20
Es war etwa vier Uhr Nachmittag, als Jake den Pickup die Einfahrt zur Farm hinauflenkte. Wäre es nach ihm gegangen, wäre er nicht mehr zurückgekehrt. Aber er war es Ellen und Marge schuldig, zumindest zu erklären zu versuchen, warum er weg musste. Die beiden Frauen waren zwar immer noch nicht von Ellens Bruder zurück, aber er würde einfach eine Nachricht hinterlassen. War ihm auch lieber, als das von Angesicht zu Angesicht erledigen zu müssen. Ihm war bewusst, dass Lorelai ihm bestimmt über den Weg laufen würde UND dass sie ihn fragen würde, wo er gesteckt hatte. Immerhin hatte er die Anrufe und ihre Nachrichten auf seinem Handy gehabt, aber in gewisser Weise war er froh, sie zu sehen. Mit ihr hatte er noch ein Hühnchen zu rupfen.
Er parkte den Pickup vor dem Haupthaus, stieg aus und eilte Richtung Gästehaus.
Lorelai hatte im Wohnzimmer gesessen und versucht, sich mit Fernsehen abzulenken, doch die drittklassigen Gerichtsshows mit den Laienschauspielern, die nicht einmal einem Blinden eine gelungene Vorstellung darbieten konnten, schafften es kaum, sie von ihren Gedanken abzubringen. Sie hatte Jake drei Nachrichten auf seinem Handy hinterlassen und ihn siebenmal angerufen. Ohne Erfolg. Mehrmals war sie in die Stadt gefahren und hatte nach seinem Pickup Ausschau gehalten. Sie hatte überlegt, die Polizei zu informieren, diese Idee dann aber wieder verworfen, zum einen, weil eine Person mindestens vierundzwanzig Stunden vermisst sein musste, um eine Vermisstenanzeige aufgeben zu können, und zum anderen, weil Jake eben Jake war und er wahrscheinlich nur etwas zu erledigen hatte. Er hatte mit Sicherheit vergessen, sich bei ihr „abzumelden“, und außerdem hatte er dazu auch gar nicht die Verpflichtung.
Bei jedem kleinen Geräusch, das sie von draußen vernahm, war sie aufgesprungen und zur Tür gelaufen, nur um immer wieder enttäuscht feststellen zu müssen, dass es nur jemand war, der an der Farm vorbeigefahren war. Doch dieses Mal musste sie nicht resigniert zur Couch zurückkehren. Jakes roter Pickup kroch die Auffahrt herauf und wurde neben dem Haupthaus abgestellt. Jake stieg aus und ging am Haupthaus vorbei Richtung Stallungen. Lorelai fiel ein Stein vom Herzen. Sie lief durch das Wohnzimmer in die Küche hinaus zur Hintertür. Jake bog gerade um Ecke des Stallgebäudes. Lorelai lief ihm nach und holte ihn ein. Er machte keine Anstalten, anzuhalten.
„Hey, wo hast du gesteckt?“, fragte sie und legte ihre linke Hand auf seinen linken Arm.
„Ich hab mir wahnsinnige Sorgen um dich gemacht!“
Er schüttelte sie ab, starrte stur gerade aus, wie er es an jenem Abend in Barneys Kneipe gemacht hatte.
„Jake?“
Lorelai war verwirrt, doch er beachtete sie immer noch nicht und ging auf die Eingangstür des Gästehauses zu.
Lorelei sprang mit einem Satz direkt vor ihn, doch Jake umging sie, ohne ein Wort zu sagen.
„Was zum Teufel ist denn los mit dir?“, rief sie. Die Angst, die sie noch vor fünf Minuten verspürt hatte und die verschwunden war, als sie den alten roten Pickup die Auffahrt heraufkommen gesehen hatte, war mit einem gewaltigen Schlag und um das hundertfache erhöht, zurückgekommen.
Jake riss die Eingangstür auf, öffnete den Wandschrank, der sich am linken Ende des länglichen Raumes befand und holte eine dunkelblaue Sporttasche heraus, mit der er ins Schlafzimmer ging und begann, seine Jeans und Hemden zu verpacken.
„Jake. Was ist los verdammt noch mal!“
Lorelai war außer sich, riss die Reisetasche vom Bett als Jake sie unbeobachtet lies und sah ihn eindringlich an.
„Ich gehe. Ich kann hier nicht länger bleiben, ohne kotzen zu müssen“, sagte Jake streitsüchtig.
„Was ist denn passiert“, fragte Lorelai und wollte Jakes Hand ergreifen. Er entzog sich der Berührung.
„Was passiert ist? Ich sag dir, was passiert ist“, versprühte Jake sein Gift erneut.
„Ich hätte niemals so dumm sein dürfen, und mich mit dir billiger Schlampe einlassen. Ich kann nicht fassen, dass ich überhaupt so blöd war, und mich mit jemandem wie dir abgegeben habe!“
Lorelai riss die Augen auf und traute ihren Ohren nicht.
„Was…“, begann sie, doch Jake fiel ihr ins Wort. Jetzt war er so richtig in Fahrt gekommen. Er tat einen Schritt auf sie zu und sah sie bedrohlich an. Für einen kurzen Moment verspürte er den Drang, ihr ins Gesicht zu schlagen.
„Du verdammtes Miststück hast mich mit deinem New-Yorker-Zicken-Getue so weit geblendet, dass ich den Todestag meiner Frau vergessen habe. Ich habe mit dir gefeiert und dich billige Schlampe auch noch gevögelt, anstatt an sie zu denken. An sie und mein Baby. Du kotzt mich an. Ich möchte so weit wie nur möglich weg von dir!“
Er griff sich die Reisetasche, die am Fuße des Bettes stand und stopfte weiter wild Kleidungsstücke hinein.
Lorelai ging einige Schritte auf die Schlafzimmertür zu.
„Hör auf, dein Zeug einzupacken“, sagte sie dann mit fester Stimme.
„Das ist dein Zuhause. Nicht mehr meines!“
Sie wandte sich um und verlies das Gästehaus.
Wie in Trance lief Lorelai den kurzen Weg von Jakes Gästehaus zurück zum Hintereingang des Haupthauses. Der vorige Tag, an dem sie mit Jake auf dem Siedlerfest gewesen war, als er ihr gesagt hatte, das er sie liebte und sie miteinander geschlafen hatten, war meilenweit weg und schien in einem anderen Universum vor ungefähr einhundert Jahren stattgefunden haben zu müssen. Sie stand unter Schock und wunderte sich darüber, dass sie nicht einmal weinen musste. Aber dieser Umstand war wahrscheinlich auf den Schock zurück zu führen. Sie öffnete die Hintertür und blieb am Küchentisch stehen. Jetzt hatte sich ein Kloß in ihrem Hals gebildet und Tränen waren in ihre Augen gestiegen. Langsam, aber dafür stetig bahnten sich Tränen Ihren Weg über ihre Wangen hinunter zum Kinn, wo sie sich zu kleinen Tropfen formierten und wie Lemminge ins Nichts stürzten. Lorelai wischte die Tränen mit dem linken Unterarm weg und lief die Treppen hinauf in ihr Schlafzimmer. Sie hievte den Samsonite, den sie ganz hinten im Schrank verstaut und von dem sie gedacht hatte, sie würde ihn so schnell nicht mehr brauchen, hervor, öffnete ihn und begann, wahllos Klamotten in einem heillosen Durcheinander, genauso wie Jake noch vor zwei Minuten, hinein zu werfen. Als sich ein kleiner Berg aus Kleidung und Schuhen gebildet hatte, klappte sie den Koffer zu, stemmte sich etwas dagegen und rastete die kleinen Schnapper ein, die den Koffer schlossen. Sie zog ihn hinaus auf den Flur und schleppte ihn wie ferngesteuert die Treppen hinab. Im Wohnzimmer blieb sie am Telefon stehen und rief ein Taxi. Danach ging sie zur Vordertür hinaus. Im Türrahmen blieb Lorelai noch einmal stehen und drehte sich um. Das Wohnzimmer lag still und verlassen da und strahlte eine irrsinnige Gemütlichkeit aus. Die geblümte, weiche Couch in der Mitte, der buchenhölzerne Wohnzimmertisch und der Fernseher wirkten einladend und hießen einen willkommen. Noch vor vierundzwanzig Stunden war Lorelai der fixen Ansicht gewesen, dass sie hier in Red Oak ihr Glück gefunden hatte. Wieder lief eine einzelne Träne ihre linke Wange hinunter. Sie drehte sich um, trug den Koffer die Treppen der vorderen Veranda hinab, streichelte Flash ein letztes Mal, der auf der Weide vor dem dem Haupthaus mit drei anderen Pferden graste und zog ihn hinter sich her, die Auffahrt hinunter.
Sie hatte den Koffer auf das Bankett zwischen Straße und der vorderen, linken Koppel gestellt und sich darauf gesetzt. Trish vom Mietwagenservice hatte ihr versprochen, dass ihr Taxi in spätestens fünfzehn Minuten bei der Farm sein würde. In ihrer unmöglichen romantischen Art und Weise stellte sie sich sogar jetzt noch vor, wie Jake plötzlich die Auffahrt entlanggelaufen kam, sich zu ihr hinab beugte, sie festhielt, um Entschuldigung bat und sie zum bleiben überredete. Zweimal drehte sie sich um, als sie dachte, Schritte hinter sich zu hören, doch zweimal waren es nur die Gespenster ihrer Phantasie, die ihr einen Streich gespielt hatten. Jake kam nicht.
Jake kam nicht. Jake stand hinter dem Geräteschuppen versteckt wie ein Einbrecher, der darauf lauerte, dass die Hausbewohner ihr Grundstück verließen und er zuschlagen konnte. Er hatte nicht im Geringsten vor gehabt, sich bei ihr zu entschuldigen, immerhin war sie schuld daran gewesen, dass er den Todestag von Amy und seinem Baby vergessen hatte – und zu allem Überfluss an dem Jahrestag der schlimmsten Stunden seines Lebens noch gefeiert hatte. Kurz hatte er überlegt, ihr noch einmal nachzugehen und ihr noch einmal seine Meinung zu geigen, doch dann hatte er beschlossen, dass sie es nicht Wert war. Sie war es nicht wert, auch nur eine Sekunde mit ihr zu vergeuden. Er hasste Lorelai und wünschte sich, sie wäre niemals in Red Oak aufgetaucht. Er wünschte sich, er wäre nie auf sie hereingefallen. Nachdem sie zurück ins Haus gelaufen war, hatte er von seinem Küchenfenster aus beobachtet, wie das Licht in ihrem Schlafzimmer angegangen war. Als es nach etwa zehn Minuten wieder ausgeschaltet wurde, war er zu seiner Eingangstür gegangen und von dort zu den Stallungen. Er hatte gehört, wie sie die Vordertür geschlossen hatte und er sah, wie sie kurz darauf, ihren großen silbernen Koffer im Schlepptau, die Einfahrt hinunter marschierte. Er war etwas näher herangegangen und hatte sich hinter den Geräteschuppen gedrückt.
„Du solltest zu ihr gehen!“
Jake schrak hoch, als er Amys Stimme hörte. Obwohl er sie seit einem Jahr nicht mehr vernommen hatte, war ihre liebliche Stimme nicht zu verkennen. Er drehte sich um, weil er meinte, jemand wäre hinter ihm, doch außer einer Schwalbe, die gerade zwischen dem Schuppen und dem Stallgebäude aufflog, war niemand da.
„Im Leben nicht geh ich zu der Person, die daran schuld ist, dass ich dich vergessen habe, Amy“, sagte Jake in die Stille des Abends hinein.
Zwei Lichtkegel wurden aus Richtung Westen sichtbar und vergrößerten sich stetig. Bald darauf sah Jake einen der gelben Wagen der Red Oak Taxi Corp. – sie hatte die Wagen erst vor einem Jahr in diesem New-York-Gelb lackieren lassen und Jake fragte sich immer, wenn er einen der Wagen sah, warum eine Kleinstadt wir Red Oak Taxis brauchte, die Aussahen wie die einer Millionenmetropole – vor der Farm halt machen. Der Fahrer stieg aus dem Wagen und öffnete den Kofferraum. Dann hob er Lorelais Koffer hinein und warf die Klappe wieder zu. Lorelai stieg an der rechten Tür im Fond des Wagens ein. Wenige Sekunden später fuhr der Wagen die Auffahrt zum Haupthaus wenige Meter hoch, nur um dann den Rückwärtsgang einzulegen und erneut Richtung Westen davon zu fahren.
„Wohin solls gehen, Ma’am“, fragte der Fahrer. Er war ein pummeliger, braun gebrannter Mann mit grauem Oberlippenbart und einer Mütze der Dallas Cowboys. Er starrte während seiner Frage stur geradeaus auf die Straße und Lorelai musste unwillkürlich an den ersten Abend in Red Oak denken, als sie Jake am Tresen bei Barneys getroffen hatte und sie dieses Gespräch führten, bei dem auch er immer starr geradeaus geblickt hatte.
„Das Holiday Inn am Forth Worth Airport bitte“, sagte Lorelai monoton.
“Ihr Wunsch ist mir Befehl”, antwortete der Fahrer mit einem beschwingten Unterton, drückte sein Taxameter und drehte dann an einem der Knöpfe des Autoradios, bis Countrymusik ertönte.
Die Fahrt dauerte etwa vierzig Minuten und dann dauerte es noch einmal fünfzehn Minuten, bis Lorelai in ihrem Zimmer im Holiday Inn eigecheckt war. Achtlos hatte sie ihren Koffer in die Ecke gestellt und sich auf das große Queensize-Bett gesetzt. Alles war so schnell passiert, dass sie erst jetzt, im ersten Moment, in dem sie zur Ruhe kam und die Möglichkeit hatte, über alles nachzudenken, realisierte, WAS überhaupt geschehen war. Lorelai begann erst zu weinen und dann zu schluchzen und fühlte sie, als wäre sie von Gott und der Welt verlassen worden. Am schlimmsten war für sie, wie schnell sich ihr Leben verändert hatte. Wie eine Achterbahn kam es ihr vor. Erst hatte sie diesen Schein in New York gelebt, mit dem glamourösen Job und dem glamourösen Verlobten, dann war ihre Welt zusammengebrochen und sie hatte sie hier in Red Oak wieder aufgebaut. Hatte sogar gedacht, dass es gut war, dass Rob sie betrogen hatte, weil sie wirklich und wahrhaftig gedacht hatte, dass ein Leben auf dem Land für sie bestimmt war. Und dann hatte Jake ihr diesen Todesstoß versetzt. Sie hatte sich viel vorstellen können, was passieren konnte, damit ihre Beziehung zu Jake nicht funktionierte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie oft mit dem Gedanken gespielt und sich Szenarien ausgemalt, in denen Jake die Beziehung beendete. Aber in all ihren Szenarien war er immer fair ihr gegenüber geblieben. Sie hätte verstanden, wenn er einen Rückzieher gemacht hätte, weil er über die Sache mit Amy und dem Baby noch nicht weg war. Aber etwas, wie das, was vor eineinhalb Stunden passiert war, hätte sie niemals erwartet.
Sie sah zu der Uhr, die über dem Eingang des Hotelzimmers angebracht war, dachte daran, dass sie vor vierundzwanzig Stunden mit Jake am Siedlerfest gewesen war und gedacht hatte, sie wäre am Ziel angekommen. Sie hätte endlich den Mann gefunden, mit dem sie leben wollte und dass es wahrscheinlich doch einen Grund gehabt hatte, warum die Dinge mit Rob passiert waren, warum sie den unbändigen Drang verspürt hatte, nach Red Oak zurück zu gehen. Jake hatte ihr nicht einmal die Möglichkeit gegeben, zu erklären. Andererseits, was hätte sie denn erklären sollen? Sie hatte doch überhaupt nichts gemacht. Jake hatte sie einfach weggestoßen und das vor seinem Gewissen damit gerechtfertigt, dass er sie beschuldigte, ihm die Erinnerung an Amy geraubt zu haben.
Langsam versiegten die Tränen – fürs erste zumindestens. Lorelai fühlte sich matt und ausgelaugt, als hätte sie eine schwere Grippe hinter sich. Ihre Augen brannten und ihre Nase lief. Sie ging ins Bad und nahm eine Dusche. Danach kroch sie in ihr Hotelbett, schaltete den Fernseher an und hörte Jay Leno etwa zehn Minuten zu, bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel.