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„Sie sind ein toughes Mädchen, Lorelai. Sie schaffen das schon. Kommen sie wieder, wann immer sie wollen, ihr Job wartet hier auf sie!“


Das war der letzte Satz, den Ken Radcliffe, freundlich lächelnd, gesagt hatte, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie eine Pause auf unbestimmte Zeit nehmen wollte. Zuerst war er etwas schockiert gewesen, weil er dachte, es wäre ein versteckter Hinweis darauf, dass sie den Job komplett schmeißen wollte, doch jetzt wirkte er sichtlich entspannt und nur mehr von der Tatsache irritiert, dass die knallharte Lorelai Cartwright einem Mistkerl aufgesessen war. In den vergangenen Monaten hatten einige ihrer Kollegen den Weg der Kündigung beschritten, und es wäre ein schwerer Verlust für „The Commercialists“ gewesen, wenn Lorelai das Unternehmen verlassen hätte. Doch, als sie ihm ihre Geschichte verschämt und dauerhaft zu Boden blickend erzählt hatte, entspannte er sich. Lorelai würde The Commercialists Inc. nicht verlassen, sie brauchte nur eine Auszeit. Nach allem, was ihr Exverlobter abgezogen hatte, war sie momentan nicht in der Lage, Werbekampagnen für Luxuslabels zu entwerfen und zu verkaufen. Es war ihr ein wenig peinlich gewesen, Mr. Radcliffe, einen der beiden Vorstände um dieses Gespräch zu bitten, aber sie musste es tun – wollte sie ihren Job später wieder aufnehmen können.


Sie saß in einem schwarzen Ledersessel in Radcliffes lichtdurchflutetem Büro, dessen Wände mit moderner Kunst gespickt waren und von dem sie bislang immer gedacht hatte, es wäre einer dieser wenigen Orte auf Erden, an denen man sich einfach wohlfühlen MUSSTE, weil alles so hell, freundlich und leicht wirkte. Doch dieses Mal kam sie sich irgendwie mickrig vor und fühlte sich wie eine Amöbe. Das dumpfe Gefühl, das sich seit einigen Tagen wie ein Schleier über sie gelegt hatte und sie überall hin begleitete, war auch jetzt wieder mehr als nur präsent. Sie hatte gerade im Berufsleben immer versucht, zu einhundert Prozent professionell zu sein. Und jetzt war es gerade ihr passiert, ihr Privatleben ins Berufsleben eingreifen zu lassen – und Schwäche zu zeigen. Jetzt war es gerade ihr passiert, dass sie den einen Teil ihres Lebens nicht aus dem anderen heraushalten konnte.


„Ein toughes Mädchen“, dachte sie, würde die Flinte nicht ins Korn werfen. „Ein toughes Mädchen würde nicht in die Pampa ziehen weil sie an jeder Ecke Erinnerungen an ihren Exfreund findet. Ein toughes Mädchen würde der ganzen Situation hier den Stinkefinger zeigen und weitermachen. Ich bin kein toughes Mädchen.


„Ich danke Ihnen, Mr. Radcliffe“, sagte sie dennoch, setzte ein gespieltes Lächeln auf und sah ihn an. Für einen kurzen Moment hatte sie überlegt, einen Rückzieher zu machen. Radcliffe zu sagen, dass sie NICHT nach Red Oak gehen, sondern dass sie in New York bleiben und mit der Situation klarkommen lernen würde. Es gab immerhin noch die Möglichkeit, sich einen Seelenklemptner zu suchen und ihm das Herz auszuschütten. Oder sich mit Selbsthilferatgebern einzudecken, sich mit Gleichgesinnten in Internetforen auszutauschen. Doch sie brachte die Worte nicht über die Lippen und wusste, dass es ohnehin die falsche Entscheidung wäre, zu bleiben. Ihr Herz hatte ihr gesagt, dass sie nach Red Oak sollte. Und dieses Mal würde sie darauf hören. In ihrem Bauch hatte sich eine unmögliche Leere ausgebreitet und ihr Magen fühlte sich flau an. Aber nicht das gute Flau, das man empfand, wenn man in Disneyland mit der Space-Mountain-Achterbahn fuhr oder in den paar tausendstel Sekunden, bevor man jemanden das erste mal küsst, sondern diese Flau, das man empfindet, wenn man am Ende seiner Kräfte angelangt ist und keine Motivation für nichts mehr aufbringen kann.

Es ist bestimmt nicht für immer. Nur für…die nächste Zeit!“ sie blickte auf ihre schlanken Beine hinunter, die in schwarzen Stöckelschuhen steckten.

„Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen, Lorelai“, entgegnete Radcliffe und schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. Dass sie Hauptthema eines Essens mit seinem Geschäftspartner sein würde, und über kurz oder lang auch Hauptthema jedes Kaffeeklatsch, der in der kleinen Teeküche des Unternehmens abgehalten werden würde, war ihr klar. Aber besser, Hauptthema zu sein, als von dem zweiten Geschäftsführer, Craig Rider, der weniger verständnisvoll und abgebrühter war, als Radcliffe, sowie allen möglichen Kollegen persönlich ausgefragt zu werden. Lorelai hatte das Recht, Schwäche zu zeigen. Dieses eine Mal würde sie ihre eigenen Bedürfnisse über die der Anderen, über die der Firma, über die der ganzen Welt stellen.

„Mr. Park sagte, sie könnten einige ihrer Agenden via Homeoffice erledigen?“

„Das ist richtig – ich habe auch schon mit Mark vom Netzwerkdienst gesprochen. Man wird mir in Red Oak einen Onlinearbeitsplatz einrichten, sodass ich den größten Teil meiner Arbeit von dort aus erledigen kann. Die meisten Besprechungen kann ich bestimmt auch online abhalten – oder via Telefonkonferenz. Ich denke, der Ausfall sollte nicht sehr groß sein – moderne Technik sei dank!“

„David Park ist ja sonst auch noch mit Ihren Projekten vertraut?“

„Korrekt, David hat sämtliche Zugänge zu meinen Akten und ist mit allen Projekten auf aktuellstem Stand vertraut! Außerdem….in Red Oak gibt es Telefon und ich denke, sie haben dort sogar schon Internet“, setzte sie grinsend hinzu.

„Red Oak“, wiederholte Radcliffe und grübelte, „noch nie davon gehört. Wo liegt das?“

„Sie sind bestimmt nicht der einzige, der Red Oak nicht kennt, Mr. Radcliffe“, sagte Lorelai, „es ist eine kleine Stadt etwa fünfzehn Meilen südlich von Dallas mit knapp sechstausend Einwohnern. Ein kleines, verschlafenes Städtchen, das schon mal den Eindruck vermittelt, dass die Zeit dort stehen geblieben ist. Es ist also keine Bildungslücke, Red Oak nicht zu kennen!“

„Nun, Miss Cartwright, dann bleibt mir nur noch, ihnen alles Gute zu wünschen. Ich hoffe, sie haben eine schöne Zeit in Red Oak. Vergessen sie uns nicht und kommen sie mir ja wieder!“

Ken Radcliffe stand von seinem Sessel auf, ging an seinem Tisch vorbei und reichte Lorelai freundschaftlich die Hand.


Dieses Gespräch hatte sie vor zwei Tagen geführt. Jetzt saß sie mit gemischten Gefühlen in der 737, die von JFK nach Forth Worth ging und sie nach Hause bringen sollte. Nach Hause nach Red Oak im Bundesstaat Texas, wo sie einst als quirliges, pferdefanatisches Mädchen auf der Farm ihrer Großeltern aufgewachsen war und niemals daran gedacht hatte, einmal in einem Kleid von Donna Karan fünfzehntausend Fuß über der Erde zurück nach Hause zu fliegen. Weil es für sie damals kein anderes Zuhause gab, als die Farm ihres Großvaters.


Lorelai Cartwright war neunundzwanzig Jahre alt und arbeitete als Kreativdirektorin bei The Commercialists Inc., einer Werbefirma die sich auf Kampagnen speziell für Luxuslabels spezialisiert hatte und im US-Markt nahezu ein Monopol hatte. Vor mittlerweile acht Jahren war Lorelai von Red Oak, Texas nach New York gekommen, um Karriere zu machen. Die einzige Karriere, die in Red Oak auf sie gewartet hätte, wäre eine Hochzeit mit spätestens dreiundzwanzig gewesen (wobei sie mit dreiundzwanzig wahrscheinlich schon als schwer vermittelbarer Ladenhüter gegolten hätte), mit einem jungen Mann, mit dem sie idealerweise bereits auf der High School oder noch besser im Kindergarten, gewesen war. Jetzt, mit neunundzwanzig hätte sie mindestens drei Kinder, wahrscheinlich aber bereits fünf, und immer noch denselben Mann, der entweder auf einer Farm oder aber in einer der Fabriken in Dallas arbeiten würde. Diese Art von Karriere hatte Lorelai immer sauer aufgestoßen. Sie wollte nie eine dieser Soccer-Mums sein, deren einziger Lebensinhalt es war, mit den anderen Müttern über die aktuellen Windelpreise, Babybrei und die unterschiedlichen Farben von Kinderkotze zu diskutieren.


Als sie mit einundzwanzig Jahren bei The Commercialists als Assistentin des damaligen Kreativdirektors zu arbeiten begonnen hatte, wusste sie sehr schnell, dass dies ihre Welt war. Im Eiltempo kletterte sie die Karriereleiter – die richtige Karriereleiter, nicht die Red-Oak-Version davon – hinauf und stieg sehr schnell von der Assistentin zur Junior Project Managerin auf bis sie 2007 zur Kreativdirektorin im Upper-Class-Level befördert wurde. Seit diesem Zeitpunkt war sie für zwanzig Prozent der Kampagnen der Firma zuständig, mit Designern, Geschäftsleuten und den oberen Zehntausend auf Du und Du und ein Hohes Tier in ihrer Branche. Für ein Mädchen aus Red Oak (und wahrscheinlich auch für jedes andere Mädchen aus jeder anderen Stadt der Erde) war dies eine großartige Karriere. Und als i-Tüpfelchen hatte Ken Radcliffe bei der letzten Weihnachtsfeier anklingen lassen, dass er und sein Partner Craig Rider darüber nachdachten, Lorelai zur Partnerin der Firma zu machen – in spätestens drei Jahren.


The Commercialists waren indirekt auch dafür verantwortlich, dass es Lorelai jetzt so schlecht ging und in den ersten Tagen der Trennung hatte sie tatsächlich den Gedanken gehabt, dass es wohl das Beste gewesen wäre, niemals eine Bewerbung an die Firma geschickt zu haben – dann hätte sie Rob auch niemals kennen gelernt. Über den Job war sie Robert Walters, ihrem nunmehrigen Exverlobten nämlich das erste Mal über den Weg gelaufen. Rob arbeitete für eine Bank, die die Finanzierungen für einige Kampagnen auf die Beine stellte, war Mitte Dreißig und wohl der Prototyp dessen, was man einen Womanizer nannte. Mit seinem markanten Gesicht, den immer perfekt gestylten, dunklen Haaren, vielmehr aber mit seiner offenen Art, mit Frauen umzugehen, hatte er schon die eine und andere Sekretärin bei The Commercialists abgeschleppt. Rob hatte nie einen Hehl daraus gemacht und die Frauen konnten sich wenigstens nicht beklagen, nichts von seinem Charlie-Sheen-ähnlichen Lebensstil gewusst zu haben, wenn er sie nach einer Nacht wieder abservierte. Das Arschloch-Gehabe stand Rob gut, es kam bei den Ladies an und das wusste er auch.


Das erste Projekt, das Lorelai bei The Commercialists erstmals selbständig abwickelte, es war die Winterkampagne für den Designer Javier Demante, einen Modeprinzen, der das Land im Sturm eroberte und für seine Kampagne eine verrückte Idee nach der anderen präsentierte. Genau dieses Projekt wurde dem Designer von Roberts Bank finanziert und wie der Teufel es wollte, war er auch der zuständige Bearbeiter, mit dem Lorelai mehr oder weniger eng zusammenarbeiten musste. Es dauerte nicht lange, bis Rob Gefallen an Lorelai gefunden hatte, und ihr einen Platz ganz oben auf seiner „To-Do-Liste“ – er sprach Freunden und Kollegen immer von seiner „To-Do-Liste“, wenn er gewisse Frauen, die er noch nicht herumgekriegt hatte, unbedingt noch „abschießen“ wollte, gegeben, nicht etwa allein, weil sie attraktiv war, sondern vielmehr wegen ihres bissigen Charakters. Sie war jemand, der seine Ziele mit Nachdruck verfolgte und für gewöhnlich bekam, was sie wollte. Schon allein aus diesem Grund war diese quirlige Prinzessin mit den pechschwarzen Haaren – er hatte ihr den Spitznamen Schneewittchen verpasst, und scheute, provokant, wie er war, auch nicht davor zurück, sie mit diesem Namen persönlich in Meetings, aber auch in Briefen, Telefonaten und Mails anzusprechen – äußerst reizvoll für ihn. Als sie es dann schaffte, dem Vorstand der Bank eine Finanzierung für die Demante-Kampagne aus den Ärmeln zu leiern, die um knappe vierzig Prozent höher war, als jene, die veranschlagt worden war, war es um Rob geschehen. Er brauchte fast drei Wochen, in denen er jeden Tag in ihrem Büro anrief, E-Mails schrieb, Blumen schickte und sogar des Öfteren Nachrichten bei den beiden Geschäftsführern hinterließ, bis sie endlich in ein Abendessen einwilligte.


Zu diesem Zeitpunkt war Rob längst nicht mehr an nur einer Nacht mit Lorelai interessiert. Aus dem Abendessen, zu dem sie sich eigentlich nur hatte hinreißen lassen, weil es ihr peinlich war, wenn Ryder und Radcliffe wieder einmal mit einem Post-it vor ihrer Nase wedelten, auf welches sie Robs Nachricht für sie aufgeschrieben hatten, und sie grinsend dazu zu überreden versuchten, ihm wenigstens ein Essen zu gewähren, wurde ein ernsthafte, sechs Jahre dauernde Beziehung.


Zu Weihnachten 2007 hatte Rob ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ganz schlicht und einfach, als sie zu zweit unter dem Weihnachtsbaum saßen und sich gegenseitig ihre Geschenke überreichten. Er war vor ihr auf die Knie gegangen, hatte ein kleines, rotes Samtschächtelchen mit einer goldenen Verzierung darauf aus seiner Hosentasche geholt und sie mit Tränen in den Augen gefragt, ob sie ihn heiraten wolle und ihn damit zum glücklichsten Mann der Welt machen würde. Sie hatte – ebenfalls mit Tränen in den Augen ja gesagt und war in seine Arme gefallen. Am nächsten Tag waren sie zu Robs Eltern nach Long Island gefahren und hatten die frohe Botschaft dort verkündet. Lorelais Familie, bestehend aus ihrer Mutter Marge und ihrer Großmutter Ellen hatte sie bei dem Telefonat, das sie immer zu Neujahr führten, darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie in absehbarer Zeit heiraten würde, und dass sie unbedingt wollte, dass ihre Mum und ihre Grandma an der Hochzeit teil nahmen. Ellen hatte darauf geantwortet, dass sie selbstverständlich nach New York kommen würden, wenn die Hochzeit stattfinden würde, doch sie hatte genauso gut wie ihre Enkelin gewusst, dass sie dies nur des lieben Friedens willen gesagt hatte. Lorelai hatte ihrer Mutter und ihrer Großmutter schon des öfteren Einladungen nach New York geschickt. Zweimal hatte sie sogar Tickets gekauft und per Boten nach Red Oak bringen lassen, doch die Flugscheine waren jedes Mal wieder zurückgekommen – gefolgt von einem entschuldigenden Anruf aus Red Oak, in welchem ihre Großmutter oder ihre Mutter unter Vorhaltung irrelevanter Tatsachen zu erklären versuchte, dass sie – dieses mal – nicht kommen konnten, beim nächsten Mal aber bestimmt nach New York fliegen würden.