25. Kapitel

Das Wochenende über rührte sich gar nichts. Anselm Stalder blieb verschwunden. Wahrscheinlich war er untergetaucht. Als Ferrari am Montagmorgen ins Kommissariat kam, sass Nadine bereits hinter ihrem Schreibtisch. Ein gutes Zeichen. Aber über den Berg war sie noch nicht. Nadine steckte ganz offensichtlich in einem Tief. Bewusst lockte sie der Kommissär immer wieder mit Botengängen aus ihrem Büro. Und Noldi tat ein Übriges.

Seit dem frühen Morgen suchten die Fahndungsbeamten mit Hilfe der Wasserpolizei das gesamte Gelände des Rheinhafens ab. Eine Idee von Nadine. Keine einfache Arbeit, in Anbetracht der vielen verwinkelten Stellen, Ecken und unzähligen Keller. Doch bereits gegen Mittag erhielt Nadine einen Anruf. Sie hätten beim Hafenbecken II einen merkwürdigen Fund gemacht, man solle bitte sofort kommen.

«Hallo, Josef, na, was hast du uns anzubieten?», begrüsste Ferrari den Chef der Fahndung. «Das ist Nadine Kupfer, meine Kollegin.»

Sie war ohne zu zögern mitgekommen. Wieder ein gutes Zeichen.

«Ich weiss. Hallo, Nadine.»

Anscheinend hatte es sich bereits herumgesprochen, dass Ferrari sein einsames Wolfsdasein aufgegeben hatte.

«Spann uns nicht auf die Folter», drängte der Kommissär.

«Es ist nicht viel. Aber immerhin etwas. Kommt mit.»

Über eine rostige Treppe gelangten sie oberhalb des Schifffahrtsmuseums in einen grossen kargen Raum.

«Hier war früher einmal eine Firma drin, die ihren Standort gewechselt hat oder hops gegangen ist. Im Moment wird dieser Raum nicht mehr genutzt. Ausser von Obdachlosen, denn es kam öfters vor, dass Penner vertrieben werden mussten. Allerdings in letzter Zeit nicht mehr. Offenbar hat jemand ein Schloss angebracht, vermutlich die Museumsleute. Nun wurde uns gemeldet, dass jemand eingebrochen sei. Es ist also ein glücklicher Zufall, dass wir hier sind und das gefunden haben», er zeigte ins Innere.

Ferrari erkannte den Raum sofort. Hier waren die Videos mit Hans Rost gedreht worden! Nadine strich über ein Plakat an der Wand. Dann hob sie eine Zeitung vom Boden auf.

«Die ‹Basler Zeitung› der letzten Aufnahme», rief sie erregt.

Ferrari nickte und wies das Spurensicherungsteam an, mit ihrer Arbeit zu beginnen.

«Jetzt bin ich gespannt, ob wir ausser Rosts Fingerabdrücken noch andere finden.»

«Francesco, hatte dieser Rost eigentlich Verletzungen?»

«Nur vom Sturz. Weshalb fragst du, Josef?»

«Dort in der Ecke am Heizkörper haben wir eingetrocknetes Blut gefunden.»

«Wenn es tatsächlich Blut ist», mischte sich ein Mitarbeiter der Spurensicherung ein, «dann nicht von diesem Rost. Die Spuren sind zu frisch.»

«Sind Sie ganz sicher?»

«Ziemlich sicher. Aber warten wir die Ergebnisse ab.»

Vor dem Museum stand bereits der Aufnahmewagen von Magnum. Denise Grieder leitete in voller Grösse die Aktion.

«Was suchen Sie denn hier, Denise?», fragte Ferrari erstaunt.

«Na was wohl, Francesco? Glauben Sie wirklich, Sie können uns austricksen? Wenn die Polizei mit einem Grossaufgebot im Hafen auffährt, dann sicher nicht, um einen Taschendieb zu fangen. Und wenn Sie noch mit Ihrem Schatten auftauchen, ist es wohl höchste Zeit, hierher zu kommen. Was gibt es da drinnen so Spannendes?»

«Einen Raum, den Sie gut kennen.»

«Ich? Woher denn?»

«Hier wurden die Aufnahmen mit Hans Rost gemacht.»

«Klasse! Dürfen wir rein? Das gibt ein weiteres Puzzleteilchen.»

«Erst, wenn wir mit der Spurensicherung fertig sind. Immer noch nichts von Stalder gehört?»

«Nein, gar nichts. Ich mache mir langsam echte Sorgen.»

Die Leute von der Spurensicherung kamen die Treppe hinunter.

«So, jetzt dürfen Sie rein, Denise. Der Raum gehört Ihnen.»

«Vielen Dank, Francesco. Vorwärts Leute, an die Arbeit!»

Ferrari spürte, dass er etwas übersehen hatte. Aber was? Systematisch ging er den Fall nochmals durch. Schritt für Schritt und mit Nadines Hilfe. Ohne Erfolg. Vielleicht brachten die Untersuchungsergebnisse neue Erkenntnisse oder Stalder tauchte plötzlich aus der Versenkung auf und mit ihm die Lösung. Geduld war angesagt.

Die nächsten beiden Tage suchten sie erneut alle Personen auf, die in irgendeinem Zusammenhang mit Hans Rost und dessen Selbstmord standen. Klinken putzen, wie es Nadine nannte. Zuerst Christina Rost, dann Edith Rost und ihren Verlobten Hansruedi Pfirter, schliesslich Heinz Werner. Ferrari musste Nadine förmlich ins Restaurant schieben und richtiggehend dazu zwingen, sich mit dem Wirt zu unterhalten. Mit Argusaugen beobachtete er die Szene, immer bereit, einzugreifen, falls sich die Lage zuspitzen sollte. Doch Werner hielt sich zurück und trank während des ganzen Gesprächs nur einen Kaffee. Schwarz und wie es schien ohne Schnaps. Gut gegangen, dachte Ferrari, während er sein verschwitztes Hemd vom Rücken zupfte. Sozusagen ein erfolgreicher therapeutischer Besuch! Seit dem Fund des Aufnahmeraums ging es Nadine ohnehin bedeutend besser. Der Erfolg beflügelte und befreite, stellte der Kommissär befriedigt fest. Es bedarf nun mal einer Aufgabe und einer Hoffnung, um wirklich glücklich zu sein. Beides hatte Nadine wieder.

Sie unterhielten sich auch nochmals mit Ernst Maurer, Arnold Blumer, Heinrich Buser und mit Denise Grieder. Nur einen konnten sie nicht erreichen: Anselm Stalder!

Die Untersuchungsergebnisse hatten keine weltbewegenden Erkenntnisse geliefert. Das Blut am Heizkörper stammte von einer unbekannten Person, wahrscheinlich von einem Clochard, der sich im Rausch verletzt hatte. Nicht aber von Hans Rost. Was die Fingerabdrücke betraf, so gab es nebst jenen von Rost eine grosse Anzahl weiterer, die nicht identifizierbar waren. Wen wunderts? Mich nicht, stellte der Kommissär sachlich fest. Ewas anderes erstaunte ihn umso mehr. Staatsanwalt Borer schien wie vom Erdboden verschluckt. Keine Vorhaltungen, keine Nörgeleien, keine Fragen. Weder zu Nadine noch zum Fall. Sonderbar! Was auch immer der Grund war, Ferrari kam es gelegen. Nachdem sie sich die letzten beiden Tage im Kreis gedreht hatten und keinen noch so winzigen Schritt vorangekommen waren, meldete sich am Donnerstag ein unerwarteter Zeuge auf dem Kommissariat, an den Ferrari nicht mehr gedacht hatte. Es war der Lehrling, der seine Aussage zu Protokoll gab. Auf ausdrücklichen Wunsch seines Vorgesetzten, wie er mehrfach betonte. Nadine war gerade dabei, ihm einige Fotos der Familie Rost, von Hansruedi Pfirter sowie von Anselm Stalder vorzulegen, als Ferrari das Büro betrat.

«Erkennst du jemanden auf den Fotos?», fragte Nadine.

«Na sicher. Hans Rost und den neben ihm. Der ist ab und zu vorbeigekommen. Eine furchtbare Nervensäge. Den auf dem anderen Foto kenne ich auch, der rannte doch die ganze Zeit mit seiner Kamera durchs Gebäude. Und die Alte kenne ich auch. Der hat Hans Rost das Gebäude gezeigt.»

«Das ist seine Frau», bemerkte Nadine sachlich.

«Ist nicht wahr? Die Alte ist seine Frau?»

Nadine bedankte sich beim Lehrling und begleitete ihn zur Tür.

«Die heutige Jugend! Ich bin froh, dass ich nicht mehr zwanzig bin.»

Eigenartige Aussage einer knapp Dreissigjährigen, dachte Ferrari, liess es aber dabei bewenden. Er hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion über das Alter.

«Vielleicht sollten wir nochmals mit dem Kameramann sprechen», hörte er Nadine sagen.

«Besser ein Strohhalm als gar nichts. Rufst du Denise Grieder an? Sie weiss sicher, wo er ist.»

«Das, mein Lieber, mach mal selbst. Denise wird sich freuen, deine Stimme zu hören.»

Michael Lang, der Kameramann, liess nicht lange auf sich warten. Bereits eine knappe halbe Stunde später brachte ihn Nadine ins Büro des Kommissärs.

«Vielen Dank, dass Sie so rasch kommen konnten.»

«Kein Problem! Gibt es etwas Neues von Anselm?»

«Nein. Deswegen möchten wir mit Ihnen sprechen. Sie kennen sich bestimmt gut, oder?»

«Sehr gut sogar. Wissen Sie, wenn man praktisch Tag und Nacht zusammen arbeitet, entsteht eine enge Beziehung.» Als er Ferraris erstaunten Blick bemerkte, relativierte er rasch, «nicht so, wie Sie denken. Ich meine, man erzählt sich praktisch das ganze Leben».

«Entschuldigen Sie, ich wollte nicht indiskret sein.»

«Schon in Ordnung. Anselm ist ein begnadeter Journalist. Viel zu schade für unsere Kleinstadt. Er ist zu Höherem geboren. Eigentlich sollte er Kriegsberichterstatter in fernen Ländern sein. Da würde er so richtig aufblühen.»

«Hat er eine Freundin?», wollte Nadine wissen.

«Das war einmal. In unserem Beruf bleibt keine Zeit für Beziehungen. Wir sind immer auf Achse. Von einer Sensation zur anderen. Vergebene Liebesmüh, dir eine Freundin anzulachen. Sobald die anfängliche Faszination verblasst ist, lässt sie dich sitzen. Anselm hat immer wieder Affären, aber nichts Festes!»

«Wissen Sie, wie es finanziell um ihn steht?»

«Er spekuliert ziemlich erfolgreich an der Börse. Wobei seine Aktien im letzten Jahr arg in den Keller gerutscht sind. Wie bei anderen Leuten auch. Das schien ihm aber nichts auszumachen, er war auf jeden Fall nicht beunruhigt. Man muss warten können, war seine Devise. Aber da fragen Sie besser seinen Vermögensverwalter. Er heisst Thomas Schaller. Sein Büro befindet sich in der Elisabethenstrasse. Er füllt nämlich auch meine Steuererklärung aus. Das ist für mich ein Horror sondergleichen. Anselm hat ihn mir vermittelt.»

Ferrari notierte sich den Namen.

«Wissen Sie, wo Stalder sich aufhalten könnte?»

«Darüber zerbreche ich mir seit Tagen den Kopf. In seiner Wohnung wohl kaum. Vielleicht im Elsass, er hat dort irgendwo ein kleines Häuschen. Wo genau, weiss ich nicht. Ich war leider nie dort.»

«Die meisten der Aufnahmen haben Sie zusammen als Team gemacht.»

«Ja, wir sind aufeinander eingespielt.»

«Auch die Berichte über die architektonisch interessanten Gebäude?»

«Ja, das war aussergewöhnlich spannend. Und sie kamen auch gut an. Es ging um die Gebäude, vom Keller bis zum Dach, um Firmenpolitik und um die Menschen, die dort arbeiten.»

«Waren Sie auch auf dem Dach, von dem Rost hinuntergesprungen ist?»

«Selbstverständlich. Aber ich bin nicht schwindelfrei. Ich wagte mich nicht weit nach vorne.»

«Und wie kamen Sie da hinauf?»

«Komische Frage, Frau Kupfer. Durch die Tür natürlich.»

«Nein, entschuldigen Sie, ich meine, wer verschaffte Ihnen den Zugang?», präzisierte Nadine.

«Der Abwart. Ich weiss aber nicht mehr, wie er heisst.»

«Und der war die ganze Zeit bei den Aufnahmen dabei?»

«Nein. Nur zu Beginn aus reiner Neugierde. Dann gab er uns seinen Hauptschlüssel, mit dem wir uns im ganzen Gebäude frei bewegen konnten.»

Ferrari notierte sich die Aussagen des Kameramanns und bedankte sich nochmals für sein promptes Erscheinen. Das Detail mit dem Schlüssel war neu und aufschlussreich.

«Stalder hatte den Schlüssel. Ein Leichtes, einen Schlüsselservice zu finden, der dir einen Nachschlüssel produziert, Francesco.»

Immer wieder Anselm Stalder und die drängende Frage, ob sein Verschwinden mit dem Fall Rost zusammenhing. Ferrari hatte keine Antwort. Noch nicht. Nur eine leise Ahnung.