dem Wagen herum.
«Ach, guck mal, wer da kommt! Der Superstar unserer Polizei. Was treibt Sie hierher, Ferrari? Sind Sie strafversetzt worden?»
«Keine Beleidigungen, Stalder. Stimmt es, was mir Studer erzählt?»
«Was erzählt er denn so?»
«Dass Sie den Selbstmord gefilmt haben!»
Studer schnippte genüsslich mit den Fingern.
«Ein absoluter Knüller. Da ruft der Kerl doch tatsächlich bei uns im Büro an und kündigt uns seinen Selbstmord an.»
«Und Sie sind nicht auf die Idee gekommen, uns zu informieren?»
«Nun mal halblang, Ferrari. Erstens rufen täglich irgendwelche Idioten an, die weiss der Teufel was erzählen, und zweitens wurde eure Einsatzzentrale sofort informiert.»
«Und wie kommt es, dass ihr zuerst vor Ort gewesen seid?», fragte Ferrari misstrauisch.
«Ganz einfach. Wir waren auf dem Weg zur Einweihung der MS Christian im Rheinhafen und standen gerade an der Grosspeterkreuzung im Stau, als wir von unserer Chefin übers Handy informiert wurden. Vor dem Gebäude angekommen, sahen wir den Mann oben auf dem Dach stehen. Denise war auch schon da.»
«Denise Grieder?»
«Exakt! Unser Boss. Unsere Büros sind ja hier gleich um die Ecke im Gundeli. Sie war als Erste hier, fuhr mit dem Lift hoch und versuchte, den Irren vom Springen abzuhalten. Ist ihr aber ein wenig misslungen, so wie es aussieht. Aber fragen Sie sie doch selbst.» Stalder deutete auf seine Chefin, die von einem Beamten in Uniform befragt wurde.
«Und Sie haben inzwischen fröhlich drauflos gefilmt.»
«Mann, was soll das? Können wir etwas dafür, wenn uns ein Verrückter heiss macht und für die beste Story aller Zeiten sorgt? Das lassen wir uns doch nicht so einfach entgehen. Wir sind nun mal Aktionsjournalisten, packten unsere Chance und filmten den Todessprung.»
Ferrari schüttelte ungläubig den Kopf.
«Ihr habt wirklich den Selbstmord gefilmt?»
«Kommen Sie rein in die gute Stube. Wir führen Ihnen den Sturz vor. Zum Glück konnte Denise den Mann in ein Gespräch verwickeln und dadurch Zeit gewinnen. Sonst wäre er womöglich noch runtergesaust, bevor wir unsere Kameras in Position gebracht hatten. Das hätte ich ewig bereut. Ich darf gar nicht daran denken. Puh!»
Wie konnte man nur so pietätlos sein! Vor wenigen Minuten war ein Mensch gestorben. Und es war nicht der erste Tote in Ferraris Karriere. Aber noch immer wurde ihm in solchen Augenblicken bewusst, wie endlich das Leben war. Unwiederbringlich. Ob Schicksal oder göttliche Fügung, ein sich schliessender Kreislauf relativierte das Jetzt, warf unzählige Fragen auf und blieb für immer Antworten schuldig. Die Stille tat gut. Wo aber blieb die Würde des toten Hans Rost? Sein Recht auf Privatsphäre? Verkam denn heute alles zur Realityshow? Der Kommissär verzog angewidert sein Gesicht. Es verstrichen einige Minuten, bis er sich überwinden konnte, die schockierenden Bilder anzusehen. Sie erinnerten ihn an Szenen aus dem Horrorfilm «End of Days» mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle, den er am vergangenen Samstagabend gesehen hatte. Da kehrte der Teufel kurz vor dem Millennium auf die Erde zurück, um die Weltherrschaft zu erringen. Schwarzenegger, die steirische Eiche, stellte sich ihm erfolgreich in den Weg und rettete die Welt, kam jedoch ums Leben. Nichts für zarte Nerven und definitiv nichts für ihn. Eigentlich hatte dieser Film nichts mit dem entsetzlichen Geschehen vor Ort zu tun, ausser dass in beiden Fällen das Wort Horror zutraf. Alles nur Fiktion hatte ihn Monika am Samstagabend beruhigt. Und heute? Heute wurde er brutal von der Wirklichkeit eingeholt. Die Kameras von TV1 waren real und sie hatten Hans Rost gefilmt. Die Aufnahmen waren zu Beginn ziemlich verwackelt, denn der Kameramann rannte mit der Kamera auf das Zollgebäude zu. «Wahnsinn, er springt, haltet den Mann doch auf, er springt!», schrie der Kameramann. Das Bild flog hin und her. Man konnte Hans Rost aber deutlich erkennen und eine Frau, die auf ihn einsprach. Dann drehte sich Rost von der Frau weg, kam voll ins Bild und stürzte übers Geländer in die Tiefe. Sekunden später war ein dumpfer Aufprall zu hören. «Er ist gesprungen! Scheisse! Er ist tatsächlich gesprungen», keuchte der Kameramann und richtete seine Kamera auf den am Boden liegenden Rost. Ferrari schaute sich die Aufnahmen mehrmals an.
«Das darf doch nicht wahr sein», murmelte der Kommissär.
Es lief ihm kalt über den Rücken und auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut.
«Wir waren noch nicht richtig in Stellung», hörte er Anselm Stalder sagen. «Er hätte ruhig noch ein paar Minuten warten können. Ziemlich verwackelt, die Kiste. Aber, was man sehen muss, ist immerhin drauf.»
«Ich kann es einfach nicht glauben. Wieso hat er das getan?»
«Wahnsinn!», jubelte Stalder. «Der Knüller des Jahres! Schauen Sie sich das an. Er steht auf dem Dach ganz vorne am Geländer. Meine Chefin ist nahe bei ihm und redet mit ihm. Dann dreht er sich von ihr ab. Sie versucht, ihn festzuhalten, doch bevor sie ihn erwischt, schwupp, fliegt er übers Geländer. Nicht in den Himmel, sondern auf den Betonboden. Fehlt eigentlich nur noch, dass er die Hände zum Himmel hoch streckt. Herr, ich komme! Die Szene ist zwar nicht scharf, aber für unsere Zwecke reicht es. Die Story bringen wir gross raus. Da machen wir eine Dokushow draus. Wie ist es dazu gekommen? Gab es Anzeichen für einen Selbstmord? Ferrari, wissen Sie eigentlich schon, wie der Mann heisst?»
«Wie? Nein, keine Ahnung. Und wenn ich es wüsste, wären Sie der Letzte, der es erfährt.»
«Was mich nicht sonderlich erstaunt», schmunzelte Stalder.
«Um den Tathergang genau analysieren zu können, beschlagnahme ich die Aufnahmen.»
Stalder lachte laut heraus.
«Machen Sie sich nicht lächerlich, Ferrari. Innerhalb einer Stunde habe ich den Film wieder zurück. Sparen wir uns also den Mist von wegen Beschlagnahmung und so.»
«Wann wollen Sie die Bilder in Ihrem Latrinensender bringen?»
«Gute Bezeichnung! Aber beleidigen können Sie mich damit nicht. Vorerst werden wir nur eine Meldung bringen. Wie die anderen Stationen auch. Ich will einen fundierten Hintergrundbericht machen. Mit allem Drum und Dran. Voll auf diesen Sprung aufgebaut. Mann, dafür gibt es den Pulitzer-Preis!»
«Und an seine Frau und seine Kinder, wenn es die gibt, denken Sie überhaupt nicht?», schrie Ferrari und packte Stalder am Kragen.
«Sachte, Mann. Was ist denn mit Ihnen los? Nur keine Tätlichkeiten.»
Ferrari liess ihn augenblicklich los.
«Sicher denke ich an seine Frau und seine Kinder. Pietätvoll in jeder Lebenslage! Sobald Sie mir sagen, wie der Tote heisst, stehe ich mit einem grossen Blumenstrauss bei der trauernden Witwe vor der Tür und lege an der Beerdigung einen riesigen Kranz aufs Grab. Ist doch was, oder?»
«Und immer die Kamera mit dabei.»
«Wie es sich für einen Latrinenjournalisten gehört.»
Ferrari gab sich geschlagen.
«Garantieren Sie mir, dass Sie die Bilder heute nicht senden?»
«Bin ich denn blöd, Ferrari? Bevor wir nicht die ganze Story im Kasten haben, gehen wir bestimmt nicht auf Sendung.»
«Ich hätte gerne eine Kopie des Bandes.»
«Aber sicher, Herr Oberkommissär. Das geht in Ordnung. Halten Sie mich dafür auf dem Laufenden?»
«Das würde Ihnen so passen.»
«War ja nur ein Versuch. Aber Sie kennen den Selbstmörder, stimmts?»
«Wie kommen Sie darauf?»
«Ich habe Sie beobachtet, als Sie die Leiche anschauten.»
«Und wenn es so wäre?»
«Dann sollten Sie mit offenen Karten spielen. Oder wollen Sie, dass wir der Witwe unser Beileid aussprechen, bevor Sie es getan haben?»
«Unterstehen Sie sich!» Ferrari wurde wütend. «Gut, ich kenne den Mann. Aber ich werde einen Teufel tun und Ihnen den Namen nennen. Und noch etwas, Stalder.»
«Oh, der Herr Kommissär wird ausfallend. Sollen wir das aufnehmen?»
«Nur zu, Stalder. Keine falschen Hemmungen. Und wenn Sie vor mir bei der Witwe auftauchen oder versuchen, mir zu folgen, dann garantiere ich Ihnen, dass Sie sich mit dem Falschen anlegen und es bereuen werden.»
«Oh! Eine Drohung.»
«Ein Versprechen, Stalder, nur ein Versprechen.»
«Und wie glauben Sie, dass Sie die Meinungsfreiheit unterbinden können, Ferrari?»
«Keine Sorge, nicht mit polizeilichen Massnahmen.»
«Aha! Daher pfeift der Wind!» Stalder nickte bewundernd. «Der Vischer-Clan lässt grüssen!»
«Das ist Ihre Interpretation.»
«Also gut, ich gebe Ihnen einen Vorsprung. Bis zum Mittag unternehme ich nichts, danach garantiere ich für nichts.»
«Das reicht mir. Vielen Dank für Ihr grosszügiges Entgegenkommen, Stalder.»
Der Journalist tippte mit zwei Fingern an seinen unsichtbaren Hut. Anselm Stalder wusste, dass Ferrari nicht bluffte und seine Beziehungen würde spielen lassen. Vornehme Zurückhaltung war angesagt. Sich mit dem Geldadel anzulegen, wäre höchst ungeschickt gewesen. Schon gar nicht für eine Fernsehstation, die vom Klatsch und Tratsch lebte und finanziell noch auf wackeligen Beinen stand.
Der Kommissär vergewisserte sich, dass die Kollegen nach Zeugen suchten, deren Personalien und Aussagen aufnahmen und den Kameramann sowie Denise Grieder einvernahmen. Er würde sich später noch intensiv mit der Inhaberin von TV1 unterhalten. Sie war die Letzte, die mit Hans Rost gesprochen hatte. Vielleicht hatte sie eine Erklärung, wie es zu dieser Kurzschlusshandlung kommen konnte. Ferrari verliess den Ort des Geschehens, in der Hand einen Zettel mit der Adresse von Hans und Christina Rost. Hans und Christina … Christina. Seine Miene verfinsterte sich und sein schlechtes Gewissen wog schwer. Sehr schwer.