17. Kapitel

Tags darauf blieb die Temperatur bei mageren fünfzehn Grad. Die Wetterfee hatte Regen angesagt und tatsächlich, es goss wie aus Kübeln. Der Kommissär stapfte mit seinem alten Regenschirm durch die Pfützen. Es tat gut, ein paar Schritte zu Fuss zu gehen. Dieser Bindfadenregen erinnerte ihn an seine Urlaube im Tessin. Wenn es dort einmal regnete, dann ununterbrochen. Und genauso kam es ihm heute vor. Ferrari war auf dem Weg nach Kleinhüningen, um sich mit Heinz Werner über die halbe Million zu unterhalten. War es ein Darlehen unter Freunden? Bald würde der Kommissär mehr wissen. Vorsichtshalber hatte er sich angemeldet.

«Ja, verdammt noch mal, was bringen Sie denn für ein Sauwetter mit. Und dann noch so früh am Morgen», empfing ihn der Wirt.

«Erstmal, guten Morgen, Herr Werner. Für das Wetter kann ich nichts und ich packe den Stier am liebsten früh morgens bei den Hörnern.»

«Was wollen Sie damit sagen?»

«Bloss eine Redewendung.»

«Soso. Sie sind ein komischer Vogel, Ferrari. Wollen Sie einen Kaffee mit Schuss?»

«Um Himmels willen! Nein, danke. Aber vielleicht einen Cappuccino?»

Da um diese Zeit noch kein Servicepersonal arbeitete, kümmerte sich der Chef persönlich um die Getränke.

«Vielen Dank. Bei der Routineuntersuchung, die wir, wie schon gesagt, bei jedem Selbstmord vornehmen, ist etwas zum Vorschein gekommen, das Sie betrifft.»

«Und das wäre?»

«Hans Rost hat eine halbe Million Franken auf Ihr Konto überwiesen.»

«Ja, verdammt noch mal, Sie sind jetzt schon der Zweite, der mich darauf anspricht. Aber das geht Sie einen Scheissdreck an.»

Ferrari stutzte.

«Und wer war der Erste?»

«So ein Fernsehheini. Warten Sie, ich habe mir seinen Namen notiert. Ah, hier ist er. Anselm Stalder.»

Stalder?! Woher wusste er von dem Darlehen? Der Kommissär biss sich auf die Lippen, er hatte ihn unterschätzt. Eindeutig.

«Und was haben Sie ihm erzählt?»

«Dass ich mit der Renovation meines Hauses ziemlich unter Druck geraten bin. Zuerst fuhrwerkte ich ja fröhlich drauf los. Dann standen plötzlich irgendwelche Typen vom Denkmalschutz auf der Matte und stellten Vorschriften auf, an die ich mich halten musste. Ich hatte doch keinen Schimmer, dass dieser Schuppen unter Denkmalschutz steht!»

«Das steht bestimmt in irgendwelchen Hauseigentümerakten oder im Grundbuch.»

«Ja, Sie Klugscheisser, Sie! Darum hat sich doch immer meine Hermine selig gekümmert. Ab sofort musste ich alles genau nach deren Vorschrift renovieren. Innen und aussen! Ja, verdammt noch mal, Sie glauben gar nicht, wie hartnäckig die sind, kamen laufend mit neuen Forderungen. Einmal hätte ich einen dieser arroganten Herren sogar fast verprügelt. Konnte mich gerade noch beherrschen.»

«Aber jetzt ist alles vorschriftsmässig renoviert.»

«Ja, aber zu welchem Preis! All diese Sonderwünsche gingen ins grosse Tuch, das kann ich Ihnen flüstern. Ein Neubau wäre billiger gewesen. Die Hütte ist bis zum letzten Dachziegel mit Hypotheken belastet. Und nicht mal das reichte. Mir ging ganz einfach die Kohle aus. Da ist Hans für mich eingesprungen.»

«Ein Darlehen in der Höhe von einer halben Million Franken?»

«Erraten.»

«Könnten Sie mir die schriftliche Vereinbarung zeigen, die Sie und Rost unterschrieben haben?»

Ferrari wollte auf Nummer sicher gehen.

«Gibt es nicht. Das haben wir mit einem kräftigen Handschlag besiegelt. Wie unter Männern üblich.»

«Und wie wollten Sie die Summe zurückzahlen?»

«Hans sagte, dass ich mit der Rückzahlung anfangen soll, sobald ich könnte. Er gab mir ein Bündel Einzahlungsscheine.»

«Kann ich so einen mitnehmen?»

«Heiliger Strohsack! Sie geben wohl gar nicht locker, was? Wo hab ich denn diese Dinger hingetan?»

Er kramte in einer seiner Schubladen.

«Na also, hier ist einer. Den schenke ich Ihnen.»

«Danke. Wollte Stalder sonst noch etwas von Ihnen wissen?»

«Ich soll mit ihm durch die Gassen ziehen und ein paar Schwänke aus der guten alten Zeit zum Besten geben. Diesen Zettel muss ich dafür auswendig lernen. Wird bestimmt sauglatt», Werner lachte laut und streckte dem Kommissär das Papier entgegen.

«Nein danke, das will ich mir nicht antun. Sonst kommt mir womöglich die Galle hoch. Und, machen Sie das?»

«Ja, verdammt noch mal, ich bin doch nicht blöd. Sicher mache ich das. Erstens kann ich die Kohle gebrauchen, die er mir dafür geboten hat, und zweitens sehen mich alle Freunde im Fernsehen. Ganz abgesehen von der Gratiswerbung für mein Lokal.»

«Das dürfen Sie sich natürlich nicht entgehen lassen», Ferraris zynischer Unterton war kaum zu überhören, «wenn Sie dabei nur nicht vergessen, die Raten zu zahlen, Herr Werner.»

Der Wirt lief rot an.

«Das geht dich einen feuchten Dreck an. Das ist eine Sache zwischen mir und Christina. Misch dich da bloss nicht ein, sonst …»

Der Wirt ballte seine Pranke zur Faust. Übernimm dich mal nicht, mein Freund, dachte Ferrari unbeeindruckt. Er verliess den bauernschlauen Wirt und fuhr direkt zu Anselm Stalder. Man sollte das Eisen schmieden, solange es heiss war. Wie wahr.

«Was behauptet der Kerl, Ferrari?», fragte Anselm Stalder erstaunt.

«Dass Sie ihn auf ein Darlehen von einer halben Million Franken angesprochen hätten, das er von Hans Rost erhalten haben soll.»

«Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank! Woher sollte ich von solch einem Darlehen wissen?»

«Das würde mich auch interessieren, Stalder.»

Der Kommissär fixierte ihn. In seiner Stimme schwang etwas Bedrohliches mit.

«Der spinnt doch. Wahrscheinlich hat ihm der Alkohol die Birne vernebelt. Oder es handelt sich um eine Verwechslung.»

«Klingt nicht besonders glaubwürdig.»

«Na, wenn schon. Dann steht halt Aussage gegen Aussage. Und ich nehme doch schwer an, dass meine mehr Gewicht hat als die eines Drittklassbeizers.»

«Was wollten Sie denn bei ihm?»

«Schon vergessen? Sie gaben mir doch seine Adresse. Ich zottle mit ihm durch die Gegend und er klopft ein paar flotte Sprüche dazu.»

«Einstudierte Sprüche.»

«Ich überlasse nichts dem Zufall. Immerhin basteln wir an der Jahrhundertstory. Ich gehe doch kein unnötiges Risiko ein und lasse einen Dilettanten irgendwelchen Stumpfsinn quatschen. Im Gegenteil, ich kreiere das Ganze. Reinste Choreografie in Perfektion. Wir haben ihm die Sprüche auf den Leib geschrieben. Und die Zuschauer, die werden vor lauter Mitgefühl nur noch schluchzen. Das garantiere ich Ihnen.»

«Wirklich interessant. Aber ich bleibe dabei, Sie wussten von der halben Million.»

«Unsinn! Er erzählte mir davon. Ja, genau, jetzt fällt es mir wieder ein. Er schwafelte etwas wie ‹Jetzt muss ich die Schulden an Christina zurückzahlen›. Da habe ich natürlich nachgefragt. Jetzt dreht er den Spiess einfach um, glaubt, ich hätte ihn darauf angesprochen.»

Ferrari liess es dabei bewenden. Es hatte keinen Zweck, weiterzubohren, denn Anselm Stalder stellte auf stur. Eins war klar, er wusste mehr, als er zugab. Dass Heinz Werner von sich aus über das Darlehen gesprochen hatte, glaubte der Kommissär nicht. Sehr unwahrscheinlich. Zurück im Büro liess er seine neu geknüpften Beziehungen zu Banquiers Rohner & Söhne spielen, um die detaillierten Vermögensverhältnisse von Anselm Stalder und Heinz Werner zu erfahren. Ernst Maurer kannte mit Sicherheit die richtigen Leute an den richtigen Stellen, um schnell und effizient an die Zahlen zu gelangen. Ferrari gab es nur ungern zu, aber es ging nichts über ein gutes Beziehungsnetz.

Am Nachmittag trafen die gewünschten Informationen nach und nach ein. Anselm Stalder verfügte über ein Sparkonto von 30 000 Franken und hatte zudem mit Aktiengeschäften in den vergangenen Jahren ein Vermögen verdient. Ganz anders sah es bei Heinz Werner aus, der bis über beide Ohren verschuldet war. Soweit, so gut. Aber neue Erkenntnisse brachte das nicht. Stalders Vermögensverhältnisse waren unauffällig und was den Wirt betraf, so bestätigten die Nachforschungen dessen eigene Aussage. Ferrari hatte sich mehr erhofft. Irgendeinen Ansatzpunkt, eine Ungereimtheit, eine Spur. Etwas, das ihn weiterbrachte.

«Ernst Maurer ist nochmals am Apparat. Er hat etwas Wichtiges vergessen, will es aber nur dir persönlich mitteilen. Ich habe durchgestellt, du musst nur noch abheben.»

Nadines Stimme riss den Kommissär aus dem Grübeln. Das Klingeln hatte er schlicht überhört.

«Wie? … Ja, mach ich. Da hat dein Charme wohl versagt.»

«Weil er mich noch nicht wirklich kennt.»

Ernst Maurer plauderte frisch drauflos.

«Wenn Werner nicht mehr bezahlen kann, muss die DLK, pardon, ich meine die Dahrlehenskasse, seine Liegenschaft übernehmen. Ich weiss nicht, weshalb der Sachbearbeiter eine solch hohe Hypothek bewilligt hat. Das wird für den Mann mit Sicherheit Folgen haben.»

«Vielleicht ein Freund von Werner.»

«Gut möglich. Sehr gut möglich. Scheint ja bei uns Banken gang und gäbe zu sein.»

Maurer entwickelte zunehmend Humor.

«Da ist noch etwas, das Sie vielleicht interessiert.»

«Mich interessiert alles.»

«Na, na, Herr Ferrari. Alles werde ich Ihnen nicht erzählen. Man weiss nie, wo das endet.»

«Da haben Sie recht. Was wollten Sie mir denn erzählen?», nahm Ferrari den Gesprächsfaden auf, denn Maurer drohte ins Philosophieren abzudriften.

«Vielleicht ist Ihnen bekannt, dass Grossbanken nebenbei manchmal über eine Kleinkreditbank verfügen.»

«Weshalb denn das?»

«Bei den Grossbanken können Sie praktisch nur einen Kredit aufnehmen, wenn Sie etwas als Sicherheit hinterlegen können. Eine Lebensversicherung zum Beispiel. Ist das nicht möglich, dann sind Sie kreditunwürdig und werden an eine Kleinkreditbank verwiesen, wo Sie auch ohne Sicherheiten den gewünschten Kredit erhalten.»

«Zu einem gigantischen Zinssatz. Ich verstehe langsam.»

«Zugegeben, er ist etwas höher. Sie müssen aber auch das höhere Risiko bedenken. Solche Risikokredite laufen also über eine Tochtergesellschaft der Bank, währenddessen der Hauptsitz die normalen Geschäfte tätigt.»

«Das zum Thema ‹Seriosität der Banken›.»

«Wir sind sehr seriös, Herr Ferrari. Das ist alles legal. Vollkommen legal. Aber nun zu dem, was ich noch erzählen wollte. Heinz Werner setzte kürzlich alle Hebel in Bewegung, um eine halbe Million Franken aufzutreiben. Zuerst bei der DLK, danach bei deren Tochtergesellschaft. Ohne Erfolg. Das Risiko war einfach zu gross. Aus gut informierten Kreisen, so nennt man das doch, oder?», Maurer kicherte leise, «weiss ich, dass es ihm inzwischen gelungen ist, bei einem Kreditinstitut zu zwanzig Prozent pro Jahr die halbe Million aufzutreiben.»

«Zwanzig Prozent! Ein stolzer Zinssatz.»

«Ein sehr stolzer und mehr als wir nach Gesetz verlangen dürfen. Das ist noch nicht alles. Ich habe den Geldverleiher angerufen. Wissen Sie, man kennt sich untereinander. Er bestätigte mir, dass er den Kredit bewilligt hat.»

Hier unterbrach er sich und liess einige Sekunden verstreichen.

«Und? Machen Sie es doch nicht so spannend!», drängte Ferrari.

«Aus unerfindlichen Gründen unterschrieb dieser Werner weder den Vertrag, noch holte er das Geld ab. Auf wiederholtes Nachfragen, was denn nun sei, wich ihm Werner aus und meinte schliesslich, er habe eine günstigere Geldquelle gefunden.»

«Ist das überhaupt möglich?»

«Eigentlich nicht. Mein Bekannter ist so etwas wie die letzte Hoffnung für die Verzweifelten. Denkbar wäre allerdings, dass ihm eine Privatperson das Geld geliehen hat.»

«Sie haben mir sehr geholfen, Herr Maurer. Vielen Dank.»

«Gern geschehen. Vielleicht brauche ich Ihre Hilfe auch einmal. Wollen Sie noch die Anschrift meines Bekannten?»

Ferrari kritzelte Name, Adresse und Telefonnummer auf seinen Schreibblock und legte den Hörer auf.

Wer war die besagte Privatperson? Und wozu benötigte Werner nochmals eine halbe Million? Der Wirt hatte Glück gehabt, dass er nicht in die Fänge eines Kreditinstituts geraten war. Nicht so Ferraris Schwester Patrizia! Damals, das war vor gut fünf Jahren, hatte sich ihr Mann ins Ausland abgesetzt und nichts als Schulden hinterlassen. Patrizia musste einen Kredit aufnehmen und geriet mangels Sicherheiten an einen Kredithai. Ferrari spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Auch nach dieser langen Zeit. Ihn hatte sie nicht um Hilfe gebeten. Typisch. Wie immer, wenn seine Schwester in Schwierigkeiten war, glaubte sie, diese im Alleingang lösen zu müssen. Das wenige Geld, das sie im Verkauf verdiente, reichte hinten und vorne nicht für die dreiköpfige Familie. Und schon gar nicht, um die horrenden Zinsen zu bezahlen. Das war der Anfang vom Ende. Bis Ferrari eines Abends zufällig Zeuge wurde, wie die Eintreiber seine Schwester aufsuchten und einschüchterten. Unter Tränen erzählte sie ihm alles. Am nächsten Tag stattete er dem Kreditinstitut einen Besuch ab. Einen höflichen, wie Ferrari immer wieder betonte. Aber was genau in dieser Stunde vorgefallen war, blieb bis heute sein Geheimnis. Auf jeden Fall kam es in der Folge zum Vergleich. Ferrari zahlte die Kreditsumme sofort zurück. Und zwar ohne Zinsen. Ende gut, alles gut. Inzwischen hatte ihm Patrizia ihre Schulden in Raten zurückgezahlt und war seit Kurzem frisch verliebt.

Der Kommissär blickte auf die Uhr. 16.30. Eigentlich noch früh, sehr früh, wenn man es genau nahm, um nach Hause zu fahren. Wieso eigentlich nicht, Monika würde sich freuen und er hatte definitiv etwas gutzumachen.