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Obwohl es der vierundzwanzigste Dezember war, war Flug 957 nur zu etwa zwei Dritteln voll. Lorelai war bislang noch nicht sehr oft an Weihnachten geflogen, immerhin hatte sie die ersten zwanzig Weihnachten in ihrem Leben in Red Oak verbracht und die darauffolgenden acht in New York. Sie hatte sich auf vollgequetschte Abflughallen und gestresste Reisende eingestellt, wurde aber mit ein wenig Weihnachtsfrieden überrascht.
Die vergangenen zwei Tage und Nächte hatte sie damit zugebracht, die Reiseprospekte zu wälzen, die seit geraumer Zeit in ihrem Wohnzimmer lagen. Dann hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, ob sie wirklich an Weihnachten in den Süden wollte, ob sie sich nicht doch Karen oder Monique anschließen sollte, die sie beide zu ihren Weihnachtsfesten eingeladen hatten. Diese Idee hatte sie schnell wieder verworfen. Sie wollte nicht das fünfte Rad am Weihnachtswagen sein, und auch wenn sich beide Familien, Karens und Moniques die größte Mühe geben würden, sie wäre es dennoch. Die nächste Alternative wäre gewesen, noch schnell einen Baum zu besorgen und alleine Weihnachten zu feiern. Diese Idee war ihr zunächst als die Beste vorgekommen. Sie hatte sich tatsächlich kurzzeitig mit dem Gedanken angefreundet, an den Weihnachtsfeiertagen ganz allein in ihrem Appartement zu sitzen, sich bei Johnny’s ein Festmahl kommen zu lassen und – bei Gott – sich selbst etwas zu kaufen, was sie sich immer schon gewünscht hatte. Kurze Zeit später war ihr diese Idee wie Irrsinn vorgekommen. Wer war schon so verrückt, und würde Weihnachten komplett abgeschottet und allein verbringen, mit Geschenken, die er für sich selbst gekauft und verpackt hatte. Wahrscheinlich war das der erste Schritt in den Wahnsinn.
Sie hatte auf der Couch gesessen, als sie den Gedanken, Weihnachten allein zu feiern, verwarf und ihr Blick war auf einen Reisekatalog gefallen, in welchem sie mit drei, vier schlampigen Kreisen ein Angebot hervorgehoben hatte. „Weihnachten in Honolulu“ schrie das Angebot und man konnte einen surfenden Weihnachtsmann und einige Engel in Bikinis mit Rentieren sehen. Sie hatte kurz überlegte, sich ihr Handy geschnappt einen Flug gebucht.
In der Ankunftshalle herrschte reges Treiben, aber es war immer noch nicht so schlimm, wie es von so vielen Reisemuffeln prophezeit wurde. Lorelai schnappte sich ihren Koffer vom Gepäckband, und als sie ihn herunterhievte und den Griff zum rollen herauszog, überkam sie ein kribbeliges Gefühl. Sie lächelte kurz und war sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Es würde bestimmt ein tolles Weihnachtsfest werden. Dann machte sie sich auf den Weg vor das Flughafengebäude und stieg in ein Taxi.
Jakes Schädel brummte immer noch und dies war der Morgen, an dem er beschloss, das trinken wirklich aufzugeben – zumindest nahm er sich das vor. Sollte er es selber nicht schaffen, gab es immer noch die anonymen Alkoholiker, die in Dallas wöchentliche Treffen abhielten. Am vergangenen Abend hatte er erst im Barneys ein paar Bier getrunken, doch da es der dreiundzwanzigste Dezember war und die meisten seiner Freunde an den paar Tagen um Weihnachten herum Ausgehverbot hatten, war er recht früh wieder zurück zur Farm gefahren. Zuhause angekommen hatte er sich eine Flasche Jim Beam geschnappt (warum er Jim Beam anstatt Jack Daniels gekauft hatte, wusste er nicht, aber nach den ersten paar Zügen schmeckte ohnehin eines wie das andere), sich vor den Fernseher geworfen und hatte irgendeinen Weihnachtsfilm angesehen.
Halb auf dem Sofa hängend war er eingeschlafen und als er wenige Stunden später, am Morgen des vierundzwanzigsten aus dem Schlaf gerissen wurde, fühlte er sich, wie ausgekotzt. Die Flasche Jim Beam hatte er im Schlaf umgestoßen und der restliche Alkohol hatte sich auf seinem Teppich und seiner Socke verteilt. Ihm war speiübel, sein Magen, sein Kopf und sein Rücken schmerzten höllisch. Er rappelte sich auf und trottete wie ein alter Mann hinüber in sein Badezimmer. Er stieß einen Seufzer aus, als er den verbrauchten, alten Kerl sah, der ihm aus dem Spiegel entgegen blickte. Sein Haar war stumpf und stand zu allen Seiten ab. Er war seit drei Tagen unrasiert und die Bartstoppeln kratzten auf seinem Gesicht. Seine Augen waren gerötet und glanzlos, seine Lippen spröde. Er trottete in die Küche, setzt erst einmal Kaffee auf und ging dann zurück ins Bad, um eine Dusche zu nehmen. Während er sich auszog, sah er noch einmal in den Spiegel.
„Wenn du so weitermachst, Junge, machst du’s wirklich nicht mehr lange“, sagte er zu seinem mitgenommenen Spiegelbild.
Nachdem er geduscht und sich rasiert hatte, war er hinaus zu den Pferden um sie zu füttern. Wenigstens optisch sah er jetzt nicht mehr wie ein Mann am Rande des Alkoholismus aus. Ein Umstand, den er so gut wie es nur ging, vor den Cartwrightfrauen verstecken wollte, wobei er sich vorstellen konnte, dass sie zumindest vorübergehend dafür Verständnis haben würden. Immerhin hatte er volle Breitseite eine Abfuhr von Lorelai erhalten. Dennoch wollte er nicht wie ein Weichei wirken, das seine Liebesprobleme in Alkohol ertränkte, auch wenn es so war.
Er war gerade dabei, die letzte Box des Stalles zu säubern. Die Pferde hatte er bereits vor fast zwei Stunden auf die Koppeln gebracht. Als er Flash auf die große Koppel vor dem Haupthaus geführt hatte, war Ellen herausgekommen und hatte ihn gebeten, sie und Marge später in die Stadt zu fahren – sie hätten noch einige Besorgungen für das Festessen heute Abend zu machen. Er hatte zugesagt und mit Unbehagen an das Weihnachtsessen gedacht, dem er ebenfalls beiwohnen sollte. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er sich am liebsten in seinem Häuschen eingeschlossen und von all dem Weihnachtskram nichts mitbekommen. Aber den Cartwright-Ladies war er es schuldig, an ihrem essen teil zu nehmen.
Er hörte, wie die große Stalltüre aufgeschoben wurde und sah ärgerlich auf die Uhr. Es war noch nicht einmal zehn. Ellen hatte er gesagt, er könne sie frühestens um halb elf in die Stadt fahren, da die Pferde vorgingen.
„Ich bin gleich soweit, Ellen“, rief er und verzog das Gesicht zu einer genervten Grimasse, bevor er schmutziges Stroh weiter in die Schubkarre schippte. Es kam keine Antwort. Stattdessen hörte er Stöckelschuhe die Stallgasse entlang klickern. Er hasste es, wenn Leute einfach so auf dem Gelände der Farm und – noch schlimmer – in den Stallungen herumschnüffelten. Verärgert stellte er die Stallgabel an die Wand, wischte sich die Hände an seinen Jeans ab und rief: „Wir sind keine öffentliche Einrichtung – es ist verboten hier einfach so…“
„….hereinzuplatzen, ich weiß. Und wenn ich nicht gehe, rufst du die Cops“, vollendete Lorelai seinen Satz.
Jake musste mehrmals blinzeln, bevor er registrierte, dass ihm weder sein Verstand noch der minimale Restalkohol, der er noch im Blut hatte, einen Streich spielte. Es war tatsächlich Lorelai, die vor ihm stand. Sie trug enge, blaue Jeans, ein pink-weiß-schwarz kariertes Hemd und darüber ein ärmelloses Gilet aus dunkelbraunem Kunstfell. Die schwarzen Kniestiefel, die sie trug, klimperten auf ihn zu.
„Lorelai“, rief Jake überrascht und erstarrte zu einer Salzsäule. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Was machst du hier?“
„Ich möchte Weihnachten mit meiner Familie feiern“, sagte sie, „und mit dem Mann, den ich liebe!“
Jake warf die Mistgabel zur Seite, trat aus der Pferdebox auf Lorelai zu und für einen kurzen Augenblick sahen sie sich an. Dann stürzten sie aufeinander zu, Lorelai fiel in Jakes Arme und sie küssten sich.