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Sein Haus war noch da.
Wieso oder warum, konnte er sich nicht denken. Er hatte beschlossen, mal hinzugehen und nachzusehen, während er darauf wartete, daß sich die Kneipe leerte, so daß er den Wirt um ein Bett für die Nacht bitten konnte, falls alles andere weg wäre. Und da stand es.
Eilig schloß er es mit einem Schlüssel auf, den er unter einem steinernen Frosch im Garten liegen hatte, weil merkwürdigerweise das Telefon klingelte.
Er hatte es den ganzen Weg herauf schwach läuten hören und war losgerannt, als ihm klar wurde, woher das Klingeln kam.
Die Tür mußte er wegen des verblüffend großen Haufens Postwurfsendungen auf der Fußmatte mit Gewalt aufdrücken. Sie keilte sich auf etwas fest, das, wie er später feststellte, vierzehn vollkommen identische, an ihn persönlich adressierte Einladungen zum Erwerb einer Kreditkarte waren, die er bereits hatte, siebzehn vollkommen identische Drohbriefe wegen der NichtBezahlung von Rechnungen auf eine Kreditkarte, die er nicht hatte, dreiunddreißig vollkommen identische Briefe, in denen stand, daß er als Mensch von Geschmack und Urteilsvermögen, der wisse, was er wolle und wohin er strebe in der verfeinerten und jet-settigen Welt von heute, speziell und persönlich ausgewählt worden sei, um aus vorgenannten Gründen irgendeine plöterige Brieftasche zu erwerben, sowie ein totes, getigertes Kätzchen.
Er quetschte sich durch die relativ enge Öffnung, die von all dem freigelassen wurde, stolperte durch einen Stapel Weinangebote, die sich kein urteilsfähiger Kenner würde entgehen lassen wollen, schlitterte über einen Haufen Prospekte über Ferien in irgendwelchen Strandvillen, polterte die dunkle Treppe hoch zu seinem Schlafzimmer und gelangte ans Telefon, als es gerade aufhörte zu klingeln.
Er ließ sich keuchend auf sein kaltes, muffiges Bett fallen und unterließ für ein paar Minuten den Versuch, die Welt daran zu hindern, sich in einer Weise, die ihr offensichtlich Spaß machte, um seinen Kopf herumzudrehen.
Als ihr das Vergnügen an dem Getrudele vergangen war und sie sich ein bißchen beruhigt hatte, streckte Arthur die Hand zur Nachttischlampe aus, obwohl er nicht erwartete, daß sie anginge. Zu seiner Überraschung tat sie es. Das entsprach Arthurs Sinn für Logik. Denn da das Elektrizitätswerk ihm jedesmal, wenn er die Rechnung bezahlt hatte, unfehlbar den Strom abschaltete, erschien es ihm nur logisch, daß es ihm den Strom ließ, wenn er nicht bezahlte. Wenn man denen Geld schickte, machte man sich bloß verdächtig.
Das Zimmer war ziemlich so, wie er es verlassen hatte, das heißt entsetzlich unordentlich, obwohl der Eindruck durch eine dicke Staubschicht ein bißchen gemildert wurde. Halbgelesene Bücher und Zeitschriften sielten sich zwischen Bergen halbbenutzter Handtücher. Halbe Sockenpaare ruhten in halb ausgetrunkenen Kaffeetassen. Was einmal ein halbgegessenes Sandwich gewesen war, hatte sich nun halbwegs in etwas verwandelt, wovon Arthur ganz und gar nicht Kenntnis zu nehmen wünschte. Laß einen Blitzstrahl durch das Ganze sausen, dachte er im stillen, und du würdest die Entstehung des Lebens nochmal in Gang setzen.
Es gab nur eines in dem Zimmer, was anders war.
Einen Moment lang erkannte er nicht, was dieses eine war, das anders war, weil es ebenfalls mit einer Schicht ekelhaften Staubes zugedeckt war. Dann erfaßten es seine Augen und blieben daran hängen.
Es lag neben dem schäbigen alten Fernseher, in dem man nur noch die Kurse der Fernuniversität sehen konnte, denn falls er versucht hätte, irgendwas Spannenderes zu zeigen, wäre er auseinandergefallen.
Es war eine Schachtel.
Arthur stützte sich auf die Ellbogen und stierte sie an.
Es war eine graue Schachtel, die irgendwie matt schimmerte. Es war eine würfelförmige graue Schachtel von etwas über dreißig Zentimetern Seitenlänge.
Sie war mit einem einfachen grauen Band zugebunden, das oben zu einer zierlichen Schleife verknotet war.
Er stand auf, ging hinüber und berührte die Schachtel voller Staunen. Was es auch war, es war deutlich als Geschenk eingepackt, ordentlich und schön, und wartete darauf, daß er es auspackte. Vorsichtig hob er es auf und trug es zum Bett. Er wischte den Staub von der Oberseite und knotete das Band auf. Die Oberseite der Schachtel war eine Klappe mit einer Lasche, die in die Schachtel hineingeschoben war.
Er klappte sie auf und sah hinein. Sie enthielt eine Glaskugel, die in feines graues Seidenpapier gebettet war. Er zog sie vorsichtig heraus. Es war keine richtige Kugel, denn sie war unten oder, wie Arthur bemerkte, als er sie umdrehte, oben offen und hatte einen dicken Rand. Es war ein Glasgefäß. Ein Goldfischglas.
Es war aus dem allerherrlichsten Glas, vollkommen durchsichtig, aber von einem ganz ungewöhnlichen Silbergrau, als wenn es aus Kristall und Schiefer gemacht wäre.
Arthur drehte es in seinen Händen langsam um und um. Es war eins der schönsten Dinge, die er je gesehen hatte, aber es verwirrte ihn völlig. Er guckte in die Schachtel, aber außer dem Seidenpapier war nichts darin. Auch außen an der Schachtel war nichts zu sehen.
Er drehte das Glas wieder herum. Es war wundervoll. Es war wunderwunderschön.
Aber es war ein Fischglas.
Er klopfte mit dem Daumennagel dagegen, und es ließ ein tiefes, herrliches Klingen hören, das länger anhielt, als möglich schien, und als es schließlich verklang, verlor es sich nicht, sondern schwebte, schien es, in andere Welten davon wie in einen tiefen Meerestraum.
Verzückt drehte Arthur es noch einmal herum, und diesmal fiel das Licht der staubigen kleinen Nachttischlampe in einem anderen Winkel darauf und glitzerte auf irgendwelchen feinen Abschürfungen auf der Oberfläche des Fischglases. Er hielt es in die Höhe, korrigierte den Winkel zum Licht und sah plötzlich deutlich die zierlich eingravierten Form von Wörtern auf dem Glas erscheinen.
> Macht's gut«, stand da, »und danke…«
Und das war alles. Er zwinkerte und begriff überhaupt nichts.
Volle fünf Minuten drehte er das Ding immer rundherum, hielt es in den verschiedensten Winkeln gegen das Licht, klopfte wegen seines faszinierenden Klingens dagegen und grübelte über den Sinn der schattenhaften Buchstaben nach, konnte aber keinen finden. Schließlich stand er auf, füllte das Glas mit Wasser aus dem Hahn und stellte es wieder auf den Tisch neben dem Fernseher. Er schüttelte den kleinen Babelfisch aus seinem Ohr und ließ das Zappelding in das Glas fallen. Er würde ihn jetzt nicht mehr gebrauchen, außer wenn er sich ausländische Filme ansähe.
Erlegte sich wieder auf das Bett und knipste das Licht aus.
Erlag still und ruhig da. Er nahm die ihn umhüllende Dunkelheit in sich auf, entspannte seine Glieder langsam von einem Ende zum anderen, machte sich's bequem, regulierte seinen Atem, entleerte nach und nach seinen Kopf von allen Gedanken, schloß die Augen und war absolut außerstande einzuschlafen.
Die Nacht war ungemütlich und regnerisch. Die Regenwolken selbst waren nun weitergezogen und konzentrierten ihre Aufmerksamkeit im Augenblick auf eine kleine Fernfahrer-Raststätte kurz vor Bournemouth, aber der Himmel, durch den sie hindurchgeflogen waren, hatte sich gestört gefühlt und trug nun eine feuchtverstimmte Miene zur Schau, als wisse er nicht, wozu er sich vielleicht noch hinreißen lasse, falls er nochmal geärgert werde.
Der Mond hing ganz wässerig am Himmel. Er sah wie eine Papierkugel aus der Gesäßtasche von Jeans aus, die gerade aus der Waschmaschine gekommen sind, und wo nur die Zeit und ein Bügeleisen enthüllen können, ob es sich bei der Kugel um einen alten Einkaufszettel oder eine Fünf-Pfund-Note gehandelt hat.
Der Wind wirbelte ein bißchen herum wie der Schwanz eines Pferdes, das dahinterzukommen versucht, in welcher Stimmung es heute nacht ist, und eine Glocke schlug irgendwo Mitternacht. Ein Dachfenster ging quietschend auf.
Es war widerspenstig und mußte ein bißchen gerüttelt und überredet werden, denn sein Rahmen war leicht verrottet und das Scharnier war zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens mal ziemlich gefühlvoll übermalt worden, aber schließlich war das Fenster offen.
Eine Strebe wurde gefunden, um es zu stützen, und eine Gestalt wand sich heraus in die enge Rinne zwischen den beiden einander gegenüberliegenden Schrägen des Daches.
Sie stand auf und beobachtete schweigend den Himmel.
Die Gestalt war absolut nicht mehr als das wüst aussehende Wesen zu erkennen, das vor etwas über einer Stunde wie von Sinnen über das Dorf hereingebrochen war. Verschwunden war der zerrissene, abgetragene Morgenmantel, der mit dem Morast von hundert Welten beschmiert, mit der Junk-Food-Würze von hundert dreckigen Raumflughäfen bekleckert war, verschwunden war die verfilzte Haarmähne, verschwunden der lange, verhedderte Bart, dieses blühende Ökosystem, und alles.
Statt dessen stand da, glatt und salopp, Arthur Dent in Kordhosen und einem dicken Sweater. Sein Haar war gestutzt und gewaschen, sein Kinn sauber rasiert.
Nur in den Augen war noch zu lesen, daß, ganz gleich, was das Universum noch mit ihm vorhaben sollte, er es trotzdem bitten würde, davon Abstand zu nehmen.
Es waren nicht dieselben Augen, mit denen er das letzte Mal speziell auf diese Szenerie geblickt hatte, und das Hirn, das die Bilder deutete, die die Augen zerlegten, war nicht dasselbe Hirn. Dazu war kein chirurgischer Eingriff nötig gewesen, nur die ständigen Püffe und Knüffe der Erfahrung.
Die Nacht erschien ihm in diesem Augenblick wie etwas Lebendiges und die dunkle Erde um ihn her wie ein Wesen, in dem er wurzelte.
Er spürte wie ein Prickeln auf fernen Nervenenden die Wasserfluten eines weit entfernten Flusses, die Wellung unsichtbarer Hügel, die Knäuel schwerer Regenwolken, die irgendwo weit weg im Süden hingen.
Er fühlte auch die Erregung, ein Baum zu sein, und das war etwas, was er nicht erwartet hatte. Er wußte, daß es sich gut anfühlte, wenn man seine Zehen in die Erde grub, aber ihm war nie bewußt gewesen, daß es sich so gut anfühlte. Er spürte eine fast unanständige Woge des Entzückens, die ihn vom New Forest her ergriff. Er müsse diesen Sommer mal versuchen, dachte er, wie sich's anfühlt, wenn man Blätter hat. Aus einer anderen Richtung gelangte zu ihm das Gefühl, ein Schaf zu sein, das von einer fliegenden Untertasse erschreckt wird, aber es war im Grunde nicht zu unterscheiden von dem Gefühl, ein Schaf zu sein, das von irgend etwas anderem erschreckt wird, dem es noch nie begegnet ist, denn Schafe waren Kreaturen, die auf ihrer Reise durchs Leben sehr wenig lernten und verdutzt die Sonne am Morgen aufgehen sahen und über all das grüne Zeug auf den Feldern erstaunt waren.
Überrascht stellte er fest, daß er fühlte, wie das Schaf an dem Morgen über die Sonne verdutzt war, und auch am Morgen davor, und wie es am Tag vor diesem über ein Gehölz verdutzt war. Er konnte immer weiter zurückgehen, aber es wurde langweilig, weil nichts weiter vorkam als Schafe, die über irgendwas verdutzt waren, über das sie auch schon am Tag davor verdutzt gewesen waren. Er verließ die Schafe und ließ seinen Geist in sich ausbreitenden Wellen schläfrig nach draußen treiben. Er spürte die Anwesenheit anderer Geister, Hunderte waren es, Tausende in einem Netz aus Gedanken, einige schläfrig, einige schlafend, einige furchtbar aufgeregt, einer gesprungen.
Einer gesprungen.
Er glitt flüchtig daran vorbei und versuchte, nochmal Fühlung mit ihm aufzunehmen, aber er entschlüpfte ihm wie die zweite Karte mit dem Apfel beim Memory-Spiel. Er spürte eine krampfhafte Erregung, weil er instinktiv wußte, wer es war, oder zumindest wußte er, wer es seinem Wunsch nach sein sollte, und wenn man erst mal weiß, wovon man sich wünscht, daß es wahr ist, ist der Instinkt eine sehr nützliche Einrichtung, um einen wissen zu lassen, daß es wahr ist.
Er wußte instinktiv, daß es Fenny war und daß er sie finden wollte; aber er konnte es nicht. Er bemühte sich so sehr darum, daß er fühlte, wie ihm diese merkwürdige neue Fähigkeit wieder entglitt, und so bremste er sich in seiner Suche und ließ seinen Geist noch einmal ungezwungener in der Gegend herumflanieren.
Und wieder spürte er diesen Sprung.
Wieder konnte er ihn nicht finden. Und was es auch war; wovon ihm diesmal sein Instinkt so fleißig einzureden versuchte, daß er es ruhig glauben könne, er war nicht sicher, daß es sich um Fenny handelte - oder es war vielleicht diesmal etwas anderes Gesprungenes. Es hatte ebenfalls dieses Zusammenhanglose an sich, wirkte aber mehr wie ein allgemeineres Gefühl des Gesprungenseins, tiefer, nicht wie ein einzelner Geist, vielleicht war es überhaupt kein Geist. Es war anders.
Er ließ seinen Geist langsam und weit in die Erde hinabsinken rieselnd, sickernd, sinkend.
Erfolgte der Erde durch deren Tage, ließ sich mit den Rhythmen ihrer Myriaden Pulsschläge treiben, sickerte durch das Netzwerk ihres Lebens, stieg mit ihren Gezeiten und drehte sich mit ihrer Schwere. Und immer kehrte dieses Gesprungene wieder, ein dumpfer, zusammenhangloser, ferner Schmerz.
Und nun flog er durch ein Land aus Licht; das Licht war die Zeit, deren Ströme entschwindende Tage waren. Das Gesprungene, das er gespürt hatte, das zweite, lag jenseits des Landes in der Ferne vor ihm, um die Dicke eines einzigen Haares jenseits der träumenden Landschaft der Tage der Erde.
Und plötzlich war er darüber.
Er tanzte schwindelig über den Rand, als das Traumland jäh unter ihm abfiel, ein die Sinne verwirrender Absturz ins Nichts, während er sich wie wahnsinnig drehte, sich an nichts klammernd, in erschreckendem Raum herumrudernd, wirbelnd, fallend.
Jenseits der gezackten Schlucht war ein anderes Land gewesen, eine andere Zeit, eine ältere Welt, nicht abgetrennt, sondern eben noch verbunden: zwei Erden. Er wachte auf.
Ein kaltes Lüftchen fegte über den fiebrigen Schweiß, der ihm auf der Stirn stand. Der Alptraum war am Ende, und er hatte das Gefühl, er auch. Seine Schultern hingen müde herunter, er rieb sich sanft die Augen mit den Fingerspitzen. Endlich war er sowohl schläfrig als auch hundemüde. Darüber, was der Traum bedeutete, wenn er überhaupt etwas bedeutete, würde er am Morgen nachdenken; jetzt würde er erst mal zu Bett gehen und schlafen. Sein eigenes Bett, seinen eigenen Schlaf.
Er konnte sein Haus in der Ferne sehen und fragte sich, warum das so war. Es hob sich als Silhouette gegen das Mondlicht ab, und er erkannte es an seiner ziemlich langweiligen, klobigen Form. Er blickte sich um und bemerkte, daß er etwa achtzehn Zoll über den Rosenbüschen eines seiner Nachbarn, John Ainsworth, schwebte. Dessen Rosenbüsche waren sorgsam gepflegt, zum Winter zurückgeschnitten, an Stöcke gebunden und etikettiert, und Arthur überlegte, was er über ihnen tue. Er fragte sich, was ihn da halte, und als er entdeckte, daß ihn da nichts hielt, purzelte er ungeschickt zu Boden.
Er rappelte sich hoch, putzte sich ab und humpelte auf einem verstauchten Knöchel zu seinem Haus zurück. Er zog sich aus und plumpste ins Bett.
Während er schlief, klingelte wieder das Telefon. Es klingelte fünfzehn Minuten hintereinander, was ihn veranlaßte, sich zweimal umzudrehen. Niemals aber bestand eine Chance, daß es ihn weckte.