22
Jake saß in seiner Küche. Es war kurz vor neun Uhr und die Sonne war dabei, unterzugehen. Neben sich auf dem Tisch hatte er eine Flasche Jack Daniels stehen, aus der er von Zeit zu Zeit einen kräftigen Zug nahm. Seine Augen waren gerötet und sein Gesicht zierte ein stoppeliger Bartschatten. Vor ihm auf dem Tisch, neben der Flasche lagen Fotos von Amy.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll, Amy. Warum hast du mich verlassen und warum ist es so schwer für mich? Du fehlst mir so sehr. Wieso kannst du mich nicht endlich zu dir holen?“
Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche, brach in Tränen aus und sein Kopf fiel auf die Tischplatte.
„Hey…Junge… Jake!“
Jemand war ins Haus gekommen und klopfte formell an die angelehnte Küchentür. Langsam hob Jake den Kopf und blickte zum Kücheneingang. Sein Schädel brummte und er konnte kaum erkennen, wer in seiner Küchentür stand. Verschwommen nahm er Earls Umrisse wahr, die in der Tür standen und sich auf ihn zubewegten.
Der alte Mann war schockiert, als er Jake eher hängend, als sitzend auf dem Stuhl in der Küche fand. Die Cartwright-Frauen hatten ihn vollkommen außer sich angerufen, gleich, nachdem sie Lorelais Telegramm erhalten hatten. Niemand würde auf der Farm ans Telefon gehen und sowohl Jakes als auch Lorelais Handys waren aus. Earl hatte sofort eins und eins zusammengezählt, nachdem er mit Ellen telefoniert hatte und ihm durch den Kopf ging, dass Lorelai sich am Tag zuvor bei Hatty gemeldet und gefragt hatte, ob sie Jake gesehen hatte. Er hatte sofort gewusst, dass da etwas nicht stimmen konnte.
Mitleidig blickte er auf Jake hinab, der mit ausdruckslosen Augen ins Leere starrte und Mühe hatte, seinen Kopf oben zu halten. Er hatte ihm so sehr gewünscht, mit Lorelai sein Glück gefunden zu haben.
Earl schob den Stuhl neben Jake zur Seite und setzte sich.
„Onkel Jack also, was?“, sagte er, während er die Flasche Jack Daniels, die nur noch zu einem Achtel voll war, in seinen Händen hin und her drehte.
„Du solltest dieses Zeug nicht trinken, Junge. Ist nicht gut für dich! Versuchs doch mit Wasser. Oder Limonade.“
Jake starrte Earl aus seinen betrunkenen, glasigen Augen an, ohne ein Wort zu sagen.
„In der Stadt spricht sich herum, dass Lorelai abgereist ist“, fuhr Earl ruhig fort, als würde er davon reden, dass einer der Nachbarn sich ein neues Auto gekauft hatte. Er war wieder langsam aufgestanden, zur Spüle gegangen und hatte den Rest Jack Daniels in den Ausguss gekippt. Dann nahm er eines der Wassergläser vom Regal, füllte kaltes Wasser hinein, ging wieder zum Küchentisch zurück und schob es Jake hin.
„Ich denke, das hier ist besser für dich als Jack Daniels“, sagte er.
Jake zögerte, bevor er einen Schluck Wasser trank. Das kühle Nass fühlte sich gut in seiner brennenden Kehle an, die von Weinen, vom Schreien und vom Alkohol gereizt war.
„Hast du sie weggeschickt“, fragte Earl nach einer Weile.
„Soll ich sie aus ihrem Elternhaus vertreiben“, fuhr Jake ihn an. Er wollte nicht über Lorelai sprechen.
„Du musst ihr nicht sagen, dass sie verschwinden soll, um sie wegzuschicken“, sagte Earl in ruhigem Ton.
„Trish Clarens hat aus der Taxizentrale hatte Dienst, als sie angerufen und einen Wagen bestellt hat. Und Dick Jackson hat sie raus nach Fort Worth gefahren. Sah nicht gut aus. Was ist passiert? Freitagabend wart ihr so glücklich! Hattet ihr Streit?“
„Misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen, Earl“, sagte Jake mit alkoholgetränkter Stimme.
„Hör Mal Junge“, fuhr Earl fort. „Du magst Recht haben. Es gibt viele Dinge, die mich nichts angehen, aber ich kenne Lorelai Cartwright, seit sie so groß war, dass sie einem Grashüpfer bis ans Knie gereicht hat. Ich habe keine Kinder und keine Enkel und Lorelai war immer so etwas wie eine Ersatzenkelin für mich. Wenn ihr jemand weh tut, so ist es meine Pflicht, einzugreifen. Und, du Jake, du bist ebenfalls wie ein Enkelsohn für mich. Ich weiß, dass dir Dinge passiert sind, die man seinem ärgsten Feind nicht an den Hals wünscht, und die einen den Glauben an das Gute verlieren lassen, aber das gibt dir nicht das Recht, Lorelai zu verletzen und sie dafür verantwortlich zu machen, was dir zugestoßen ist!“
Schweigend saßen die beiden Männer eine Weile lang da.
„Earl, ich habe es versucht. Ich habe versucht, Amy zu vergessen und mit Lorelai zusammen zu sein. Es geht nicht. Amy ist immer noch in meinem Herzen und sie wird immer darin sein. Es ist für niemand anderen Platz, als für Amy! Ich weiß, dass hier alle verrückt sind nach der kleinen Lorelai Cartwright. Dass man der Staatsfeind Nummer eins ist, wenn man ihr nicht die Sterne vom Himmel holt. Und wenn die Stadt mich jetzt hasst, ist mir das auch egal. Ich liebe nunmal Amy und nicht Lorelai!“ Jake nahm wieder das Glas Wasser in die Hand, trank einen weiteren Schluck und stellte es so heftig auf dem Tisch ab, dass eine kleine Menge Wasser überschwappte.
„Niemand erwartet von dir, dass du Amy vergisst“, sagte Earl.
„Aber sie wird nicht wieder zurückkommen, selbst, wenn du dich die nächsten zwanzig Jahre verbarrikadierst und jedes Mädchen, dass dir zu Nahe kommt zum Teufel jagst. Sie ist tot und sie kommt nicht wieder. Du sollst sie nicht vergessen oder sie gar aus deinem Herzen verbannen. Aber du solltest wenigstens so fair sein, und Menschen, denen du wichtig bist, eine Chance geben. Weißt du, Junge, ist ein Herz erst einmal versteinert, dann ist es schwer, es wieder zum Leben zu erwecken!“
„Und, was erwartest du jetzt von mir? Soll ich ihr nachreisen und mich bei ihr entschuldigen, wo ich doch noch nicht einmal weiß, ob ich das überhaupt möchte? Ach komm Earl. Wir sind hier nicht in irgendeiner drittklassigen Liebesromanze.“
„Ich erwarte gar nichts von dir, mein Junge“, sagte Earl und stand langsam von seinem Stuhl auf. Draußen war es bereits dunkel geworden und das leise Zirpen der Grillen drang zum Fenster herein.
„Die Frage ist doch eher, was erwartest du selber von dir!“
Er ging auf die Küchentür zu. Im Türstock drehte er sich noch einmal zu Jake um. „Mach dir eine Kanne Kaffee und sieh zu, dass du wieder auf die Beine kommst. Da draußen warten einige Pferde auf dich, die morgen früh gefüttert werden wollen. Heute Abend übernehme ich diesen Dienst für dich!“
Er verschwand aus der Küche und wenige Sekunden später konnte man die Haustür ins Schloss fallen hören.