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Der Herbst war auch in Red Oak ins Land gezogen und bereit, seine Herrschaft an den Winter abzugeben. Die Bäume, die vor kurzer Zeit noch grüne, gesunde Blätter getragen hatten, sahen kahl aus. Verwelktes Laub lag zu ihren Füßen und bedeckte den von Regen und Teilweise sogar Schnee nassen Bürgersteig. Es war kaum sieben Uhr abends, als Jake McMahon Barneys Bar betrat. Sein Gesicht begann zu glühen, als er die Tür hinter sich schloss, die Kälte des nahenden Winters hatte ihm draußen die eisige Stirn gezeigt. Jake hatte sich verändert. Sein Gesicht wirkte verhärmt und eingefallen. Sein Haar war zu lang und strubbelig und er trug einen ungepflegten Drei-Tages-Bart. Er war längst nicht mehr so ein Frauenmagnet, wie er es noch im Sommer gewesen war.
Er befreite sich von seiner dicken, beigen Jacke, hängte sie an der Garderobe rechts von der Tür auf und setzte sich auf den ersten Hocker an der Bar, der in der Zwischenzeit schon so etwas wie sein Stammplatz geworden war.
Seit Juni, seit der Sache mit Lorelai, hatte er wieder begonnen, mehr zu trinken und seit September kam er regelmäßig nach dem Füttern der Pferde in die Bar, trank bis ein, zwei Uhr morgens, fuhr dann nach Hause und fiel ins Bett.
Er hatte sich gerade sein erstes Bier bestellt (er bestellte Bier immer zuerst, trank bis etwa zehn nichts anderes. Erst nach zehn ging er über zu Jack Daniels, Jim Beam und den anderen harten Sachen), als Earl McGray die Bar betrat. Der alte Mann hatte in den vergangenen Wochen besorgt mitbekommen, wie beständig es mit Jake abwärts ging, doch dieser war nicht bereit gewesen, sich helfen zu lassen. Earl war der einzige, der diesen kleinen, winzigen, kaum merklichen Zugang zu Jake hatte, der es ihm ermöglichte, wenigstens ein kleines bisschen von dem, was in ihm vorging, zu sehen. Hilfe annehmen würde er jedoch bestimmt niemals. Mehr als einmal hatte Earl versucht, Jake auf Lorelai anzusprechen, doch er blockte immer wieder ab. So hatte Earl es sich zur Aufgabe gemacht, so oft wie es ihm nur möglich war, in die Bar zu kommen und darauf aufzupassen, dass Jake nicht noch mehr trank, als er ohnehin schon tat, oder sonst irgendeine Dummheit anstellte.
Earl hatte eine mit Fell ausgepolsterten Mützen, die Laschen hatten, welche bis über die Ohren reichten, tief in sein Gesicht gezogen. Braune, dicke Handschuhe schützten seine Hände und er trug eine dicke, schwarze Daunenjacke, die ihm vermutlich eine Nummer zu groß war. Er sah sich in der Bar um, die um diese Uhrzeit noch ziemlich leer war. Einige Teenager saßen im hinteren Bereich bei den Billardtischen und aßen Cheeseburger. An der Bar saßen einige Männer, vermutlich Arbeiter als Dallas, die nach einem harten Tag einen After-Work-Drink nahmen, und Jake. Ganz allein.
Earl hängte seine Jacke neben Jakes an der Garderobe, steckte seine Handschuhe in die Jackentasche und stopfte auch noch die Mütze hinein, sodass einer der beiden Ohrenschützer noch zur Hälfte heraus hing. Dann setzte er sich neben Jake und bestellte sich ebenfalls ein Bier.
Jake starrte stur gerade aus, wie an dem ersten Abend, an dem Lorelai in Red Oak gewesen war. Wieder fixierte er die Bilder ihm gegenüber, als hinge sein Leben davon ab. Hin und wieder trank er aus seinem Glas.
„Ich habe schon tote Kühe gesehen, die wirkten lebendiger als du“, begann Earl ein Gespräch, doch Jake reagierte nicht darauf. Er starrte weiterhin die Bilder ihm gegenüber an. Earl betrachtete Jake, schüttelte den Kopf leicht und widmete sich dann wieder seinem Bier. Er machte sich Sorgen um den Jungen. Jake war ein so guter Mann. Doch wenn er das Ruder nicht bald herumriss, war ihm wohl nicht mehr zu helfen. Wenige Minuten später wagte er einen erneuten Versuch.
„Jake, wenn du dieses Leben so sehr hasst, warum hast du ihm dann bislang noch kein Ende gesetzt?“
„Was willst du von mir, alter Mann“, fragte Jake verächtlich, ohne von den Bildern abzusehen. Diese direkte Frage von Earl schien ihn verwirrt zu haben.
„Ich mache mir Sorgen um dich“, sagte Earl, „du bist ein wandelnder Grabstein. Ein Schatten deiner selbst. Es scheint, als habe dieser Mann, den ich kennen gelernt habe, dieser Mann, dem ich ein Zuhause angeboten habe und dem ich seinen Job vermittelt habe, nie existiert. Ebenso, wie die Steigerung dieses Mannes, die du kurz warst, als Lorelai in dein Leben getreten ist.“
Jake sagte wieder nichts. Aber anstatt die Bilder gegenüber anzustarren, hatte er seinen Blick gesenkt und starrte nun auf die Theke vor sich.
„Weißt du, ich habe Glück. Ich bin bald fünfundachtzig Jahre alt und habe in meinem Leben bis auf meine Eltern noch nie jemanden verloren, der mir nahe stand, und selbst Mom und Pop sind beide weit über neunzig Jahre alt geworden und hatte ein schönes Leben“, plauderte Earl weiter. Er wusste, dass er diese Chance nutzen musste, wenn er Jake etwas vermitteln wollte, jetzt war die Gelegenheit dazu, wo er noch nüchtern war. Und er hatte vielleicht seinen kleinen Zugang zu Jake an diesem Abend ein kleines bisschen erweitert. Bislang hatte Jake nämlich überhaupt nicht auf ihn reagiert.
„Ich habe meine Hatty mit siebzehn kennen gelernt und mit achtzehn geheiratet und uns ging es immer gut. Ich weiß nicht, wie es ist, einen Menschen zu verlieren, der ein Teil von einem selbst ist, und dafür bin ich dankbar. Dir hat das Schicksal übel mitgespielt, mein Junge, weiß Gott. Ich will auch nicht sagen, dass alles seinen Sinn hat, aber der alte Herr da oben hat deine Amy wohl für Dinge gebraucht, die über unseren Verstand hinausgehen.“
Jake sah ihn an und Earl bemerkte Tränen in seinen Augen. In diesem Moment schickte er ein Dankesgebet gen Himmel, dass er vor solchem Schmerz bislang verschont geblieben war. Er nahm einen Schluck Bier und sprach weiter.
„Ich bin nur ein alter, einfältiger Farmer, der wahrscheinlich längst nicht mehr alle Tassen beisammen hat, aber ich habe gesehen, wie Lorelai und du miteinander umgegangen seid. Und wenn Menschen, die nicht zusammengehören, so liebevoll miteinander umgehen, wie ihr es getan habt, sich so ohne Worte verstehen, dann will ich auf der Stelle vom Blitz getroffen werden!“
Er rutschte gerade auf seinem Hocker und trank sein Bier leer. Eine ganze Weile saßen die beiden Männer so nebeneinander, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Earl grübelte darüber nach, was für ein Glückspilz er wahrhaftig war. Er hatte die Weltwirtschaftskrise, den zweiten Weltkrieg und den Koreakrieg miterlebt, doch all diese Dinge zusammengenommen kamen ihm jetzt klein und nebensächlich vor, als er diesen gebrochenen Jake neben sich sitzen sah. Einen Mann, der soviel gehabt hatte und doch alles verlor.
Die Bar hatte sich mittlerweile gefüllt und es herrschte reges Treiben. Earl wollte das zweite Bier, das er bestellt hatte, noch austrinken und dann nach Hause fahren. Es würde wieder eine dieser grässlichen Herbstnächte werden und er wollte Hatty nicht zu lange allein lassen. Sie war ohnehin schon unglaublich verständnisvoll, was die Sache mit Jake betraf. Oftmals schickte sie ihn selber in die Bar, um nach ihm zu sehen. Hatty war eine wunderbare Frau.
„Was ist, wenn ihr auch etwas zustößt“, sagte Jake leise.
Earl stellte seinen Bierkrug ab und hielt kurz inne. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Jake überhaupt noch einmal etwas sagte. Er wischte sich mit dem Handrücken den Bierbart ab, der sich auf seiner stoppeligen Oberlippe gebildet hatte und sagte: „Und was ist, wenn sie hundert Jahre alt wird und sich bester Gesundheit erfreut? Wenn ihr zwei eines Tages in ferner Zukunft händchenhaltend auf eurer Veranda sitzt, einen Hund zu euren Füßen, und euer Glück nicht fassen könnt, dass ihr euch gefunden habt?“
Earl hielt diesen Satz für einen guten Schlusssatz. Schwerfällig stieg er von seinem Hocker, legte sieben Dollar auf den Tresen, ging zur Garderobe, wo er seine Jacke nahm und hinaus in die Kälte trat.