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„Warum ist für vier gedeckt?“

Lorelai war in die Küche gekommen. Die letzten zwei Stunde hatte sie damit verbracht, die paar Habseligkeiten, die sie in ihrem Samsonite nach Texas gebracht hatte, in ihrem alten Kinderzimmer zu verstauen. Es war wie ein Flash gewesen, als sie das Zimmer betreten hatte. Nichts hatte sich dort drin verändert, ihr altes Zimmer war wohl wirklich ein Ort, in dem die Zeit stehen geblieben war. Ihr Bett stand immer noch in der Linken oberen Ecke des Zimmers, daneben der Schreibtisch, der sich direkt vor dem großen Fenster befand, von dem aus man auf eine der Koppeln sehen konnte. Neben der Eingangstür links stand immer noch die kleine Sitzgruppe, auf der Lorelai früher mit ihren Freundinnen gesessen und sich über Jungs, Zukunft und Pferde unterhalten hatte. Die meisten ihrer Freundinnen, die oftmals dieselben Träume wie sie selbst geträumt hatten, von einem Job in einer Metropole, von Karriere und Eigenständigkeit waren mittlerweile verheiratet und mehrfache Mütter. Sie alle waren von der Red-Oak-Karriereleiter eingeholt worden. Rechts neben der Eingangstür waren einige Regale an die Wand geschlagen worden, mit Pokalen, die sie früher auf Reitturnieren gewonnen hatte, mit Plüschtieren und Souvenirs aus ihrer Kindheit. Direkt hinter der Eingangstür befand sich der kleine begehbare Schrank.


Als sie die paar New Yorker Kleidungsstücke, von denen sie gedacht hatte, dass sie auch landtauglich wären, in dem kleinen Schlurf an dessen beiden Seiten oberhalb Kleiderstangen angebracht und unterhalb Schuhschränke waren, untergebracht hatte, war sie froh, nur ein paar Teile mitgenommen zu haben. Obwohl es nur ein Bruchteil ihrer Garderobe war, war der begehbare Schrank fast zum Bersten voll.

„Was ist nur aus dir geworden“, dachte sie, als sie am Schrankeingang stand und die Teile von Louis Vuitton, Miu Miu, Cacharel und Calvin Klein betrachtete, die in diesem kleinen ländlichen Kleiderschrank völlig fehl am Platz, fast sogar abstrakt, wirkten.

„Wohin ist die Lorelai verschwunden, der es egal war, welches Label sie trug und die mindestens sechs Paar Gummistiefel im Schrank hatte? Wo ist die nur hin?“


„Weil wir eben vier sind, die heute hier essen“, erklärte Ellen logisch, während sie in einem großen Edelstahltopf rührte. Es roch so gut wie immer, wenn ihre Großmutter kochte.

„Wir sind aber nur drei – wer kommt denn noch?“

„Lorelai, hast du in New York dein Zahlenverständnis verloren? Deine Mutter, du, Jake und ich, das macht vier“, sagte Ellen ganz nebenbei, während sie einen großen, wunderbar duftenden Hackbraten aus dem Ofen holte und ihn auf der Arbeitsplatte abstellte.

„Dieser Jake isst mit euch?“

Lorelai war verwundert.

„Habt ihr ihn adoptiert oder so?“

„Jake ist ein sehr netter Mann“, sagte Marge, während sie Gläser neben die Gedecke stellte und Servietten auf den Tellern verteilte.

„Er ist uns eine sehr große Hilfe auf der Farm. Grandma und ich hätten sie nicht alleine bewirtschaften könnten. Ohne Jake hätten wir längst verkaufen müssen. Ihn hat uns der Himmel geschickt!“

„Ich finde ihn nicht sehr sympathisch“, erwiderte Lorelai, trug den Hackbraten zum Tisch, stellte ihn in die Mitte und dachte an ihre erste Begegnung mit dem Cowboy. „Habt ihr gar nicht mitbekommen, wie der mich angeschnauzt hat? Ich dachte, er möchte hier einen Reitbetrieb eröffnen. Ich denke, die Kunden werden fernbleiben, wenn sie von diesem Möchtegern-Jesse-James da draußen angeblafft werden, als hätten sie versucht, ein paar Kürbisse zu klauen!“

„Würde ich alle Taugenichtse, die sich hier herumtreiben wollen, mich offenen Armen empfangen, wäre die Farm wohl längst niedergebrannt!“

Jake McMahon war durch die Hintertür zur Küche hereingekommen und hatte das Gespräch scheinbar mitbekommen.

Wutentbrannt sprang Lorelai auf und ging auf ihn zu. Er war ein großer Mann – die am Nachmittag von ihr geschätzten einsfünfundachtzig waren wohl untertrieben. Er musste über einsneunzig groß sein. Obwohl sie ihm nur knapp bis zur Schulter ging, blitzten ihre blauen Augen ihn böse an.

„Sie nennen mich also Taugenichts? Ich fasse es nicht. Hören sie, Lucky Luke, passen sie bloß auf, und spielen sie hier nicht den großen Macker. Ich glaube nicht, dass ein Möchtegerncowboy wie sie so schnell wieder zwei nette Ladies findet, bei denen er gegen ein bisschen Zaun-reparieren und sich aufspielen den Patriarchen machen kann!“

„Lorelai!“ Ellen Cartwright traute ihren Ohren nicht und versuchte, ein Machtwort zu sprechen. Doch Jake schien ziemlich unbeeindruckt von dem Rohrspatz, der so zu ihm heraufschimpfte.

„Sie nehmen den Mund ganz schön voll, dafür, dass sie so klein sind“, grinste er sie an und ging dann wortlos an ihr vorbei um sich in der Spüle die Hände zu waschen.

„Hört auf zu streiten. Lorelai, Jake ist uns eine sehr große Hilfe, das habe ich dir heute schon einmal erklärt – deine Großmutter und ich sind ganz allein hier auf der Farm. WIR könnten sie nicht bewirtschaften, und DU hast dich von Acker gemacht. Und Jake – Lorelai ist meine Tochter. Sie ist hier willkommen, solange sie bleiben möchte und hat sämtliche Freiheiten. Die Farm ist ihr zu Hause. Ich möchte nicht, dass sie sich hier nicht wohl fühlt! Und nun setzt euch, bevor das essen kalt wird!“ Jake und Lorelai nahmen am Tisch Platz und sahen einander verächtlich an.


Das Essen war einfach wunderbar. Lorelai hatte in den vergangenen acht Jahren nicht halb so gutes Essen bekommen, wie an diesem ersten Abend in Red Oak. Der Braten (ihr war gerade eingefallen, dass sie in New York außer an Thanksgiving und Weihnachten nie Braten gegessen hatte – immer nur entweder Sushi, einen Snack aus der Firmenkantine oder ein Sandwich vom Sandwich-Stand an der Ecke) war saftig und ganz kurz dachte sie an ihre Freundinnen aus der Stadt, die wahrscheinlich angeekelt weggelaufen wären, wenn sie den mit Fett, Kohlehydraten und Kalorien vollgestopften Braten gesehen hätten. Der Kartoffelbrei, den es als Beilage gab, war nirgendwo so gut wie bei Ellen Cartwright. In New York hatte sie immer ein, zwei Schachteln mit dem Fertigpulver in ihrer Küche gehabt, dieses Zeugs, welches man nur mit heißem Wasser und Milch aufgießen musste. Im Vergleich zum Kartoffelbrei ihrer Großmutter schmeckte das Fertigzeug wie Kotze. Und auch rein optisch konnte die fast flüssige, weißlich-gelbe Masse mit dem festen, gelben Brei ihrer Großmutter nicht mithalten, der mit angerösteten Zwiebelstückchen garniert war.

„Schmeckt es dir, Kind“ fragte Ellen, doch sie konnte sich die Antwort schon denken. Lorelai aß, als hätte sie zwei Monate nur von Wasser und Brot gelebt.

„Einfach großartig, Grandma. Ich verleihe dir hiermit einen Orden für die beste Köchin der Welt!“

Sie nahm einen Schluck Coke Light und versuchte dann, noch einmal mit Jake ins Gespräch zu kommen.

„Ich hörte, sie möchten aus der Farm einen Reitbetrieb machen Jake, wie stellen sie sich das vor?“


„Was geht dich hochnäsige Großstadttussi das an“, war die Antwort, die Jake auf der Zunge gelegen hätte. Ellen und Marge hatten oft von Lorelai erzählt. Was für ein Sonnenschein sie war, jemand, der mit jedem klarkam, hilfsbereit, nett, zuvorkommend, höflich, ein Vorzeigemädchen. Was für einen großartigen Job sie bei dieser Werbefirma machte und dass sie mit ihren damals siebenundzwanzig für alle Upper-Class-Labels in Nordamerika verantwortlich war. Er hatte gewusst, dass sie mit einem Investmentbanker aus New York zusammen war und dass sie bald heiraten wollte. Ellen hatte ihm regelmäßig, und vor Stolz fast platzend, Fotos von Lorelai gezeigt, von dem Appartement, in dem sie lebte und das voll von für ihn hässlichen Designermöbeln war. Er erinnerte sich dumpf an eine weiße Couch und daran, dass er sich seinerzeit gefragt hatte, wie oft man das Ding wohl reinigen musste. Fotos von Lorelai und diesem Robert auf Ausflügen, vor der Freiheitsstatue, auf dem Hollywood Boulevard und bei Mount Rushmore. Sie sahen aus wie ein gecastetes Pärchen auf Werbeplakaten. Er wollte fragen, warum die großartige Lorelai es bislang noch nicht geschafft hatte, ihre Familie zu besuchen, wenn sie doch quer durch das Land flog, und wie es sein konnte, dass sie zwar hin und wieder in Houston war, aber keinen Abstecher nach Red Oak machen konnte, biss sich aber auf die Zunge, weil diese Frage Ellen, die so stolz auf ihre Enkelin war, bestimmt verletzt hätte. Er erinnerte sich, dass er gefunden hatte, dass Lorelai eine ausgesprochen hübsche junge Frau war. Mit ihrem hellen Teint, den frechen blauen Augen und dem dunklen Haar, das ihr hübsches Gesicht umrahmte. Einmal hatte Ellen ganz nebenbei gemeint, wie wunderbar er und Lorelai doch zusammenpassen würden und dass es toll wäre, wenn die beiden ein Paar wären und die Farm gemeinsam führen würden. Er erinnerte sich, dass er etwas rot anlief und dann vom Thema ablenkte.

Jake hatte keine große Lust, Lorelai das Konzept für einen kleinen Reitbetrieb, das er sich ausgedacht hatte, offen zu legen, doch er würde gut daran tun, sie jetzt nicht abblitzen zu lassen, gerade, wo Marge vorhin doch sehr für Ruhe plädiert hatte.


„Nun“, begann er, schob sich eine Gabel voll Kartoffelbrei in den Mund, kaute seelenruhig und fuhr dann fort: “Ich möchte etwa fünf, sechs Pferde für einen Reitbetrieb kaufen. Ich reite, seit ich ein kleiner Junge bin und denke, dass ich einen guten Draht zu Kindern habe – außerdem habe ich an der Dallas Equestrian University meinen Abschluss als staatlich geprüfter Reitlehrer gemacht, ich sollte also kein Problem haben, Anfänger zu unterrichten und kann dies auch spartenunabhängig tun. Ich unterrichte Westernreiten genauso wie die klassische Reitweise, was von Vorteil wäre. Klassisches Dressurreiten ist gerade in den letzten Jahren auch hier in den Staaten gefragter denn je. In weiterer Folge könnte man an das Gästehaus unten am Fluss anbauen, aus einem Haus für zwei bis vier Personen ein Pensionshaus machen, mit Zimmern für zum Beispiel zehn Kinder. Man könnte Reitferien anbieten. Ich habe an einen Gemeinschaftsraum gedacht, mit Fernseher und Gesellschaftsspielen. Wenn wir einen kleinen Teil an das Gästehaus anbauen, kann ich dort weiterhin leben und mich um die Gäste kümmern. Es wäre keine große Investition, denke ich, aber sie würde für die Farm bestimmt von Vorteil sein!“

„Sie sind aber sehr daran interessiert, Kinder in Ihr Hexenhäuschen am Fluss zu locken“, konnte Lorelai sich nicht verkneifen. Dieser Cowboy mochte zwar gut als Farmer sein, jedoch hatte er von Marketing und Kostenrechnung kaum eine Ahnung. Sie wollte gerade dazu ansetzen, ihm dies mitzuteilen.

„Okay, das reicht. Ich habe es nicht nötig, mir SO ETWAS vorwerfen zu lassen! Ellen, Marge, ich wünsche einen guten Abend!“ Er nahm seinen Stetson, den er auf die Ablage neben der Kücheneingangstür gelegt hatte und ging eiligen Schrittes hinaus.

„Was hat er denn“, schmunzelte Lorelai. „Ist ihm ein Läuschen übers Leberchen gelaufen?“

„Lorelai Patricia Cartwright“, begann Ellen böse, „Jake hat uns der Himmel geschickt. Hast du tatsächlich geglaubt, deine zweiundfünfzigjährige Mutter und ich mit meinen fünfundsiebzig schaffen es, eine fast dreißig Hektar große Farm zu bewirtschaften? Du hast es ja nicht für nötig gehalten, hier zu bleiben und deiner Familie zu helfen. Du musstest in die große weite Welt ziehen und hast vergessen, dass es uns gibt. Daraus macht dir niemand einen Vorwurf, aber DU hast nicht das Recht, hier einfach aufzutauchen, dich aufzuspielen und dich zu benehmen wie eine dieser Großstadtzicken, die keine Ahnung haben. Solltest du es nicht schaffen, dich zivilisiert Jake gegenüber zu verhalten, dann ist es wohl besser, wenn du wieder nach New York zurückgehst!“

Sie stand auf und begann, das Geschirr vom Tisch hinüber zur Spülmaschine zu tragen. Marge half ihr dabei. Lorelai sprang vom Tisch auf und stürmte durch die Eingangstür hinauf in ihr Zimmer.

Sie hatte sich in den bequemen Studiosessel gesetzt, die Knie hochgezogen und starrte ins Nichts, nachdem sie die Tür zu ihrem Zimmer zugeknallt hatte. Die Standpauke ihrer Großmutter war mehr als nur ein Schlag ins Gesicht gewesen. Indirekt hatte sie ihr gesagt, dass dieser merkwürdige Cowboy ihr wichtiger war, als die eigene Enkeltochter. Sie…doch im Grunde genommen war Lorelai nicht so. Es war nicht ihre Art, Menschen gegenüber zu treten, wie sie es bei Jake getan hatte. Sicher, er hatte sie bei ihrer ersten Begegnung nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst, aber immerhin trug er die Verantwortung für die Farm. Und er hatte ja recht – wohin würde es führen, wenn jeder x-beliebige sich auf der Farm aufhalten könnte. Er hatte mit Sicherheit den falschen Tonfall ihr gegenüber angeschlagen, aber konnte man von einem Cowboy aus Red Oak erwarten, sie in feinster Etikette nach ihrem Befinden und den Gründen ihres Aufenthalts zu fragen? Es war vermutlich schon okay, und die Lorelai, die sie war, wenn sie nicht die cowboyfressende Hyänenlorelai war, die sie jetzt gerade zu sein schien, hätte der ganzen Situation mit einer frechen Bemerkung und einem Funkeln in den Augen die Schärfe genommen. Langsam aber sicher tastete die süße Lorelai, die ihre Mitmenschen immer gleich in ihren Bann zog, in den Vordergrund und beschloss, sich am nächsten Tag bei Jake zu entschuldigen.