14. Kapitel

Missmutig stieg Ferrari aus dem Achter. Obwohl er provokativ neben einer älteren Dame auf seinen Sitz gelauert hatte, blieb die Reaktion aus. Beim Aussteigen warf er der alten Frau noch einen giftigen Blick zu und ging die letzten Meter zu Fuss.

«Schlechte Laune?»

Nadine erwartete ihn bereits.

«Die Alte sitzt auf meinem Platz.»

«Auf deinem Platz?»

«Ach, nichts weiter. Denise Grieder erwartet uns.»

«Weshalb muss ich denn mitkommen?»

«Ich dachte, ein bisschen Abwechslung würde dir gut tun.»

Nadine verzog das Gesicht. Klar, war es eine willkommene Luftveränderung zum Büroalltag. Keine Frage. Es gab nur einen kleinen Störfaktor, und der hiess Borer.

Denise Grieder hiess den Kommissär wie einen alten Bekannten willkommen.

«Hallo, Ferrari, kommen Sie rein in die gute Stube!»

Er schätzte sie auf Mitte dreissig, attraktiv, nein, er korrigierte sich, eine wunderschöne Frau. Ich bin von Schönheiten umgeben, ging es Ferrari durch den Kopf. Unwillkürlich zog er seinen Bauch ein.

«Das ist meine Assistentin Nadine Kupfer.»

Denise Grieder nickte ihr zu.

«Darf ich Ihnen einen Drink anbieten?»

«Nein, danke!»

«Ja, gerne!»

«Was nun, Nein oder Ja?»

Nadine schaute den Kommissär fragend an.

«Für mich nichts», antwortete sie spitz.

«Einen Cognac für mich, bitte. Aber nur einen kleinen.»

Ferrari liess sich den Cognac auf der Zunge zergehen.

«Hm, sehr gut! Anselm Stalder sagte mir, Sie seien sein Boss.»

«Magnum gehört mir.»

«Magnum?»

«So heisst meine Produktionsfirma. Es gibt oft Verwechslungen zwischen TV1 und Magnum. Der Einfachheit halber stellen wir uns als TV1 vor. In Wirklichkeit sind wir eine freie Produktionsfirma, die einen Vertrag mit TV1 abgeschlossen hat. Wir müssen alle unsere Produktionen zuerst diesem Sender anbieten. Lehnt er ab, sind wir frei.»

«Und die Produktionsideen entstehen intern?»

«Zum Teil. Wenn Sie allerdings eine Idee haben, prüfen wir sie. Ist sie gut, bieten wir sie eben zunächst TV1 an. Wenn die ablehnen, suchen wir eine TV-Station, die sich an den Kosten der Produktion beteiligt. Oder Sie bringen nebst der Idee auch gleich das nötige Kleingeld mit. Entscheidend ist in jedem Fall das Konzept. Es muss die Zuschauer fesseln und hohe Einschaltquoten erzielen. Wir konzentrieren uns deshalb auf Sensationen.»

«Schmuddel-TV!», kommentierte Nadine.

«Emotionen, meine Liebe. Das ist das Stichwort. Es gibt nun mal zwei Arten von Menschen auf dieser Welt. Die Exhibitionisten und die Voyeure. Und beide sind gut für mein Geschäft. Zu welchen gehören Sie, Frau Assistentin?»

Nadine schäumte vor Wut, liess sich aber nicht das Geringste anmerken. Von mir kriegst du keine Emotionen, du blöde Kuh, dachte sie und lächelte zuckersüss.

«Sind noch andere an Magnum beteiligt?», fragte Ferrari. Er versuchte das weibliche Spannungsfeld zu entladen und so einen Zickenkrieg zu verhindern.

«Nein. Das ist zu hundert Prozent mein Kind. Ich habe Magnum aufgebaut, Tag und Nacht dafür gearbeitet. Inzwischen gehören wir zu den Spitzenproduktionsfirmen. Seit die privaten Stationen wie Pilze aus dem Boden schiessen, gibt es zu wenig gutes Material. Wir liefern es. Die Fernsehstationen sind ganz heiss darauf.»

«So in Richtung von ‹Big Brother›?»

«Eine geniale Idee. Fantastisch. Aber Schnee von gestern. Im Augenblick sind Personalityshows und Ähnliches voll im Trend. In einem Jahr ist das out und etwas Neues in. Eine schnelllebige Zeit. Wir haben uns auf das Aufdecken von Skandalen im zwischenmenschlichen Bereich spezialisiert. Dabei rücken wir die Guten ins rechte Licht, die Bösen stellen wir an den Pranger. Genau wie Sie, Ferrari. Wir sind sozusagen Berufskollegen.» Denise Grieder kicherte.

«Klingt gut. Ist aber nicht so», murrte Nadine, ihren Vorsatz vergessend.

«Oh! Eine harte Kritikerin. Was gefällt Ihnen an unserem Konzept nicht?»

«Auf Leute, die schon am Boden liegen, sollte man nicht noch trampeln.»

«Eine Idealistin! Wie süss.»

«Das hat nichts mit Idealismus zu tun. Doch eher mit Anstand.»

«Ach Gott, Kindchen, die Leute sind ganz geil auf Tragödien. Also liefern wir sie. Wir müssen nichts erfinden und nicht in der Ferne schweifen, einzig und allein die Augen offen halten und dem Nachbarn etwas genauer auf die Finger schauen. Et voilà.»

«Brot und Spiele!»

Nadine konnte sich nur noch mit Mühe zurückhalten.

«Nur Spiele. Das Brot sollen sie gefälligst selber backen.»

«Die Faszination des Schrecklichen, einfach widerlich!»

«Nicht schrecklich. Der ganz normale Alltag, das Leben der Familie Schweizer!»

Die Konversation schien aus den Fugen zu geraten. Ferrari räusperte sich und goss sich selbst einen Cognac nach.

«Ich darf doch? Wer ist im Moment gefragt?»

«Politiker, Industrielle und ihre heimlichen Drahtzieher. Und glauben Sie mir, da gibt es eine Menge guten Stoff. Sensationelle Geschichten, die das Leben schreibt.»

«Daran zweifle ich nicht. Am Telefon erwähnten Sie Hans Rost. Was genau wollten Sie mit mir besprechen, Frau Grieder?»

Ferrari versuchte das Gespräch voranzutreiben. Wer wusste, ob sich die beiden Frauen am Ende noch in die Haare gerieten.

«Genau. Anselm sprach mit Ihnen über den anonymen Anruf?»

«Ja. Eine männliche Stimme.»

«Klang sehr sonor. Nicht mehr jugendlich. Eher so in unserem Alter.»

Ferrari fühlte sich geschmeichelt.

«Würden Sie die Stimme wiedererkennen?»

«Tja, ich weiss nicht. Wahrscheinlich schon. Aber deswegen wollte ich nicht mit Ihnen sprechen. Es ist etwas Eigenartiges passiert. Ich erhielt heute früh per Post eine DVD. Ich legte sie zunächst achtlos auf die Seite, dachte, es sei eine Arbeitsprobe eines Möchtegernproduzenten. Einer meiner Geschäftspartner versetzte mich am Mittag. Da schob ich die DVD rein und …»

Denise Grieder holte tief Luft.

«Sie machen mich neugierig.»

«Kommen Sie bitte mit, ich möchte Ihnen die DVD vorspielen. Sie dürfen ruhig mitkommen, Frau Kupfer. Sie stören überhaupt nicht.»

«Dumme Kuh!», flüsterte Nadine, aber doch so laut, dass es nicht nur der Kommissär hören konnte.

Zuerst flimmerte das Bild. Dann erschien Hans Rost auf dem Bildschirm. Er wirkte total verunsichert. Er schaute direkt in die Kamera. Nachdem er sich anscheinend gefangen hatte, begann er zu sprechen.

«Mein Name ist Hans Rost. Ich bin Zollinspektor. Verheiratet, eine Tochter. Und dies ist die erste Aufnahme. Äh … die erste Aufnahme, die ich jemals von mir gemacht habe. Weitere werden folgen. Ich habe mich heute entschieden, Selbstmord zu begehen. Aber ich muss noch verschiedene Dinge regeln. Deshalb wird es ein Selbstmord auf Raten. Da ich kein Tagebuch schreiben will, werde ich Schritt für Schritt meine Gedanken hier vor laufender Digitalkamera aufzeichnen. Damit im Nachhinein niemand auf die Idee kommt, dass diese Aufnahmen gestellt sind, zeige ich Ihnen die heutige ‹Basler Zeitung›. Es ist jetzt der 20. April 2006. Mein Plan sieht vor, dass ich mich in rund einem Jahr, am 25. Mai 2007, vom Dach meines Arbeitsortes stürzen werde. Bis zu diesem Zeitpunkt werde ich alle meine Schritte aufzeichnen. Der 25. Mai hat für mich eine besondere Bedeutung. An diesem Tag lernte ich meine Frau Christina kennen. Und an diesem Tag werde ich unserer Beziehung ein Ende setzen. Es gibt viele Gründe für meine Entscheidung. In meinen nächsten Aufzeichnungen werde ich diese mitteilen. Ich befinde mich jetzt auf dem letzten Stück meines Lebenswegs und ich hoffe, dass ich nicht davon abkomme. Es muss sein.»

Rost wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt, der einige Minuten dauerte.

«Es muss sein. Ich halte es nicht mehr aus. Dieses schreckliche Leben soll endlich ein Ende haben. Das war meine erste Aufnahme», schluchzte er zum Abschluss.

Ferrari schenkte sich zitternd einen weiteren Cognac ein. Denise Grieder nahm ihm die Flasche sanft aus der Hand und goss nach.

«Das … so etwas habe ich noch nie gesehen!»

«Eine unglaubliche Geschichte und eine absolute Sensation! Er erzählt den Ablauf seines Selbstmordes. Ein dokumentierter Selbstmord auf Raten nach einem genauen Zeitplan. Das ist einmalig in der Geschichte des Fernsehens!»

«Hören Sie augenblicklich damit auf!», zischte Nadine.

«Aufhören? Im Gegenteil, jetzt beginnt es erst. Der Zufall liess uns im richtigen Augenblick beim Zollgebäude auftauchen. Wir und sonst niemand filmten den Sprung in den Tod. Und jetzt schickt uns ein Unbekannter die Bekenntnisse des Selbstmörders zu. Das ist wie ein Sechser im Lotto!»

«Ist sonst noch etwas auf dem Band drauf?», fragte der Kommissär.

«Nein, absolut nichts. Sie können es gerne mitnehmen. Wir haben mehrere Kopien gezogen. Ich bestehe sogar darauf, dass Sie es mitnehmen und untersuchen.»

«Weshalb?»

«Damit Sie die Echtheit bestätigen können. Wir sind ab sofort Partner.»

Der Kommissär machte ein langes Gesicht und zog die Augenbrauen in die Höhe.

«Ah ja? Eine höchst unheilige Allianz, wie mir scheint.»

«Komm schon, Ferrari. Machen Sie mir nichts vor. Sie suchen nach der Wahrheit. Innerlich sind Sie überzeugt, dass Rost umgebracht wurde.»

«Wieso glauben Sie das?»

«Sonst würden Sie nicht Tage damit vergeuden, all seine Bekannten abzuklappern. Sie riechen einen Mord. Und Sie haben eine verdammt gute Spürnase.»

«Und wenn es so wäre?»

«Dann sollten Sie Ihrem Instinkt folgen. Ich meinerseits bin davon überzeugt, dass der Kerl, ein Spinner, ein Weichei, vom Dach gesprungen ist, weil er nicht mehr mit dem Leben fertig wurde. Also meine Selbstmordtheorie gegen Ihre Mordtheorie!»

«Was soll das? Wieso sind Sie so versessen darauf, mit uns einen Deal zu machen?»

«Simpel einfach! Wer garantiert mir, dass ich an die nächsten DVDs rankomme? Finden Sie die Person, welche die restlichen Aufnahmen hortet. Wir unterstützen Sie, so gut wir können. Im Gegenzug garantieren Sie mir, dass ich lückenlos an das gesamte Filmmaterial rankomme.»

«Und wenn wir damit nicht einverstanden sind?»

«Dann war dies der erste und letzte Streich. Sollten wir weitere DVDs erhalten, tja, da kann ich Ihnen allerdings nicht garantieren, dass ich Sie immer sofort informiere. Ich bin ja so vergesslich.»

Sie klimperte mit den Augen und grinste frech.

«Zeigen Sie mir einmal die Verpackung, in der Sie die DVD erhalten haben.»

Sie kramte im Papierkorb.

«Hier ist das gute Stück.»

Der Versandkarton trug den Stempel der Poststelle Basel 2. Er gab den Schuber Nadine. Sie strich die Briefmarke glatt und schaute sie genauer an.

«Die DVD wurde praktisch vom Haus gegenüber aufgegeben.»

«Und was bedeutet das?», fragte Denise Grieder.

«Es könnte dafür sprechen, dass einer seiner Kollegen die DVD aufgegeben hat. Es kann aber auch irgendjemand gewesen sein.»

«Eigentlich pervers!»

«Eine komische Bemerkung aus Ihrem Mund. Sie leben ja von der Perversion. Und nicht schlecht, wenn ich mich hier umschaue.»

Denise Grieder lachte fröhlich.

«Ein Punkt für Sie, Kupfer. Vermasseln Sie mir nicht mein grösstes Geschäft! Mit dieser Story werden wir schlagartig zu den Grossen in diesem Business gehören. Ferrari, wenn dieser Knaller loszischt, beteilige ich Sie am Erfolg.»

«Vielen Dank. Ich bin unbestechlich.»

«Auch gegenüber weiblichen Reizen?»

Sie strich ihm durchs Haar.

«Lassen Sie das! Wir nehmen die DVD mit und lassen sie untersuchen. Sie hören wieder von mir.»

Ferrari stand abrupt auf und sah Nadine auffordernd an.

«Aber ja doch, Francesco. Ganz wie Sie wollen!», flötete Denise Grieder.

Sie genoss sichtlich ihr Spiel. An der Tür wurde dem Kommissär bewusst, wie sehr sie ihn verunsichert hatte. Seine Miene verfinsterte sich unheilvoll.

«Moment mal, Frau Grieder!»

«Nennen Sie mich doch einfach Denise-Schätzchen!»

«Nichts mit Schätzchen! Wenn Sie uns als Partner wollen, dann zu unseren Bedingungen.»

«Wie Sie wollen, Francesco!»

«Ich … hören Sie sofort auf damit, Frau Grieder! Eigentlich wollte ich Ihnen noch einige Fragen stellen.»

«Noch einen Cognac, Francesco? Jetzt, wo wir Partner sind, sollten wir darauf anstossen.»

Denise Grieder erhob ihr Glas und Ferrari setzte sich. Auf Spielchen dieser Art hatte er sich noch nie eingelassen. Und das blieb auch so. Weiblicher Charme hin oder her. Basta.

«Nein. Zurück zu meinen Fragen. Sie waren als Erste auf dem Dach?»

«Das ist schon alles ordentlich protokolliert, Francesco.»

«Mag sein. Ich habe die Akten aber noch nicht studiert. Erzählen Sie mir nochmals, wie alles ablief.»

Der Kommissär duldete keinen Widerspruch.

«O.k., o.k.! Ich tue beinahe alles für einen guten Geschäftspartner. Also das war so: Kurz vor 8 Uhr wurde mir von meinem Sekretär ein Anruf durchgestellt. Es war dieser Rost, der seinen Selbstmord ankündigte. Er muss mit seinem Handy angerufen haben, irgendeine 079er-Nummer. Ich redete behutsam auf ihn ein, versuchte ihn zu beruhigen und abzulenken. Er muss auf andere Gedanken kommen, sagte ich mir immer wieder. Immerhin erzählte er mir, wie er sich seinen Selbstmord vorstellte. Ich bat ihn, zu warten, bis ich bei ihm sei.»

«Dann sind Sie sensationsgeil losgerast, ohne die Polizei zu informieren», mischte sich Nadine ein. Ihre Stimme klang gehässig.

«Aber nicht doch, Frau Superspürnase! Mein Sekretär informierte sofort die Polizei über die 117 und ich, das gebe ich zu, bin zum Zollgebäude gerannt. Dort wollte man mich nicht aufs Dach lassen. Als ich der Dame am Empfang aber verklickerte, welche Tragödie sich abspielt, liess sie den Vorgesetzten von Rost kommen und gemeinsam fuhren wir mit dem Lift nach oben. Über ein paar Stufen erreichten wir das Dach.»

«Weiter», drängte Ferrari.

«Rost stand ganz nahe am Abgrund. Sowie er uns kommen sah, begann er hysterisch zu schreien. Er wolle allein mit mir sprechen. Wenn mein Begleiter nur einen Schritt näher käme, würde er springen. Diese zwei Sätze wiederholte er zigmal. Ich gab dem Mann ein Zeichen, dass er sich zurückhalten solle. Ich wollte ja kein unnötiges Risiko eingehen und Zeit gewinnen, damit mein Team sich in Position bringen konnte.»

«Ja natürlich, Ihr Team. Sie hatten echte Sorgen, Sie Arme. An Rost dachten Sie keine Minute, oder?», warf Nadine missbilligend ein.

«Aber natürlich, meine Liebe. Ich dachte die ganze Zeit über an Hans Rost. Sie haben mein Ehrenwort», Denise Grieder blickte betrübt zu Ferrari, «nur, wenn sich ein Mann für eine Sache entschieden hat, dann gibt es kein Zurück mehr.»

«Vielleicht würde er noch leben, wenn Sie ihn nicht zum Springen ermutigt hätten.»

Nadines Augen funkelten.

«Vielleicht würde er noch leben, wenn der Herr Kommissär die Geschichte von Christina Rost ernst genommen hätte!», kam die Retourkutsche.

Stalder hatte seine Chefin ganz offensichtlich bestens informiert. Ferrari fühlte sich sichtlich unwohl. Nein, schlimmer. Mitten ins Herz getroffen.

«Hm … was geschah dann?», setzte er nach.

«Ich redete auf ihn ein. Dass das Leben doch schön sei und dass man für alles eine Lösung finden würde. Ich appellierte an seinen Glauben und bat ihn eindringlich, sein Leben nicht achtlos wegzuwerfen. Denn wir leben nur einmal. Und so weiter und so fort. Halt all den Mist, den man in einem solchen Augenblick abspult.»

«Überzeugend wirkten Sie aber nicht!»

«Ich bin bis auf wenige Zentimeter an ihn herangekommen. Beinahe hätte ich ihn zurückziehen können.»

«Wollten Sie das überhaupt?»

Nadine starrte Denise Grieder an.

«Ganz langsam, Schätzchen. Keine Unterstellungen, wenn ich bitten darf. Natürlich wollte ich ihn am Sprung hindern. Ob er springt oder nicht war in diesem Augenblick gar nicht so wichtig. Wir hatten in jedem Fall eine super Story. Eine Sensation. Wobei …»

«Ja?»

«Mit der DVD in der Tasche ist es jetzt natürlich besser, dass er gesprungen ist. Fürs Geschäft meine ich.»

«Das ist so was von geschmacklos, Frau Grieder!»

Nadine war ganz blass im Gesicht.

«Nur die Realität, Frau Kupfer. Nur die Realität. Mit der ersten Aufzeichnung und den hoffentlich noch nachfolgenden DVDs sind wir dick im Geschäft.»

«Was sagte Hans Rost zu Ihnen?», wollte Ferrari wissen.

«Nicht viel. Er habe genug gelitten und seine Familie auch, wegen ihm. Es sei alles geordnet, er könne guten Gewissens in eine bessere Welt eingehen. Irgendwelchen pathetischen Mist, Schwachsinn eines kranken Hirns!»

«Und dann ist er hinuntergesprungen.»

«Er schwafelte noch etwas wie ‹Ich fliege jetzt auf Engelsflügeln in eine bessere Zukunft›. Und bevor ich ihn zu fassen kriegte, schwupps, da flog er auch schon los.»

Ferrari war ab so viel Gefühlskälte und Menschenverachtung sprachlos. Grieder schlug mit der rechten Faust auf den Tisch.

«Dabei fehlten zum Schluss nur einige Zentimeter. Wahrscheinlich hätte mich der Trottel noch mit in den Abgrund gezogen. Stellen Sie sich vor?!»

«Wäre kein grosser Verlust gewesen!», murmelte Nadine.

«Vielen Dank für Ihr Mitgefühl, Frau Kupfer. Mein Gehör funktioniert tadellos.»

«Sie und Stalder, ihr zwei seid die zynischsten Menschen, die mir je begegnet sind.»

Nadine blickte angewidert zu Ferrari.

«Dann sind Ihnen noch nicht allzu viele Menschen begegnet, Schätzchen. Wir sind nur Durchschnitt. Vielleicht auf unsere Art sogar ehrlicher als ihr ach so guten Menschen.» Für einen Augenblick liess sie ihre Maske fallen und fuhr fort: «Was seid ihr nur alle für heuchlerische Bastarde! Das Leben ist ein Dschungel. Friss oder du wirst gefressen. So einfach. Ich fresse lieber, als aufgefressen zu werden. Und wenn ein Irrer wie Rost vom Dach springen will, weil er es einfach nicht mehr schafft, dann soll er es tun. Die Welt hat einen Psycho weniger. Gut so. Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich und frei in seinem Handeln. Ich masse mir nicht an, Gott zu spielen. Rost ist nun in einer besseren Welt. Zumindest glaubte er daran. Was mich betrifft, ich habe mein Möglichstes getan und nutze meine Chance. Das ist absolut legitim. Stalder und ich werden einen Hit landen. Ich werde bald, sehr bald berühmt sein und die Medienwelt wird zu meinen Füssen liegen. Grosse Aufträge werden folgen, nicht mehr Kleinkram wie Nachbarsstreitigkeiten am Maschendrahtzaun und weiss Gott was sonst noch. Nein, wir sind einen Schritt weiter. Sozusagen mit einem Sprung …»

Der Kommissär hatte genug gehört. Definitiv. Das war mehr, als der gute Geschmack zuliess. In ziemlich aufgewühltem Zustand betrat er mit Nadine den Lift.

«Tschüss, Partnerchen! Bis bald!», hörte er eine Stimme flöten. Bin ich denn total von der Rolle? Verfolgt mich jetzt schon die Stimme von Denise Grieder? Ferrari rieb sich den Nacken. Dann sah er den Lautsprecher, aus der die verführerische Schlange zu ihm gesprochen hatte.

«Dummes, arrogantes Miststück!»

Nadine musste ihrem Ärger und ihrer Empörung Luft machen.

«Dumm ist sie nicht, Nadine.»

«Und du lässt dich von ihr einlullen. Nur, weil sie schöne Kurven und ein hübsches Gesicht hat. Ihr Männer seid doch alle gleich.»

«Der Cognac war ausgezeichnet!»

Ferrari kicherte auf den Stockzähnen.

«Schöner Polizist!»

«Willst du mir auf offener Strasse eine Szene machen oder können wir die Emotionen mal für einen kurzen Augenblick zur Seite legen?»

«Bitte, ganz wie der Herr Kommissär wünschen.»

«Weshalb regst du dich eigentlich so auf?»

«Weil ich diese dreiste Schnepfe nicht ertrage. Sie ist überheblich und hat vor nichts Respekt. Eine Leichenfledderin.»

«Da stimme ich dir zu. Und was sagst du zur Videoaufnahme?»

«Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte und keine Kenntnis der Vorgeschichte hätte, würde ich es nicht glauben. Nie und nimmer. Dann würde ich vermuten, dass die Grieder die Aufnahme gefälscht hat, um einen Hit zu landen.»

«Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?»

«Nein, nicht wirklich. Hoffentlich bekommen die Angehörigen das Video nie zu Gesicht. Mit anzusehen, wie Hans Rost seinen Selbstmord ankündigt, den er dann auch durchzieht, ist schrecklich. Somit fällt deine Mordtheorie definitiv in sich zusammen.»

«Mit kleinen Einschränkungen.»

«Die wären?»

«Zwar wissen wir jetzt, was Hans Rost jeweils am Donnerstagabend gemacht hat. Aber woher hat er die zwei Millionen Franken? Und dann wäre da noch der Zeitpunkt.»

«Welcher Zeitpunkt?»

«Er spricht davon, wann er sich umbringen wird. Am 25. Mai 2007. Doch wann ist er vom Dach gesprungen?»

«Am 16. Mai!»

«So ist es. Und das passt überhaupt nicht in das bisherige Verhaltensmuster von Hans Rost.»