5
„So – dann mal raus mit der Sprache, warum bist du hier?“
Lorelai saß mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter in der großen Küche der Farm und kam sich vor wie früher, wenn sie etwas ausgefressen hatte. Ein schönes und weniger schönes Gefühl gleichzeitig. Sie saß auf dem Stuhl am Esstisch, rutschte darauf herum, sah zu Boden und fühlte sich unbehaglich. Jetzt war es soweit – jetzt musste sie ihrer Familie reinen Wein einschenken, was die Sache mit Rob betraf.
In der Küche war alles so, wie es gewesen war, als sie ein kleines Mädchen war. Die Küche war in rotbraunem Holz gehalten, wie immer tiptop sauber und sehr geräumig. Lorelai hatte sich in New York oft gefragt, wie es ihrer Großmutter und ihrer Mutter gelang, ein so riesengroßes Haus immer sauber zu halten. Sie selbst hatte für ihr Appartement eine Haushälterin eingestellt, die dreimal die Woche kam und den Haushalt schmiss und wäre ohne sie wohl heillos überfordert gewesen. An der Süd- und Nordseite des Raumes verlief über der Spüle und dem Arbeitsplatz eine durchgehende Fensterfront, die den Raum in helles Licht tauchte und einen wunderschönen Ausblick auf die rückwärtigen Koppeln und den angrenzenden Wald bot. Neben der Eingangstür stand immer noch der große runde Tisch in denselben Farbe wie die restliche Küche, an dem vor mehr als zwanzig Jahren die ganze Familie ihr Essen eingenommen hatte. Jetzt saßen nur Ellen und Marge Cartwright und Lorelai auf den weißen, bequemen Stühlen. In der Mitte des Tisches, der eine karierte Tischdecke trug, stand eine Vase mit einem bunten Frühlingsstrauß, den Ellen früh am Morgen bei ihrem täglichen Spaziergang gepflückt hatte. Daneben stand ein großer Krug mit ihrem eisgekühlten, hausgemachten Orangensaft. Lorelais Großmutter presste den Saft immer noch selber, wässerte und zuckerte ihn und er würde jedem Saft, den man in Läden zu kaufen bekam, gnadenlos Konkurrenz machen.
„Ach, wisst ihr…nach der Trennung von Robert hatte ich die Stadt einfach satt“, sagte Lorelai, hatte den Blick auf die Blumen gerichtet und tippte mit ihren Fingerspitzen auf die Tischplatte. „Die Trennung von Robert“ betonte sie so, als wäre es das normalste der Welt, dass sie nicht mehr mit dem Mann, den sie in wenigen Monaten hätte heiraten wollen, zusammen war. Ein klitzekleines Fünkchen in ihr hoffte, dass weder ihre Mutter noch ihre Großmutter nach der Trennung fragen würden.
„Du hast dich von Robert getrennt?“ Ihre Mutter schien beinahe entsetzt.
„Eigentlich hat er sich
von mir getrennt, Mum…beziehungsweise…er hat den Schritt zur
Trennung getan“, sagte Lorelai gleichgültig.
„Aber…wieso? Ihr wolltet doch heiraten? Was
ist passiert?“
Lorelai wurde leicht ungeduldig. Ihre Mutter war in Sachen Feingefühl manchmal ein Elefant und merkte auch in diesem Moment nicht, dass es ihrer Tochter unangenehm war, über das Thema zu sprechen.
„Wenn du es genau wissen willst, Mom, ein Mädchen namens Alicia ist passiert. Ich habe Rob mit ihr in unserem Bett in Flagranti erwischt. Reicht das?“
Lorelai war es peinlich, im Beisein ihrer Mutter in Beziehungskisten zu kramen und noch peinlicher war es ihr, den Grund für die Trennung zu offenbaren.
„Ach Kind. Das tut mir leid. Wann ist das alles denn passiert?“
„Dir muss es nicht Leid tun. Ich glaube nicht, dass du dieses Mädchen in unser Bett gelegt hast, oder? Letzten Donnerstag hab ich die beiden überrascht. Wie lange es schon läuft weiß ich selber nicht. Interessiert mich auch nicht mehr. Aber ich brauchte eine Auszeit. Hab meinen Job auf Eis gelegt und dachte, ich gehe back to the Roots!“
Lorelai war über ihre merkwürdige Ausdrucksweise selbst erstaunt…wollte das Thema aber so schnell wie möglich vom Tisch haben und fasste deshalb soviele Informationen wie möglich in ihre kleine Rede.
Ellen und Marge blickten sich an, sagten aber nichts. Beide Frauen waren überglücklich, Lorelai wieder bei sich zu haben. Doch die Sache mit ihrem Verlobten schien sie noch nicht richtig verdaut zu haben.
„Wem gehört das große braune Pferd das auf der vorderen Koppel steht. Es ist eine europäische Rasse, stimmt‘s?“ fragte Lorelai in die unangenehme, nachmittägliche Stille der Küche hinein und versuchte vom Thema abzulenken.
Erneut warfen sich ihre Mutter und ihre Großmutter einen Blick zu. Marge Cartwright nahm einen Schluck Orangensaft und sagte dann: „Streng genommen… dir!“
„Mir?“ wiederholte Lorelai.
„Dein Großvater hat dieses Pferd für dich gekauft. Es sollte eine Überraschung sein. Du warst doch immer so begeistert von diesen europäischen Sportpferden. Ein Onkel deines Großvaters, Edward, der in Großbritannien lebte, hat das Pferd Mitte der Neunziger Jahre als Jährling in Deutschland auf einer Geschäftsreise entdeckt. Dein Großvater hat es für dich gekauft und wollte es dort ausbilden lassen.“
Ellen Cartwrights Mine wurde plötzlich traurig.
„Als er 1999 gestorben ist, wusste niemand von dem Pferd. In Deutschland hatten sie nur die Handynummer deines Großvaters, aber sein Handy haben wir nach seinem Tod abgemeldet. 2001, kurz nachdem du nach New York gegangen warst, wurde es dann plötzlich zu uns gebracht. Der Zuchtbetrieb hat es einfach hierher fliegen lassen, weil sie meinten, bezahlt ist bezahlt und Eigentum ist Eigentum.“
„Aber…warum habt ihr denn nie etwas gesagt?“
Lorelai war wie vor den Kopf gestoßen.
„Weil du immer so glücklich gewirkt hast, als du von New York erzählt hast. Es schien so, als wäre das dort deine Welt, nicht hier. Was hättest du dann hier mit einem Pferd angefangen. Wir haben beschlossen, es zu behalten. Weißt du, in gewisser Weise ist das Pferd eine Verbindung zu deinem Großvater.“
Langsam stand Lorelai auf. Der weiße Küchenstuhl knarrte etwas, als er von dem Runden, bunten Teppich, auf dem der Tisch und die Stühle standen, auf den Holzfußboden geschoben wurde.
„Ich gehe nach draußen“, sagte sie und verließ die Küche.
Acht Jahre. Eigentlich Acht Jahre und fünf Monate war sie von Zuhause fort gewesen. Acht Jahre und fünf Monate hatte sie sich weder um ihre Großmutter, ihre Mutter, die Farm, ihre Freunde – und um dieses Pferd, um ihr Pferd, gekümmert. Sie hatte jede Woche, spätestens alle zwei Wochen einmal angerufen. Und natürlich an Geburtstagen, Muttertagen, Valentinstagen, zu Ostern, zu Thanksgiving und zu Weihnachten. Dazu hatte sie Geschenke geschickt und war davon ausgegangen, dass es genügen würde, Päckchen zu versenden. Dass Päckchen ihr Anwesenheit ausgleichen könnten. Die ersten vier Jahre hatten Ellen und Marge versucht, Lorelai dazu zu überreden, wenigstens einen der Feiertage, Thanksgiving oder Weihnachten, in Red Oak zu verbringen. Doch die City, ihre Freunde und ihr Job waren ihr immer wichtiger gewesen, sodass Ellen und Marge schließlich resigniert hatten und irgendwann gar nicht mehr fragten. Es war Lorelai gar nicht aufgefallen, das in den letzten Jahren niemand mehr gefragt hatte, ob sie zu Thanksgiving oder zu Weihnachten kommen würde. Da waren kleine Weihnachtspäckchen, die meist in der letzten Woche vor dem heiligen Abend aus Red Oak für sie ankamen. Ihre Großmutter schickte meist Geld (was Lorelai unangenehm war, immerhin verdiente sie bei ihrem Job vermutlich das Dreifache, wenn nicht noch mehr von dem, was ihre Großmutter zur Verfügung hatte) und ihre Mutter Dinge, für die keiner Verwendung hatte. Einmal war es ein gestrickter Pullover mit einem braunen Vogel quer darauf gewesen. Dazu Haarspangen mit einem Motiv aus 101 Dalmatiner. Im Gegenzug dazu schickte Lorelai ihrer Großmutter und ihrer Mutter Dinge von New York. Einen warmen Wintermantel für Grandma von Macys, ein paar Hosen und Oberteile für ihre Mutter. Hin und wieder ein kleines New-York-Souvenir und jede Menge Fotos. Fotos waren die einzige Möglichkeit gewesen, wie Ellen und Marge an Lorelais Leben teilhaben konnten. Beide wagten sich nicht in ein Flugzeug, hatten wahrscheinlich auch gar keine große Lust, eine Stadt voller Abgase, Verbrecher, mit viel zu viel Lärm zu besuchen. Und Lorelai hatte scheinbar vergessen, wo Red Oak lag. Sie hätte niemals so lange wegbleiben dürfen, dachte sie jetzt. Sie hatte ihre Familie und die Farm im Stich gelassen. Es waren tatsächlich acht Jahre und fünf Monate gewesen und wahrscheinlich wäre sie nie mehr wieder nach Red Oak zurückgekehrt, wenn die Geschichte mit Robert nicht passiert wäre.
Sie saß jetzt wieder auf dem weißen Koppelzaun und betrachtete das braune Pferd, das ihr Großvater ihr hatte schenken wollen, welches gemeinsam mit einem Schimmelwallach und zwei Fuchswallachen graste. Hatte sie tatsächlich gedacht, in Red Oak hätte sich nichts verändert? Hatte sie wirklich angenommen, die Welt im Bundesstaat Texas hätte sich nicht weitergedreht.
„Wir freuen uns sehr, dass du hier bist!“
Plötzlich waren ihre Mutter zu ihrer rechten, und ihre Großmutter zu ihrer linken Seite aufgetaucht. Beide blickten jetzt, ebenso wie Lorelai, das Pferd an und obwohl niemand etwas sagte, es allen dreien schwer fiel, darüber zu reden, was in den vergangenen Jahren passiert war, wie Lorelais Weggang sich auf die Farm und die Familie ausgewirkt hatte, so waren alle drei in diesem Moment unsagbar glücklich und sich sehr nah.