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Der Tag, der Lorelais Leben so vollständig auf den Kopf stellen sollte, war ein Donnerstag gewesen. Donnerstag war der Abend, an dem Lorelai für gewöhnlich mit ein paar Kolleginnen auf einen After-Work-Drink in die Cocktailbar in der 93. Straße ging und selten vor elf nach Hause kam. An diesem Donnerstag jedoch würde sie Cocktails gegen Hustensaft und Wärmeflasche eintauschen müssen. Sie hatte schon den ganzen Vormittag über mit einer Frühlingsgrippe gekämpft, fühlte sich fiebrig, verschnupft, hatte Halsschmerzen und hustete, was das Zeug hielt.
„Hey, wie sieht‘s heut aus mit ein paar leckeren Pina Coladas?“
Sally Friedman, eine Junior Art Directorin steckte ihren Kopf in Lorelais Büro, und Lorelai schrak von dem E-Mail hoch, das sie gerade vertieft gelesen hatte. Es war eine unausgesprochene Regel, dass Sally jeden Donnerstag um kurz vor drei sämtliche Büros abklapperte, und die Truppe zusammentrommelte.
„Tut mir leid, Sally, ich muss heute passen“, schniefte Lorelai und wischte mit einem Taschentuch über ihre Nase, „ich glaube, ich brüte irgendwas aus!“
Sally schlüpfte in Lorelais Büro, warf einen Blick auf die Tonnen von Taschentüchern, die sich über Lorelais Schreibtisch verteilt und die auch fast den ganzen Papierkorb für sich eingenommen hatten. Dazwischen standen Packungen mit Aspirin und Hustensaft, Nasenspray und eine übergroße Kanne Tee.
„Du siehst auch echt übel aus, Lori“, sagte Sally mitfühlend, „du solltest wirklich zusehen, dass du so schnell wie möglich nach Hause kommst. Ich bin mir sicher, Rob pflegt dich so schnell wie möglich gesund!“
Grinsend, und dennoch mit mitfühlendem Blick verließ sie Lorelais Büro.
Um halb sieben, viel zu spät für jemanden, der sich mit einer Grippe herumschlägt, fuhr Lorelai ihren Computer herunter und machte sich auf den Heimweg. Die Kopfschmerzen waren jetzt so stark geworden, dass es sich anfühlte, als würde eine Truppe Bauarbeiter mit Presslufthämmern ihre Gehirnzellen bearbeiten. Ihr Nacken schmerzte und ihre Stimme war auf dem besten Weg, sich zu verabschieden. Das einzige, was sie sich an diesem Abend noch wünschte, war ein heißes Erkältungsbad gefolgt von ebenso heißem Tee, ihren flauschigen Pyjama mit den Teddybären, den sie nur dann herauskramte, wenn sie – so wie jetzt – krank war und einen Abend, dick eingepackt auf der Couch vor dem Fernseher.
Das Appartement, das sie gemeinsam mit Rob bewohnte, lag in der 63. Straße in einem schicken, modernen Appartementhaus. Es war ihr Appartement gewesen und Rob hatte, als sie zusammen gekommen waren, mehr und mehr von seinem Zeug angeschleppt, bis sie schließlich beschlossen, dass es sinnvoller war, wenn er sein Appartement, das ohnehin die meiste Zeit leer stand, aufgab.
Die Wohnung lag im vierundzwanzigsten Stock und bot an klaren Tagen eine wunderbare Aussicht auf Manhattan. Lorelai schloss die Tür auf und bekam einen neuerlichen Hustenanfall, der sich anfühlte als hätte sie ein Paket Nähnadeln geschluckt. Sie warf die Tür hinter sich ins Schloss, schlüpfte im Gehen aus ihren Pumps und verzichtete darauf, sie in den Schuhschrank zu stellen. Ihre Louis-Vuitton-Tasche stellte sie auf dem kleinen Tischchen an der linken Wand unter der Garderobe ab. Ihr war heiß. Sie überlegte, wie hoch das Fieber wohl war, das sie sich mit dieser Grippe eingefangen hatte und beschloss, sich am nächsten Tag krank zu melden um sich das Wochenende über erholen und am Montag wieder fit zu sein.
Sie schlurfte ins Wohnzimmer, vorbei an der großen, weißen Polstercouch und hielt erst einmal inne. Ein dunkelblauer, schmal geschnittener Rock hing halb über der Lehne. Ein Rock, der ihr definitiv nicht gehörte. Zu ihren Grippebeschwerden gesellte sich von einer Sekunde zur nächsten Übelkeit und ein Gefühl von Ohnmacht. Kalter Schweiß hatte sich auf ihrer hellen, jetzt schon bleichen, Stirn gebildet. Sie hielt kurz inne und griff mit ihrer rechten Hand nach der Lehne der Couch, um sich abzustützen. Bestimmt gab es eine Erklärung für den Rock. Vielleicht hatte Rob ihn ihr gekauft und ihn dann auf diese plumpe Art und Weise hier platziert – warum auch immer.
Sie hatte Angst, ins Schlafzimmer zu gehen, und ihr Bewusstsein versucht immer noch, sich gegen das Unterbewusstsein durchzusetzen und ihr einzureden, dass da drin nichts und niemand war. Nur das Schlafzimmer mit dem Bett, aus dem sie heute Morgen gemeinsam aufgestanden waren, das sie, bevor sie ins Büro gefahren war, noch schnell gemacht hatte, und dass es für den Rock vermutlich eine ganz harmlose Erklärung gab. Möglicherweise hatte auch Trudy, ihre Haushälterin ihn hier vergessen. Trudy selbst war zwar eine etwas fülligere Erscheinung, aber Lorelai wusste, dass sie zwei Töchter Anfang zwanzig hatte, denen der Rock gehören konnte. Vielleicht hatte Trudy ihn mitgebracht, um ihn in der Reinigung an der Ecke abzugeben oder ihn ändern zu lassen, oder…Gott weiß was.
Langsam ging sie einen Schritt auf das Schlafzimmer zu, das direkt hinter dem Wohnzimmer lag. Sie lauschte, konnte aber wegen des Verkehrslärms, der von der Straße heraufdrang, nichts hören. Wenn sie ehrlich mit sich war, wollte sie auch gar nicht hören, was da drin vor sich ging. Ihre Hand berührte den goldfarbenen Türknauf, wich dann aber wieder zurück.
„Am besten, du gehst jetzt ins Bad, nimmst ein, zwei Aspirin, packst dich zusammen und fährst in die 93., die Mädls aus dem Büro sind bestimmt noch dort. Du trinkst ein, zwei alkoholfreie Cocktails, oder noch besser Tee, und schreibst Rob dann eine SMS, dass du gegen neun zuhause sein wirst, weil du dich nicht gut fühlst. Du wirst kurz nach neun nach Hause kommen, Rob wird dir Tee gekocht haben, dir deinen Bärenpyjama herausgelegt haben und gerade dabei sein, dir ein heißes Bad mit dem Erkältungsbadeöl einzulassen, dass du von seiner Mutter bekommen hast, als du im letzten Herbst krank warst. Der Rock wird verschwunden sein und irgendwann wirst du gar nicht mehr wissen, ob er tatsächlich da gewesen ist, oder ob er nur ein Gespinst deines erkälteten Hirnes gewesen ist“, dachte sie. Doch kaum eine Sekunde, nachdem sie den Gedanken zu Ende gebracht hatte, griff ihre Hand erneut nach dem Türknauf, drehte ihn und öffnete die Schlafzimmertür.
Die Szene im Schlafzimmer wirkte im ersten Moment wie aus einer dieser Kinokomödien, in der die Protagonistin ihren Traummann mit einer anderen im Bett erwischte. Rob und das dunkelblonde Mädchen mit dem viel zu großen Mund, wie Lorelai fand, erstarrten, als die Schlafzimmertür aufging. Das Mädchen, Lorelai schätzte sie auf Ende zwanzig und verstand irrwitzigerweise in diesem Moment überhaupt nicht, warum Rob sich eine Affäre gesucht hatte, die genauso alt war, wie seine Verlobte, schnappte sich einen Polster und verdeckte damit ihren nackten Oberkörper. Robs kurzes dunkles Haar war durcheinandergewuschelt, so wie es auch war, wenn er morgens aufstand.
„Baby…es ist nicht so wie du denkst“, rief Rob, schnappte sich die Bettdecke, wollte sie sich um die Lenden wickeln und auf Lorelai zugehen.
Lorelai wehrte ab.
„Wie ist es dann“, sagte sie verschnupft, monoton und geistesabwesend. Sie war überrascht, wie ruhig sie reagierte. Sie erinnerte sich an ein Gespräch im Kreise ihrer Freundinnen, welches sich einmal mit der Thematik „In Flagranti erwischen“ beschäftigt hatte, und Lorelai war der Meinung gewesen, dass sie wahrscheinlich Amok laufen würde, wenn sie der Mann, den sie liebte, so hintergehen würde.
„Ich…sie…sie bedeutet mir nichts, Lorelai, das musst du mir glauben!“
Rob sah sie verzweifelt an. Seine Hände kneteten an dem Laken, das er um die Lenden hatte, als wäre es Kuchenteig.
Lorelai wandte sich an das geschockte dunkelblonde Mädchen, das immer noch den stahlblauen Satinpolster gegen ihren Oberkörper drückte und kaum zu atmen wagte.
„Du solltest dich besser anziehen und verschwinden“, sagte sie zu ihr.
„Und du gehst am besten gleich mit. Du hast zwei Stunden um dein Zeug zu packen und aus meiner Wohnung abzuhauen“, wandte sie sich an Rob.
Mit der linken Hand griff er seine Boxershorts, die auf dem kleinen Nachtkästchen neben dem Bett lagen und schlüpfte unbeholfen hinein.
„Lorelai bitte. Du kannst mich doch nicht rauswerfen. Ich liebe dich. Es steht soviel auf dem Spiel!“
Lorelai fühlte sich wie versteinert. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie das dunkelblonde Mädchen, sich immer noch den Polster vor den Körper haltend, in einen dunkelroten Slip schlüpfte, sich Jeans und ein weißes T-Shirt mit schwarzer Aufschrift schnappte und sich anzog.
„Ich werde nicht schreien Rob. Ich werde nicht austicken und ich werde nicht weinen. Denn du bist nicht die geringste Emotion wert und Gott weiß, wie übel ich mich heute schon vor dieser Scheißaktion von dir gefühlt habe. Die Zeit läuft. Pack deinen Krempel und verschwinde aus meinem Leben!“
„Hör mir doch zu“, rief er erbost, fast so, als hätte sie ihn betrogen und lief ihr mit eiligen Schritten in den Flur nach. Seine nackten Füße machten dumpfe Geräusche auf dem Fliesenboden.
„Ich liebe dich Lorelai – wir sind verlobt. Wir wollen heiraten. Es – sie bedeutet mir gar nichts. Es tut mir leid. Es hätte nicht passieren dürfen. Lorelai!“
Sie blieb im Flur stehen und drehte sich um. Ganz langsam ging sie auf Rob zu, bis sie so nahe vor seinem Gesicht war, dass sie das Parfum der dunkelblonden an ihm riechen konnte. Ihr wurde erneut übel.
„Verschwinde aus meinem Leben, Rob. Und komm nicht mehr zurück!“
Wenige Stunden später saß Lorelai im Schneidersitz auf der Couch in ihrem Appartement. Sie hatte sich die volle Dröhnung Grippemedikamente gegeben, mehrere Aspirin, Hustensaft, Schmerzmittel gegen die Halsschmerzen und einen dickflüssigen, rosaroten Saft geschluckt, von dem sie noch nicht einmal genau wusste, wofür er gut war. Dann hatte sie sich ein eiskaltes Corona aus dem Kühlschrank geholt und es getrunken. Rob war vor etwas mehr als einer Stunde mit einigen Reisetaschen verschwunden. Sein Freund Ray hatte ihn abgeholt. Die dunkelblonde war sofort gegangen, nachdem sie fertig angezogen war. Als sie zur Tür hinaus war, hatte sie sich noch einmal umgedreht und Rob gefragt, ob er sie am nächsten Tag anrief. Rob hatte, als die dunkelblonde verschwunden war, mehrmals versucht, noch einmal mit ihr zu reden, doch für Lorelai gab es nichts mehr zu sagen. „Du solltest deine Zeit nicht damit vergeuden, hier Süßholz zu raspeln sondern deinen Kram zusammenpacken“, sagte sie ihm, ins Leere starrend, als er sich auf den Boden vor sie setzte und um Entschuldigung bat. Er versuchte, ihre Hände in die seinen zu nehmen, doch sie entzog sich seinem Berührungsversuch und ihr erschauderte, als sie daran dachte, wo Robs Hände noch vor einer halben Stunde gewesen waren.
„Ach ja – und den hier nimmst du am besten auch mit!“ Sie zog den filigranen weißgoldenen Verlobungsring von ihrem linken Ringfinger und erinnerte sich daran, wie glücklich sie gewesen war, als Rob ihn ihr geschenkt hatte. Sie warf ihm den Ring vor die Füße. Wortlos hob er ihn auf, betrachtete ihn für zwei Sekunden, steckte ihn in seine rechte Hosentasche und verschwand aus dem Wohnzimmer.
Es wirkte irgendwie irreal auf sie, dass all diese Dinge gerade mal sechs Tage, noch nicht einmal eine Woche, her waren. Vor sechs Tagen, dachte sie, warst du glücklich verliebt und hättest jeden für verrückt erklärt, der dir gesagt hätte, dass du in einer Woche nach Red Oak fliegst. Du hast tatsächlich gedacht, zu wissen, wie dein Leben in den nächsten zwanzig, dreißig, vierzig Jahren ablaufen wird. Kurz überlegte sie, ob es vielleicht besser gewesen wäre, an jenem Abend mit den Mädels aus dem Büro in die Cocktailbar zu gehen. Vielleicht hätte Rob die Affäre irgendwann von sich aus beendet. Hieß es nicht auch oft, dass Affären für eine Beziehung förderlich waren? Oder hätte sie sich selbst eine Affäre aus Rache zulegen sollen. Frei nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass ihr Kopf immer noch dröhnte und hämmerte und sich anfühlte, als wäre er von einem LKW gestreift worden.
Die Idee, von New York – zumindest eine Zeitlang – weg zu gehen, kam ihr Sonntag Vormittag. David Park hatte sie angerufen und gefragt, was denn in sie gefahren sei, dass sie Rob einfach so vor die Tür setzte. Dave und Rob kannten sich von der Uni und waren zwar keine guten Freunde, aber allemal gute Bekannte.
„Mann, Lorelai, er ist das totale Wrack. Hat die letzten drei Tage bei mir auf der Couch gepennt und ist jetzt zu seinen Eltern weitergezogen. Was hast du mit ihm gemacht“, fragte Dave und wirkte verständnislos.
„Ich dachte, ihr wart gemeinsam auf der Uni, David“, sagte Lorelai mit gelangweiltem Unterton. Sie hatte irgendwie vermutet, dass Rob, um seinen Ruf wenigstens halbwegs zu retten, eine komplett andere Geschichte auftischen würde, als eigentlich der Wahrheit entsprach. Ihre Stimme war wieder zurückgekehrt und die Grippe hatte sich auch fast zur Gänze wieder verzogen. Wahrscheinlich hatte ihr Körper beschlossen, dass der Herzschmerz schlimmer war, als die Grippe, und wollte sich nun ausschließlich auf diesen konzentrieren.
„Wie meinst du das?“
„Hat er dir auch von der kleinen dunkelblonden erzählt, der er unsere Laken gezeigt hat, als ich nach Hause gekommen bin?“
Am anderen Ende der Leitung herrschte betretenes Schweigen.
„Oh Lorelai, es tut mir so leid! Ich hätte wissen müssen, dass du ihn nicht ohne einen triftigen Grund vor die Tür setzt“.
Dave wirkte beschämt.
„Aber er hat seine Version der Geschichte so…so real rübergebracht. Und er hat wirklich am Boden zerstört gewirkt. Ich hab wohl vergessen, dass er immer schon ein großartiger Märchenonkel war, was solche Situationen angeht!“
Lorelai erwiderte nichts darauf.
„Was hast du jetzt vor – ich meine, privat kannst du ihm aus dem Weg gehen, aber im Büro? Seine Bank finanziert die Kampagnen von fast sechzig Prozent unserer Kunden – da wird es sich nicht vermeiden lassen, mit ihm in Kontakt zu sein.“
„Ich weiß es nicht, Dave, ich weiß es nicht!“
„Du weißt doch, dass du anrufen kannst, wenn du reden willst oder sonst etwas brauchst?“
„Danke, das weiß ich. Bitte Grüße Rachel von mir!“
„Mach ich. Kopf hoch. Und halt die Ohren steif!“
Es war ein typischer Frühlingssonntagnachmittag in New York. Um zwanzig Minuten nach zwei, eine knappe Stunde nach dem Telefonat mit David Park fiel Lorelais Blick auf die Digitaluhrenanzeige ihres DVD-Players und sie stellte fest, dass sie – wäre dies ein gewöhnlicher Sonntag-Nachmittag gewesen – wohl gerade mit Rob irgendetwas unternehmen würde. An einem normalen Frühlingssonntag wären sie gegen acht aufgestanden, dann eine Runde im Central Park gejoggt und gegen elf zum Brunch bei Tristans, zwei Blocks weiter, gegangen. Sie hätten auf der Terrasse gesessen, gegessen, wahrscheinlich wie so oft über die Hochzeit gesprochen und über so manche Leute gelästert. Später wären sie nach Long Island zu seinen Eltern gefahren – oder rüber nach Coney Island. Am Abend hätten sie sich Pizza bestellt und das Wochenende bei einem guten Film ausklingen lassen. Stattdessen saß sie verheult auf der Couch und fühlte sich so verloren wie noch nie. Die Sonntage voller Unternehmungen mit Rob schienen niemals real gewesen zu sein, so als hätten sie in einem parallel verlaufendem Universum existiert, nicht aber in Lorelais Welt.
Ihr Kopf war schwer und schmerzte von all den Tränen, die sie an den vergangenen Tagen vergossen hatte. Irgendwann war doch alles über sie hereingebrochen, obwohl der erste Abend ohne Rob erstaunlich ruhig und emotionslos verlaufen war. Das aufwachen am Freitag war – jetzt im Nachhinein betrachtet – das Schlimmste gewesen. Irgendwann gegen drei Uhr früh war sie, halb auf der Couch hängend, in einen unruhigen Schlaf gefallen und um kurz vor sechs wieder aufgewacht, als die Sonne aufging, die ersten paar Autos das allmorgendliche Hupkonzert starteten und hin und wieder ein Vogel zwitscherte. Als sie die Augen an diesem Freitagmorgen öffnete und in den ersten Sekunden gar nicht wusste, warum sie auf der Couch lag und nicht neben Rob im Bett, waren das die angenehmsten Augenblicke des Tages, der noch mit voller Wucht mit all seinen Erinnerungen und Bildern des Vortags auf sie einbrechen sollte. Erst nach und nach erinnerte sie sich wieder an die Ereignisse des vergangenen Abends. Dies war auch der Augenblick, als die ersten Tränen ihre Wangen hinunterliefen und für einige Tage gar nicht mehr aufhören wollten.
Warme, helle Sonnenstrahlen schienen jetzt, am Sonntagnachmittag durch das große Panoramafenster zu ihrer Linken auf die Couch und wärmten sie. Wie ein Geistesblitz schoss ihr plötzlich ein, dass sie morgen im Büro wahrscheinlich allen Rede und Antwort zu stehen hatte. Dave Parc war ein netter Kerl, aber Lorelai kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er auch jemand war, der Neuigkeiten – und gerade SOLCHE Neuigkeiten – schnell unters Volk bringen würde. Und selbst, wenn Dave es nicht tat, würden die anderen über kurz oder lang mitbekommen, dass es zwischen Lorelai und Rob vorbei war. Sie sah all die Gesichter vor sich, die so taten, als seien sie mitfühlend und bezweifelte nicht einmal, dass einige von ihnen es wirklich waren. Viele andere würden hinter ihrer mitfühlenden Fassade aber mit Sicherheit auch Schadenfreude verbergen. Es war ein offenes Geheimnis, dass einige ihrer Kolleginnen ihr die Beziehung zu Rob nicht gönnten. Ihnen allen würde sie in weniger als vierundzwanzig Stunden wieder und wieder die Geschichte erzählen müssen, warum sie und Rob Walters sich am Wochenende getrennt hatten. Immer und immer wieder würde sie diese furchtbaren Augenblicke in Gedanken erleben müssen, wie sie den Rock im Wohnzimmer gefunden hatte. Die Tür zum Schlafzimmer öffnete und wie Rob und die Dunkelblonde zu Salzsäulen erstarrten. Sie war sich sicher, für die nächsten Tage Gesprächsthema Nummer eins zu sein. Man würde sie mitfühlend anlächeln, sie „Na, wie geht’s dir denn“ in einem Ton fragen, als wäre sie eine sterbenskranke Kuh und man würde zweifelsohne hinter ihrem Rücken tratschen. Man würde beim Mittagessen über sie reden, beim Kaffeeklatsch, oder wenn man sich zufällig am Kopierer traf. Sie würden still werden, wenn Lorelai an ihnen vorbei ging oder den Raum betrat. Einige würden sagen, dass sie schon immer gewusst hatten, dass Rob keiner war, der für immer bei einer Frau blieb. Andere würden sagen, dass sie selber schuld war, sich überhaupt auf ihn eingelassen zu haben. Mit ein, zwei Tagen weiterem „Kranksein“ würde diese Sache auch nicht abgewendet werden. Ganz im Gegenteil, sie würde sich verschlimmern, indem ihr dann auch noch nachgesagt werden würde, dass sie wahrscheinlich einen „Zusammenbruch“ hatte. Das arme Mädchen, das dachte, diesen großartigen Typen gezähmt zu haben, dem jetzt die Rechnung präsentiert wurde – in all ihrer Härte.
Sie sog Luft durch den Mund ein und bemerkte, dass ihre Nase immer noch verstopft war. Dann fiel ihr Blick auf den Kamin, wo ein Foto aus ihrer Kindheit in einem goldenen Rahmen stand. Das Bild – es war 1988 aufgenommen worden, als Lorelai gerade acht Jahre alt gewesen war – zeigte sie auf ihrem Pony „Stardust“ gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrem Großvater, die neben dem Pony standen. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem es aufgenommen worden war. Ein warmer Augustabend in den Ferien. Einer der schönsten Tage ihres Lebens, wie es soviele Tage auf der Farm gewesen waren. Lorelai hielt inne.
Als Kind hatte sie die Farm geliebt. Die Pferde waren ihr ein und alles gewesen und als kleines Mädchen konnte sie sich nicht vorstellen, ihre geliebte Farm, ihr Zuhause, zu verlassen. An den meisten Tagen war sie bereits zu Sonnenaufgang in den Stall gelaufen, hatte geholfen, die Pferde zu füttern und war dann neben Stardust in dessen Box gestanden und hatte ihn angehimmelt. Sie hatte Reitstunden genommen und auf der Farm mitgeholfen, wie es für ein kleines, achtjähriges Mädchen eben möglich war.
Ihr Großvater war 1999 gestorben und seit diesem Zeitpunkt war die Pferdezucht auf der Farm kontinuierlich eingeschränkt worden, da weder ihre Mutter noch ihre Großmutter recht viel Ahnung davon hatten. Lorelai hatte kurz einmal überlegt, den Zuchtbetrieb weiterzuführen, doch irgendwann war ihr klar geworden, dass sie hinaus in die Welt wollte, anstatt in einer Kleinstadt wie Red Oak zu bleiben. Sie wollte Karriere machen und über die Grenzen der Kleinstadt hinauskommen. Als sie ihre Bewerbung im Jahr 2001 an The Commercialists in New York gemailt hatte, hatte sich noch nicht einmal damit gerechnet, überhaupt eine Antwort zu erhalten. Umso überraschter war sie dann gewesen, als keine zwei Stunden später ein Anruf kam, und ihr eine Sekretärin erklärte, dass der Personalchef am Donnerstag in Dallas sein würde und sie gerne kennenlernen würde. Einen Monat später bezog sie ihr kleines dreißig Quadratmeter großes Appartement in Queens und konnte immer noch nicht fassen, dass sie den Job wirklich bekommen hatte.
Sie war seither, seit mehr als acht Jahren nicht mehr in Red Oak gewesen. Nicht einmal Rob hatte sie ihrer Familie vorgestellt. Nicht, dass sie es sich nicht hatte vorgenommen, es hatte eben einfach nie gepasst. Lorelai lachte sarkastisch bei dem Gedanken, „es habe nie gepasst“. Acht Jahre lang hatte es nicht gepasst, sich kurz Zeit für seine Familie zu nehmen. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Großmutter genauso wie ihre Mutter wahnsinnig enttäuscht gewesen war, als Lorelai ihnen eröffnet hatte, dass sie die Farm verlassen würde. Beide hatten insgeheim gehofft, dass sie die Farm, und somit das Vermächtnis ihres Großvaters weiterführen würde, und beide waren durch ihren Weggang wie vor den Kopf gestoßen. Ihnen beiden war das Herz gebrochen. Zwar war Lorelais Aufbruch nach New York ihr niemals zur Last gelegt worden, aber seither gab es einen störenden Punkt zwischen ihr und ihrer Familie. Wahrscheinlich war dies mit ein Grund, warum sie in den vergangenen Jahren nicht nach Red Oak zurückgekehrt war. Insgeheim wusste sie, dass es nicht mehr so war, wie vor acht Jahren und dass sie sich trotz der äußeren Umstände, die die gescheiterte Beziehung mit Rob mit sich brachte, ihrer Vergangenheit stellen musste.
Dann dachte sie an die schönen Dinge, die der Westen ihr die ersten einundzwanzig Jahre Ihres Lebens beschert hatte. Sie dachte an die Ausritte in der Abenddämmerung, die Abende auf der Veranda hinter dem Haus, die gemeinsamen Essen zu Mittag in der großem, gemütlichen Küche, Ihre Familie, ihre Freunde und an die hübsche kleine Stadt Red Oak selbst, in der man ab und zu das Gefühl hatte, die Zeit wäre vor einhundertfünfzig Jahren stehen geblieben. Dort war sie glücklich gewesen. Und mit einem Mal war ihr klar geworden, dass sie zurück nach Hause musste. Zurück nach Red Oak.