13


Als der Wecker zu schrillen begann, wurde Lorelai unsanft aus ihren Träumen gerissen. Im Zimmer war es noch dunkel, doch die Sonne hatte bereits begonnen, aufzugehen. Der Wecker schrie immer noch seinen hellen, nervenaufreibenden Ton, als Lorelai endlich auf die Stumm-Taste an der Wecker-Oberseite drückte. Sie streckte sich unter der Decke und blieb dann einige Sekunden reglos liegen. Draußen hörte sie Vögel zwitschern. Es war unglaublich. In New York war sie der Prototyp eines Morgenmuffels gewesen und hatte die Schlummer-Taste ihres Weckers pro Morgen etwa fünfmal gedrückt, ehe sie sich halbtot dazu aufgerafft hatte, aufzustehen. Aus dem Bett gekommen war sie grundsätzlich erst gegen Viertel vor Acht, doch hier in Red Oak stand sie beinahe mit den Hühnern auf. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, erst die Pferde zu füttern und vor der weiteren Stallarbeit hinunter zum See zu laufen, eine Runde darin zu schwimmen und wieder zurück zu laufen. Jetzt war es gar kein Problem mehr für sie, um halb sechs aus den Federn zu kriechen. Nach ihrer Joggingrunde würde sie um sieben bei den Pferden sein – fit und ausgeschlafen. Sie warf die Bettdecke zur Seite, stand auf und suchte sich aus ihrem Schrank einen Bikini, Shorts, ein Shirt sowie ihre Laufschuhe.


Wenige Minuten später trat sie auf die Veranda hinaus. Die kühle Luft der Morgendämmerung fühlte sich angenehm auf ihrer Haut an. Sie streckte sich noch einmal durch und ging dann die Verandatreppen hinunter zum Stallgebäude hin, an dessen Seite sich ein kleiner Anbau – die Futterkammer – befand. Jake hatte für jedes Pferd einen Futterplan erstellt, der in einer Folie an einem Nagel neben der Eingangstür hing. Er musste viel Ahnung von Pferden haben, denn aus dem Futterplan gingen Alter, Gewicht, Eignung und natürlich die jeweilige Futterration hervor. Soweit Lorelai es beurteilen konnte, eine sehr gute Arbeit.


Sie nahm eine Kiste und begann, das Futter der Pferde in Messbecher einzufüllen, die sie in die Kiste stellte. Als sie das Stallgebäude betrat, wurde sie mit grummelnden, schnaubenden Pferdegeräuschen und Gewieher begrüßt. Sie fütterte die Pferde und wollte dann ihre Runde zum See laufen, während sie fraßen. Anschließend würde sie zurückkommen und die Pferde hinaus auf die Koppeln bringen, um die Boxen sauber zu machen.


Sie war etwa eine halbe Stunde gelaufen, als sie bei dem kleinen See, der ebenfalls noch zum Land ihres Großvaters gehörte, ankam. Früher hatte sie die Strecke in zwanzig Minuten geschafft, aber sie war ja erstens nicht mehr Anfang zwanzig sondern Ende zwanzig und außerdem war sie seit acht Jahren bis auf die kleinen Joggingrunden Sonntagmorgen im Central Park nicht mehr gelaufen. Außer Atem ging sie den Steg entlang, der etwa vier Meter in den See hineinführte und stützte sich mit den Händen an den Knien ab. Die Sonne war jetzt bereits über den Horizont gestiegen und spiegelte sich auf der Wasseroberfläche wieder. Lorelai schlüpfte aus ihren Schuhen und Socken, streifte die Shorts und das Shirt ab und sprang ins Wasser. Es war eiskalt und während sie abtauchte, bildeten sich kleine Wasserbläschen, die sie kitzelten. Auf ihrem ganzen Körper hatte sich durch den Kälteschock eine Gänsehaut gebildet, doch es war ein wundervolles Gefühl, nach dem Laufen im kalten See zu schwimmen. Nach etwa fünf Metern tauchte sie auf und schwamm ans Ende des Sees.


Als sie umdrehte um zum Steg zurückzuschwimmen, sah sie, dass dort jemand stand, der ihr zuwinkte. Sie schwamm näher auf den Steg zu und aus den Umrissen am Steg wurde Jake. Er winkte ihr zu.

„Sie sind ja eine ganz schöne Sportskanone“, rief er lächelnd, als sie in Hörweite war.

„In meinem Alter sollte man auf seine Figur achten“, lächelte Lorelai zurück.

„Ach kommen sie….ich denke nicht, dass SIE Figurprobleme haben!“

Er war in die Hocke gegangen und hatte die Hand ins Wasser getaucht.

„Ganz schön kalt“, stellte er fest.

„Wenn man erstmal drin ist, ist es nicht mehr schlimm!“

„Ach? Das heißt, Gänsehaut ist neuerdings ein Zeichen von Wärme?“

Jake grinste sie an. Lorelai war verwundert. Ihr kam es so vor, als würde Jake mit ihr flirten. Dabei hatte er gerade an den beiden vergangenen Tagen immer so penibel darauf geachtet, Abstand zu halten, hatte von seiner Verlobten erzählt und auch Jimmy hatte gemeint, dass alle Frauen, die ihn angesprochen hätten, eiskalt abgeblitzt wären.

„Tja, das werden sie wohl nie herausfinden, wenn sie da draußen herumstehen“, stichelte Lorelai.

Jake grinste sie an. Er fixierte sie mit seinem Blick und sie hielt ihm stand.

„Ihnen ist doch klar, dass es für sie ein böses Ende nehmen könnte, wenn sie mich jetzt ins Wasser locken“, sagte er.

„Ich liebe das Risiko“, antwortete Lorelai und spritze ihn mit einem Schwall Wasser voll.

„Okay, sie haben es nicht anders gewollt“, rief Jake und knöpfte sein Hemd auf.

Lorelai sah ihm zu, während er sich bis auf seine engen Boxershorts auszog und konnte ihren Blick gar nicht mehr von seinem Körper ziehen. Er sah einfach großartig aus. Er war muskulös, aber nicht so aufgepumpt wie diese New Yorker Fitnessjunkies, die Lorelai hin und wieder kennen gelernt hatte. Seine Haut war leicht gebräunt. Mit voller Körperspannung sprang er in den See und war dann verschwunden. Lorelai blickte sich um, konnte ihn aber nirgendwo ausmachen, für einen Augenblick kam ihr der Gedanke, er hätte vielleicht eine Herzattacke erlitten. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass man nicht einfach so in kaltes Wasser springen sollte, weil man dadurch sein Risiko für einen Herzanfall drastisch erhöhte.


Plötzlich tauchte Jake hinter ihr auf und schlang seine Arme um sie. Sein Körper fühlte sich trotz der Kälte des Wassers warm an und in Lorelais Bauch begann es zu kribbeln.

„Sie haben einen großen Fehler gemacht, mich nass zu spritzen, kleine Lady“, sagte er in ihr Ohr. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem, sie konnte seinen warmen Atem auf ihrem Hals spüren. Sie verharrte kurz in der Position und genoss die Berührung. Er drückte sie einen Moment an sich und am liebsten hätte sie sich aus dieser Umarmung gar nicht mehr gelöst. Doch sie tat es. Sie befreite sich aus seinen Armen, schwamm zwei Meter in Richtung Steg, drehte sich zu ihm um und spritzte ihn erneut nass.

„Hey, das macht alles nur noch schlimmer“, rief Jake lachend und schwamm auf Lorelai zu. Dicht vor ihr tauchte er auf. Zwischen Ihren Gesichtern waren keine fünf Zentimeter Abstand mehr. Alles um die beiden herum war ruhig, das Wasser, welches gerade eben noch Wogen geworfen hatte, beruhigte sich. Die Zeit schien still zu stehen und keiner der beiden wagte, etwas zu tun. Jake blickte tief in Lorelais Augen und in diesem Augenblick wusste er, dass er das richtige getan hatte. Er konnte nicht mehr an sich halten und küsste sie. Für ihn war es, als würde ein Feuerwerk explodieren, als würden all die aufgestauten Gefühle, die seit dem Tag von Amys Tod in ihm gebrodelt hatten, sich lösen. Er war sich immer sicher gewesen, dass es keine Frau geben würde, die nach Amy sein Herz erobern könnte, doch Lorelai hatte das innerhalb weniger Tage geschafft. Es fühlte sich richtig an. Und es war richtig.


Lorelai war überwältigt. Sie war beinahe sechs Jahre mit Rob zusammen gewesen und sie wusste, dass sie die rosarote Brille, realistisch betrachtet, höchstwahrscheinlich bereits nach einem Jahr abgezogen hatte. Richtig geküsst hatten sie sich nach etwa eineinhalb Jahren auch nicht mehr und irgendwann war Rob nicht mehr dieser attraktive, gepflegte, gestylte, immer gut duftende, witzige Investmentbanker, der den Sekretärinnen von The Commercialists den Kopf verdrehte, wenn er zu einem Geschäftstermin erschien und von dem Lorelai anfangs gar nicht glauben konnte, dass er SIE um ein Date gebeten hatte. Dass er SIE geküsst hatte. Dass SIE eine Nacht gemeinsam mit ihm verbracht hatte und dass er SIE gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wollte. Irgendwann war er nur noch Rob, der nach seinem Arbeitstag zuhause in Unterwäsche auf der Couch lag, oft miese Laune hatte und der den ganzen „Zauber“, der er vielleicht zu Anfang ausgestrahlt haben mochte, verloren hatte. Das Gefühl, wie es war, so geküsst zu werden, hatte sie längst vergessen gehabt. Jakes Lippen waren wider erwarten weich und sanft. Lorelai hatte ihn als rauen Cowboy kennen gelernt, mit dem man wohl am wenigsten zarte Lippen in Verbindung brachte. Jakes Hände streichelten sanft über Lorelais Rücken, zogen sie an sich und fühlten sich stark und sanft zugleich an. Der Kuss war fordernd und spiegelte Jakes Charakter wider. Seine Lippen saugten sich an ihren fest und forderten mehr.


Langsam versiegte der Kuss. Jake sah Lorelai in die Augen und fand, dass sie jetzt noch mehr strahlte, als vor wenigen Minuten.

„Wow, vor nicht einmal achtundvierzig Stunden wolltest du mich noch von der Farm werfen“, sagte sie etwas benommen. Sie konnte gar nicht fassen, was eben passiert war und das Kribbeln in ihrem Bauch zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.

„Manchmal ändert man seine Meinung eben“, lächelte Jake und strich Lorelai über ihr nasses Haar. Dann küsste er sie kurz auf die Nase und auf die Stirn.


Gemeinsam gingen Lorelai und Jake den Weg zur Farm zurück. Immer wieder schielte Jake zu Lorelai hinüber, wenn er dachte, dass sie es nicht bemerkte. In ihm brodelte es immer noch. Es war ein wunderschöner Kuss gewesen, ein Kuss, wie er in einem Buch nicht besser hätte beschrieben sein können und auch er fühlte sich wunderbar. Er hatte eigentlich niemals darüber nachgedacht, wie es sein würde, eine andere Frau zu küssen, denn für ihn hatte festgestanden, dass es niemals eine andere geben würde, als Amy. Lorelai hatte dieses Vorhaben restlos durcheinandergeworfen und sein Herz, sein Bauch und sein Hirn sagten ihm, dass es die richtige Entscheidung gewesen war.