14
Als er an diesem morgen aufgewacht war, fühlte er sich unglaublich lebendig. Die Tage zuvor, seit dem Tag, an dem Amy gestorben war, war er schwerfällig aus dem Bett gekrochen und hatte in jedem neuen Tag einen weiteren Tag gesehen, der ihm zuwider war. An diesem Morgen war er schon wach, bevor der Wecker, der auf dem Nachttischchen links neben seinem Bett stand, zu schrillen begann. Sein erster Gedanke an diesem Morgen war Lorelai. Und warum er es am Vorabend nicht geschafft hatte, sie zu küssen. Er hatte Kaffee aufgesetzt und sich die Zähne geputzt, als er sie an seinem Haus vorbeijoggen sah. Er hatte sie schon öfterst frühmorgens vorbeilaufen sehen und er wusste auch, dass sie hinunter zum See lief, um darin zu schwimmen, nachdem sie die Pferde gefüttert hatte. Der Gedanke war ihm wie ein Blitz durch den Kopf geschossen. Er musste Lorelai nachlaufen und de Kuss, den er am Vorabend versiebt hatte, nachholen. Er hatte die Tasse Kaffee hinuntergekippt, sich angezogen und war ihr hinterher gegangen. Er wusste, dass er sie küssen musste, dass er sie schon am Vorabend hätte küssen sollen.
Lorelai war durcheinander. Schon am ersten Abend in Barneys Kneipe hatte sie dieses Kribbeln im Bauch gespürt, als Jake mit ihr getanzt hatte. Wenn sie ehrlich war, hatte er schon bei ihrem allerersten Treffen etwas Interessantes, Anziehendes ausgestrahlt. Doch, dass er wirklich an ihr interessiert war, hätte sie nicht gedacht – nicht, nachdem sie von Amy und dem Baby erfahren hatte. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jake jemand war, dessen Interesse von kurzer Dauer sein würde. Dafür wirkte er zu ehrlich. Immerhin war er die letzten beiden Jahre totunglücklich gewesen und hatte seiner Freundin nachgetrauert. Sie wusste selber nicht, wie sie reagieren sollte. Würde Jake mehr für sie empfinden, und würde sie sich irgendwann doch dazu entschließen, nach New York zurück zu gehen, so würde es ihm garantiert das Herz brechen. Würde sie ihr Leben hier auf der Farm mit ihm verbringen wollen? Nach all dem, was sie in New York erreicht hatte. Und konnte sie jetzt schon, nach nur ein paar Tagen in Red Oak, entscheiden, ob sie für immer bleiben wollte? Die Firma würde bestimmt nicht ewig auf sie warten und es war auch kaum möglich, den Job langfristig von Red Oak aus zu machen, doch was hatte sie in New York, was sie hier nicht hatte, bis auf den Erfolg und das Geld, die sie beide nicht davor bewahren konnten, das Herz gebrochen zu bekommen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie Red Oak nicht verlassen durfte. Nicht noch einmal. Doch New York so einfach den Rücken zu kehren, war auch kaum möglich.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie Jakes warme, starke Hand auf ihrem Rücken spürte. Ganz sachte strich von ihrem Nacken hinunter bis zur Hüfte, dann glitt seine Hand an ihre rechte Seite und er drückte sie an sich. Jetzt strich seine Hand über ihren rechten Oberarm. Ganz sanft drückte er sich immer wieder an sich, als wollte er sie nie wieder gehen lassen, fast so, als hätte er ihre Gedanken gelesen, die sich um Red Oak und New York drehten. Den ganzen Rückweg zur Farm sagten sie nichts.
Kurz, bevor sie die Biegung erreichten, die zur Farm führte, lies Jake von ihr ab.
„Ich…es…vielleicht…“, stammelte er.
„Schon okay, meine Mum und meine Grandma müssen es nicht wissen!“
„Vorerst nicht“, bekräftigte Jake und wollte Lorelai vermitteln, dass es ihm ernst mit ihr war.
Als sie auf das Haupthaus zugingen, und so taten, als wären sie nur Bekannte, die sich zufällig beim joggen getroffen hatten, kam Ellen aus dem Haus heraus.
„Lorelai, da bist du ja. Ein Mann ist hier für dich. Er kommt aus New York. Ich habe keine Ahnung, was er will!“
Jakes Eingeweide zogen sich zusammen. Klar – ihr Exfreund, der Investmentbanker, war nach Red Oak gereist, um sie wieder mit zu nehmen. Und sie würde ihm bestimmt nicht widerstehen können. Wie denn auch, wenn ein Großstadtbursche sich extra auf den Weg in den Westen macht, um sein Mädchen abzuholen. Er fühlte sich, als hätte er einen festen Schlag in die Magengrube bekommen.
Lorelai lief die Stufen hinauf und er zögerte kurz, ob er mitkommen sollte. Dann entschloss er sich, ins Haus zu gehen. Es würde merkwürdig wirken, wenn er jetzt plötzlich abtauchte.
Den Investmentbanker hatte Jake sich anders vorgestellt. Er hatte zwar selber noch nie mit Investmentbankern zu tun gehabt, aber er hätte gedacht, sie trügen teure Anzüge, bei denen man nur den Designernamen zahlt, hätten geschniegelte, perfekte Frisuren und könnten genauso gut Models für Calvin Klein oder Hugo Boss sein. Zumindest hätte er sich den Investmentbanker, der Lorelais Exfreund war, so vorgestellt. Doch der Mann, der in der Küche der Cartwrights bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Erdbeerkuchen saß, und sich mit Lorelais Mutter unterhielt, sah ganz anders aus. Er war groß und schlacksig, trug ausgebeulte Jeans und ein weißes T-Shirt. Seine Haare waren etwas zu lang, an den Seiten leicht ergraut und er hatte einen Bart.
„Mark“, rief Lorelai, als sie den Mann erblickte.
Jake erinnerte sich, dass sie von einem Exfreund namens Robert gesprochen hatte.
Der Mann – Mark – sprang vom Küchenstuhl auf und schloss Lorelai in die Arme.
„Mum, Grandma, Jake…das ist Mark Shane. Er ist der IT-Manager der Firma, bei der ich in New York arbeite. Ich nehme an, er wird mir hier einen Online-Arbeitsplatz einrichten, nicht, Mark?!“
„Oh ja, so ist es“, sagte der Mann und trank seinen Kaffee aus.
„Ich hab eine ganze Wagenladung Arbeit mitgebracht. Zeigst du mir, wo der ganze Krempel hin soll?“
Jake fiel ein Stein vom Herzen, und das ungute Gefühl, dass er vor wenigen Minuten noch verspürt hatte, verwandelte sich nun in Euphorie. Es fühlte sich an, als wäre eine Bombe voll mit Schmetterlingen und anderem Kribbelzeug in seinem Bauch geplatzt, ein Gefühl, dass ihm völlig fremd war. Er hatte Amy geliebt, doch er musste sich eingestehen, dass noch nicht einmal sie jemals so ein Gefühl in ihm ausgelöst hatte.
„Lorelai, kannst du bitte noch ganz kurz mitkommen – ich…ich habe bei den Futterplänen etwas umgestellt und würde gerne wissen, was du davon hältst“, fragte er sie. Die Sache mit den Futterplänen klang zwar idiotisch, aber es war das erste, was ihm einfiel.
Lorelai war verwirrt und konnte sich nicht vorstellen, was Jake umgestellt haben sollte und warum er ihre Zustimmung dazu haben wollte.
Sie drehte sich zu Mark um.
„Hör mal Mark, die Stiegen rauf, das zweite Zimmer auf der linken Seite – das wird mein zukünftiges Büro. Ich bin dann gleich bei dir!“
„Kommen Sie Mark, ich zeige Ihnen, wo sie hin müssen“, sagte Ellen und ging voraus die Treppen hinauf in den ersten Stock, und nach getaner Arbeit essen Sie mit uns zu Mittag!“
Als sie zur Hintertür hinaus waren, nahm Jake sie an der Hand und zog sie förmlich in die Futterkammer. Lorelai griff nach dem Futterplan, der an seinem Nagel neben der Eingangstür hing und studierte ihn.
„Aber…das ist doch noch derselbe wie heute morgen!“, sagte sie und sah Jake an.
Er nahm den Futterplan aus ihren Händen und legte ihn auf die Haferbox rechts neben ihnen. Dann sah er sie für zwei Sekunden an, bevor er begann, sie leidenschaftlich zu küssen. Erst war es ein wenig fordernder, sogar etwas zaghafter Kuss, doch bald hob Jake Lorelai an ihren Oberschenkeln hoch und begann, sie leidenschaftlicher zu küssen. Lorelai schlang ihre Beine um Jakes Hüften und driftete in den Kuss hinab. Es war ein wunderschönes Gefühl, Jakes Hände auf ihrem Rücken zu spüren, der sie fest an sich drückte, während seine Lippen an ihren hafteten. Jake setzte Lorelai auf der Haferbox ab und begann, ihre Hals zu küssen, während seine Hände immer noch ihren Körper erforschten. Dann kehrte er wieder zurück zu ihren Lippen. Langsam versiegte der Kuss.
„Wow…wofür war der denn jetzt“, fragte Lorelai benommen und war immer noch hin und weg von diesem Hammer eines Kusses.
„Ich hatte einfach Angst, du würdest weggehen“, antwortete Jake und küsste ihre Nase.
„Als dieser Computertyp hier aufgekreuzt ist, dachte ich, du würdest so schnell aus meinem Leben verschwinden, wie du darin aufgetaucht bist! Und…da ist mir klar geworden, dass du mir wohl mehr bedeutest, als ich mir eingestehen wollte!“
Er strich ihr sanft über die Wange. Sie strahlte ihn mit ihren wahnsinnsblauen Augen an und dies war der erste Moment, in dem er registrierte, dass er sich Hals über Kopf verliebt hatte.
Sie hatte ihre Arme sanft um seinen Nacken gelegt und fuhr in kleinen Kreisen durch sein Haar. Ihre Blicke trafen sich.
„Du bist einfach wunderschön, Lorelai Cartwright, weißt du das“, sagte Jake und küsste sie erneut.
„Lorelai, bist du hier irgendwo?“ Der Ruf von Marge unterbrach den Kuss.
„Ich sollte wohl eher gehen, bevor meine Mum uns hier überrascht wie zwei verliebte Teenies“, lächelte Lorelai und sah in Jakes Augen.
Sie sprang von der Haferbox.
„Hey, warte!“ Jake hielt sie an der Hand und lies sie nicht gehen.
„Hast du heute Abend schon was vor?“
„Hm nein aber…ich würde gern etwas mit dir unternehmen“, sprudelte Lorelai heraus und in diesem Moment stellte SIE fest, dass sie sich in den Cowboy verliebt hatte.
„Großartig. Dann hole ich sie um halb Acht ab, Miss!“
Jake lächelte sie an. Lorelai wollte aus der Futterkammer treten, doch Jake hielt sie am Arm zurück. Er zog sie noch einmal an sich heran und küsste sie erneut.
Lorelai strich ihr Spaghettishirt glatt, öffnete ihren Pferdeschwanz und band ihn sich erneut. Dann trat sie hinaus in die warme Frühlingssonne.
„Lorelai, Mr. Shane hat eine Frage, er ist oben in deinem Büro. Was…ist alles in Ordnung?“
Marge musterte ihre Tochter.
„Ja, alles in Ordnung. Jake hat mir die Futterumstellung für den Sommer gezeigt. Er scheint wirklich Ahnung von Pferden zu haben!“
„Du magst Jake, richtig?“, schmunzelte Marge und erinnerte sich an die Startschwierigkeiten, die ihre Tochter mit Jake gehabt hatte.
„Er ist ganz nett“, versuchte Lorelai unbedarft zu wirken und trat ins Haus.