54
Samstag, 5. Januar
»Mass’r unten, Missee Tai-tai.«
»Master Gornt?«
Ah Soh, die an der Tür von Angéliques Boudoir stand, zuckte die Achseln. »Kwai loh Mass’r.« Mit der Hand deutete sie jemand Großen an und schloß die Tür mit dem üblichen Knall.
Angélique warf rasch einen Blick in den Spiegel. Ihre unterdrückte Erregung verlieh ihr die Farbe, die sie brauchte. Ein Augenblick, um ihr Tagebuch abzuschließen und wegzuräumen. Ein letzter prüfender Blick, und sie eilte hinaus. Schwarzes Seidenkleid mit vielen Rüschenunterröcken, das Haar mit einem Chiffontuch zurückgebunden, ebenfalls schwarz. Siegelring. Die Treppe hinunter, ohne die Dienerschaft bei ihren frühmorgendlichen Aufgaben zu beachten.
Hinein ins Büro das Tai-Pan. Gornt stand am Fenster und blickte auf die Bucht hinaus. Chen wartete anklagend. »Guten Morgen, Edward.«
Er drehte sich um und lächelte ein Willkommen. »Morgen, Ma’am.«
»Kann ich Kaffee oder Champagner kommen lassen?«
»Nichts, danke, ich habe bereits gefrühstückt. Ich wollte nur von Hongkong und Ihrer Einkaufsliste berichten. Hoffentlich störe ich Sie nicht.«
»Danke. Chen, warte draußen, heya.«
In dem Moment, da sie allein waren, sagte sie leise: »Das ist jetzt Alberts Büro, ich kann es benutzen, während er mit Vargas im Kontor ist, also haben wir vielleicht nicht viel Zeit – es ist sehr schwer, einen Ort zu finden, wo man vertraulich reden kann. Setzen wir uns dorthin, Edward«, sagte sie und zeigte in die Fensternische. »Nur Passanten können uns sehen, aber das macht nichts, Sie waren Malcolms Freund. Bitte, schnell, was ist passiert?«
»Darf ich zuerst sagen, wie wundervoll Sie aussehen?«
»Danke.« Ihre Besorgnis war jetzt unverkennbar. »Bitte?«
»Ich glaube, es ist sehr gut gegangen«, sagte er ebenso leise. »Tess wäre eine fabelhafte Pokerspielerin, Angélique, darum bin ich mir nicht ganz sicher. Bei unserer ersten Begegnung erzählte ich ihr von meiner Brock-Information, wie wir vereinbart hatten, und sagte mehrmals auf unterschiedliche Weise, ich hätte sie auf Ihre Veranlassung aufgesucht, nicht d…«
»Waren Sie der erste vom Schiff, mit dem sie sprach?«
»Ja, ich bin ziemlich sicher, weil ich mit dem Lotsenboot an Land ging, bevor die Prancing Cloud andockte, zusammen mit Captain Strongbow. Nachdem ich Tess von den Brocks erzählt hatte, zeigte sie keine große Reaktion, hörte nur aufmerksam zu, stellte ein paar Fragen und sagte dann: ›Bitte kommen Sie morgen mit Ihren Beweisen wieder, kurz nach der Morgendämmerung. Benutzen Sie die Seitentür in der Gasse, sie wird unverschlossen sein, und seien Sie diskret und vorsichtig, Brock’s hat überall Spione.‹ Am nächsten Tag…«
»Warten Sie! Haben Sie ihr von… von Malcolms Tod und von unserer Trauung erzählt?«
»Nein, das habe ich Strongbow überlassen«, antwortete Gornt. »Ich beginne am Anfang. Auf meinen Vorschlag hin gingen wir zusammen im Lotsenboot an Land und ließen Hoag aus dem Plan heraus – er kann den Mund nicht halten. Ich hatte mich bereiterklärt, Strongbow zu unterstützen und zu helfen, weil ich teilweise Zeuge war… der arme Kerl hatte eine Heidenangst, obwohl es wirklich seine Pflicht war, ihr zu berichten. Als er damit herausplatzte, daß Malcolm tot ist, wurde sie kreidebleich. In ein paar Sekunden hatte sie sich wieder gefaßt, erstaunlich schnell, aber so war es, und dann fragte sie mit tonloser Stimme, wie Malcolm gestorben sei. Strongbow war verwirrt und stotterte: ›Ich habe den Totenschein mitgebracht, Mrs. Struan. Und die Untersuchungsergebnisse und einen Brief von Sir William; es war ein natürlicher Tod an Bord der Prancing Cloud in der Nacht nach seiner Trauung, und wir fanden ihn morgens tot auf, und wir konnten nichts mehr tun.‹
Sie sprang pfeilschnell auf die Füße und schrie: ›Sie haben meinen Sohn mit dieser Frau getraut?‹ Strongbow wäre fast gestorben und brabbelte die Geschichte herunter, so schnell er konnte, über die Pearl, das Duell, daß ich Jamie das Leben gerettet hatte, indem ich Norbert umbrachte, wie man Malcolm gefunden hatte, erzählte alles, was er wußte, auch von Ihrem Schockzustand. Sein Schweiß strömte nur so, Angélique. Ich muß gestehen, daß auch ich schwitzte – nach dem ersten Schrei stand Tess einfach nur da mit feurigen Augen wie eine Medusa. Dann gab er ihr ein paar Briefe, ich sah, daß einer von Sir William war, stammelte eine Entschuldigung und stolperte davon.«
Gornt zog ein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn. Angélique fühlte sich elend vor ihrer Feindin – wenn Tess sogar Gornt ins Schwitzen brachte, was würde sie dann erst ihr antun! »Sie stand einfach da, und dann richtete sie den Blick auf mich. Erstaunlich, daß eine so kleine Frau so… so groß wirken kann. Und hart. In einer Minute hart, in der nächsten sanft, aber nie ungewappnet. Ich mußte mich zwingen, nicht zurückzuweichen, und sah mich um, als hätte ich Angst, belauscht zu werden. Dann sagte ich eilig, es täte mir auch entsetzlich leid, Malcolm sei wirklich mein Freund gewesen, und Sie seien ihre Freundin, und auf Ihre Veranlassung sei ich gekommen, denn ich hätte Informationen, die Tyler und Morgan Brock ruinieren würden. In dem Moment, als ich ›Tyler ruinieren‹ sagte, hörte ihre Raserei auf, zumindest dieses erschreckende Feuer verging, und sie setzte sich hin. Noch immer wandte sie keinen Blick von mir. Sie setzte sich hin, und nach einer langen Weile sagte sie: ›Welche Informationen?‹ Ich sagte, ich würde morgen wiederkommen, aber sie wiederholte mit messerscharfer Stimme: ›Was für Informationen?‹ Ich gab ihr nur die nackten Knochen… Verzeihung, Angélique, könnte ich einen Drink haben? Keinen Champagner, sondern Whisky, Bourbon, wenn Sie welchen haben.«
Sie ging zum Sideboard, während er fortfuhr: »Am nächsten Tag brachte ich die Hälfte der Beweise und ließ sie ihr da. Sie…«
»Warten Sie. War sie genauso wie am Tag zuvor?«
»Ja und nein.« Er nahm das ihm angebotene Glas entgegen, trank einen Schluck und atmete tief auf, als der Alkohol durch seine Kehle rann. »Danke. Als ich fertig war, sah sie mich an, und ich dachte, ich hätte versagt. Diese Frau ist verdammt angsteinflößend, ich würde nicht gern ihr Feind sein.«
»Aber ich bin es, nicht wahr? Mon Dieu, Edward, sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Ja, das sind Sie, aber das spielt für den Augenblick keine Rolle, lassen Sie mich fortfahren. Ich…«
»Sie haben Ihr meinen Brief gegeben?«
»O ja, Verzeihung, daß ich vergessen habe, es zu erwähnen, das tat ich am ersten Tag, bevor ich ging, genau, wie wir es vereinbart hatten, und ich betonte abermals, das Ganze sei Ihre Idee. Dann sagte ich ihr, da meine Vereinbarung mit Malcolm als Tai-Pan bestanden habe und er tot sei, hätte ich gedacht, die Sache sei hinfällig, ich hätte daher vorgehabt, nach Shanghai zurückzukehren, um auf den neuen Tai-Pan zu warten. Aber Sie hätten mich ausfindig gemacht und mich gebeten, Tess aufzusuchen, gesagt, das sei ich meinem Freund Malcolm schuldig. Er hätte Ihnen gegenüber insgeheim meinen Vorschlag erwähnt – aber ohne alle Einzelheiten –, und Sie seien sicher, es wäre sein Wunsch, daß ich diese Informationen so bald wie möglich an seine Mutter weitergäbe. Zuerst hätte ich nicht gewollt, aber Sie hätten mich schließlich dazu überredet. Also sei ich auf Ihre Veranlassung da, und Sie hätten mich gebeten, ihr einen Brief zu geben. Dann händigte ich ihn ihr aus.«
»Hat sie ihn in Ihrer Anwesenheit gelesen?«
»Nein. Das war am ersten Tag. Am nächsten Tag, als wir uns frühmorgens trafen und ich ihr einen Teil der Informationen gegeben hatte, stellte sie eine Menge Fragen, kluge Fragen, und sagte, ich solle nach Sonnenuntergang wiederkommen, wieder durch die Seitentür. Das tat ich. Sofort erklärte sie, das Dossier sei unvollständig. Ich antwortete, ja, sicher, es hätte ja keinen Sinn, alles zu zeigen, bevor ich nicht wisse, wie weit dies für sie bindend sein würde – ob sie wirklich daran interessiert sei, die Brocks zu ruinieren. Sie sagte ja und fragte, warum ich hinter ihnen her sei, welches Interesse ich daran hätte.
Ich sagte es ihr unverblümt. Die ganze Geschichte mit Morgan, die Wahrheit. Es sei Morgan, den ich zerstören wolle, und wenn sein Vater mit untergehe, solle es mir recht sein. Ich erwähnte nicht, daß sie dies zu meiner Stieftante machte, nicht ein einziges Mal bei allen Zusammenkünften, und sie erwähnte es auch nicht. Niemals. Sie erwähnte auch Ihren Brief an sie nicht. Kein einziges Mal. Sie stellte nur Fragen. Nach den Enthüllungen über Morgan erwartete ich, daß sie etwas sagen würde, wie leid es ihr täte oder daß das für Morgan typisch wäre – schließlich ist er ihr Stiefbruder. Aber nichts. Sie sagte kein Wort, fragte nach Einzelheiten über meinen Handel mit Malcolm, und ich gab ihr den Vertrag.« Er trank sein Glas leer. »Ihren Vertrag.«
»Ihren Vertrag«, sagte sie und war auf der Hut. »Wie müssen Sie sie hassen. Sprechen Sie weiter, Edward.«
»Sie irren sich, ich hasse sie nicht, ich glaube, ich verstehe, daß sie am Rand ihrer Nervenkraft stand. Malcolms Tod hatte sie entsetzlich getroffen, so sehr sie das auch zu verbergen suchte. Malcolm war die Zukunft des Noble House, nun steht sie vor dem Chaos – ihr einziger Hoffnungsstrahl waren ich und mein Plan, der übrigens kaum legal ist, selbst in Hongkong, wo die Regeln verbogen werden wie nirgendwo sonst. Darf ich?« Er hob sein Glas.
»Natürlich«, sagte sie und wunderte sich über ihn.
»Sie las den Vertrag sorgfältig, trat dann ans Fenster und starrte auf den Hafen von Hongkong. ›Wann bekomme ich den Rest der Beweise?‹ fragte sie, und ich sagte, gleich, wenn sie dem Handel zustimme. ›Einverstanden‹, sagte sie, setzte sich hin, unterschrieb mit ihrem Namen, stempelte die Unterschrift in Gegenwart ihrer Sekretärin und sagte ihr dann, sie solle abschließen und gehen. Sie…«
»Sie hat meine Unterschrift als Zeugin gar nicht erwähnt?«
»Nein, obwohl sie diese, wie Sie vorhersagten, sicher sofort bemerkt hat. Weiter: Ich blieb vielleicht vier Stunden bei ihr und half ihr durch das Labyrinth von Papieren und Abschriften von Papieren. Viel Anleitung brauchte sie allerdings nicht. Dann legte sie alles zu einem sauberen Stapel zusammen und fragte mich nach der Tokaidō-Affäre, Malcolm, Ihnen, McFay, Tyrer, Sir William, Norbert, was Morgan und Tyler mir in Shanghai gesagt hätten, meiner Meinung über Sie, über Malcolm, ob er hinter Ihnen her war oder Sie hinter ihm. Sie gab nichts preis, nur Fragen und noch mehr Fragen. Meinen Fragen wich sie aus. Ihr Verstand ist so scharf wie ein Samurai-Schwert. Aber ich schwöre bei Gott, Angélique, jedesmal, wenn der Name von Morgan oder dem alten Brock fiel, jedesmal, wenn ich einen neuen Kniff erwähnte, den die Papiere zuließen, dann schien Tess beinahe das Wasser im Mund zusammenzulaufen.«
Angélique schauderte. »Gibt es… gibt es eine Chance auf Frieden mit mir, was glauben Sie?«
»Ich glaube schon, aber lassen Sie mich der Reihe nach erzählen. Sie fragte wieder, ob der Handel, den Malcolm unterzeichnet hatte, für mich noch immer eine akzeptable Belohnung wäre. Ich bejahte. Morgen würde sie diesen Vertrag durch ein legaleres Dokument ersetzen, das ebenso unterschrieben und gestempelt sein würde. Dann: ›Und nun zur letzten Angelegenheit für heute abend, Mr. Gornt. Was sollte ich dieser Frau geben?‹ Angélique, ich hatte ihr gesagt, Sie hätten mich um nichts gebeten, sondern wollten ihr nur die Wünsche und Hoffnungen Ihres Gatten zur Kenntnis bringen, und falls diese sich als fruchtbar erwiesen – ich hatte ihr gesagt, Sie wüßten nichts vom Inhalt –, wäre Ihnen das Belohnung genug.«
»Sie haben dieses Wort benutzt, ›Gatte‹? Und sie ließ es durchgehen?«
»Ja, aber sie sagte sofort: ›Wie man mir sagt, ist die Trauung nicht gültig, was immer sie behauptet oder Sir William sagt.‹«
Angélique wollte schon widersprechen, aber Gornt kam ihr zuvor: »Nicht so schnell, meine Liebe, seien Sie geduldig. Ich berichte Ihnen, was sie gesagt hat. Geduld, wir haben genügend Zeit, unser Spiel zu machen. Nach diesem Treffen wollte sie ein weiteres am nächsten Abend. Ich sagte ihr, ich hätte die Brocks gesehen und ihnen dieselbe Geschichte aus Yokohama erzählt, insbesondere über das Duell, und hätte ihnen eine Kopie von Norberts Untersuchung gegeben. Der alte Tyler geriet außer sich vor Wut, aber Morgan beruhigte ihn und sagte, ein Schuß in den Rücken von Jamie McFay hätte ihnen mehr geschadet als der Verlust eines leicht ersetzbaren Geschäftsführers.«
Angéliques Herz pochte. So viele Fragen waren noch unbeantwortet. »Wird sie… wird sie infolge der Informationen etwas unternehmen?«
»So wie ich das sehe, ja. O ja, und zwar schnell. Ich werde meine Rache bekommen und Sie eine Regelung.«
»Was macht Sie so sicher?«
»Ich bin sicher, Ma’am, keine Angst, jahrelang habe ich meine Zunge im Zaum halten und Kotau machen müssen, aber bald… Sie werden sehen! Als ich ihr von meinem Treffen mit den Brocks erzählte – sie fragte dauernd nach ihnen, wollte wissen, wie Tyler auf die Heirat und den Tod ihres Sohnes reagiert hätte, und benutzte kein einziges Mal das Wort ›Vater‹ –, sagte ich ihr offen, wie die beiden über die Seetrauung gelacht hätten und darüber, daß sie gegen ihren Willen erfolgte. Der alte Brock hat gesagt: ›Das geschieht dem Weibsbild recht, nachdem sie gegen meine war!‹ Ich erzählte ihr offen, wie sich beide hämisch über Malcolms Tod freuten und Morgan gesagt hat, jetzt hätten sie keinen Tai-Pan mehr, und am ersten Februar würde Tess aus dem Jockey Club draußen sein und erledigt, und Tyler hat dazu gesagt, dann würde er der Tai-Pan, Dirk wäre endlich besiegt und das Noble House und sein Name für alle Zeiten vergessen!«
»Das haben Sie ihr gesagt?« Angélique drehte sich der Kopf.
»Ja, Ma’am, aber es war Tyler, der das gesagt hat – er hat es wirklich getan. Und er ist derjenige, der sie verrückt macht, also dachte ich, ich sollte korrekt darüber berichten, und als ich es tat, Ma’am, da zitterte ihr Kopf so, daß ihre Augäpfel kaum mithalten konnten, und ich dachte schon, die Medusa käme zurück. Aber das passierte nicht, diesmal nicht. Diesmal war das Satansfeuer beherrscht, es war zwar noch da, o ja, aber sie hatte es unter Kontrolle, sie behielt es für sich, obwohl ich verdammt… Verzeihung, obwohl ich ganz schön geschwitzt habe. Es paßt nicht zu einer Frau, so wütend zu sein, aber nach Tyler und Morgan ist leicht zu sehen, woher sie das hat.
Nachdem sie sich ein bißchen beruhigt hatte, sagte ich ihr, Tyler hätte schließlich Morgans Vorschlag zugestimmt, daß ich als Manager hierherkommen sollte, versuchsweise auf ein Jahr, unter allerhand Drohungen, falls meine Leistungen nicht gut wären. Sie fragte nach meinem Gehalt.
›Ausgezeichnet. In der Öffentlichkeit werden wir Feinde sein, insgeheim enge Verbündete, und wenn Brock and Sons für immer untergehen, worum ich zu Gott bete, wird Ihr Rothwell-Gornt an deren Stelle treten.‹ Das ist so ziemlich alles, Angélique, bis auf die Tatsache, daß sie Hoag hierher zurückgeschickt hat und Ihnen einen Brief schrieb.«
Er trank seinen Bourbon, der jetzt nicht mehr brannte. »Ich habe nicht gefragt, was darin stand, und Sie auch nicht verteidigt, ich habe nur immer wieder in verschiedener Form gesagt, wenn mein Plan ihr helfen würde, Brock’s zu zerstören, dann hätte sie das Ihnen zu verdanken. Was stand in ihrem Brief?«
Sie reichte ihn ihm.
»Viel Drumherum und wenig Klartext«, sagte er, als er ihn ihr zurückgab. »Das ist ihre erste Verhandlungsposition – und aus ihr geht klar hervor, daß ich meine Abmachung gehalten habe: Sie ist überzeugt, daß Sie auch Ihnen Dank schuldet. Sie werden gewinnen.«
»Was gewinnen? Keine gesetzlichen Scherereien?«
»Das und ein Einkommen. Sie gibt zu, daß sie in Ihrer Schuld steht.«
»Ja, aber nichts weiter, nur Drohungen.«
»Wir haben ein paar Trümpfe in der Hand.«
»Welche?« Draußen waren Stimmen zu hören.
»Zeit, Angélique, unter anderem. Heute abend werde ich Sie zu einem formlosen Nachtmahl einladen, dann können wir unbelauscht sprechen, und…«
»Nicht im Brock-Building, und nicht allein. Wir müssen vorsichtig sein«, sagte sie hastig. »Bitte, laden Sie Dimitri und Marlowe ein. Wir müssen sehr vorsichtig sein, Edward, so tun, als stünden wir uns nicht zu nahe – das würde diese Frau argwöhnisch machen, und sie wird zweifellos davon erfahren, Albert ist völlig auf ihrer Seite. Wenn wir heute abend nicht reden können, werde ich morgen um zehn einen Spaziergang machen, und wir können mit unserer Unterhaltung fortfahren…« Um der Umarmung zuvorzukommen, die sie herannahen fühlte, hatte sie ihm rasch die Hand gereicht und ihm überschwenglich gedankt.
Als sie wieder allein in ihrem Boudoir war, ließ sie ihre Gedanken schweifen. Welche Trümpfe? Welche Asse? Und warum dieses seltsame Lächeln? Was hat er wirklich mit Tess vereinbart? Verheimlicht er mir etwas? Es stimmt, aus ihrem Brief geht hervor, daß er sie von meiner Hilfe überzeugt hat, und das ist wichtig. Oder bin ich bloß übertrieben argwöhnisch? Hätte ich doch nur dort sein können!
Dann drängte sich die Frage, ob sie nun schwanger war oder nicht, wieder in den Vordergrund und quälte sie. Einmal hatte sie sie Babcott gegenüber erwähnt, der gesagt hatte: »Seien Sie geduldig, machen Sie sich keine Sorgen.« Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob Babcott und Phillip Tyrer wieder aus dem Netz der Feinde herauskommen würden, in das sie, von Sir William geschickt, bereitwillig gegangen waren.
Ach, die Männer mit ihrem Gerede über Geduld, Verlogenheit und falsche Prioritäten, was wissen sie schon?
Yoshi war gereizt. Es war später Vormittag, er befand sich in seinen Gemächern in der Burg von Edo, und er hatte noch immer nicht gehört, wie die Untersuchung des taikō durch den Gai-Jin-Doktor verlaufen war. Als er gestern mit Babcott und Tyrer aus Kanagawa zurückgekehrt war, hatte er sie in einem der Paläste außerhalb der Burgmauern untergebracht, den er sorgfältig ausgewählt, mit Personal versehen und zur weiteren Sicherheit mit einem Ring zuverlässiger Wachen umgeben hatte. Dann hatte er sofort Anjo zur Untersuchung gebeten.
Der taikō war in einer geschlossenen Sänfte gekommen, beschützt von seiner eigenen Leibwache – der Versuch, ihn zu ermorden, war kaum hundert Meter von hier unternommen worden. Yoshi, begleitet von Babcott und Phillip Tyrer, hatte die Sänfte im Hof erwartet. Sie hatten sich verneigt, Yoshi am wenigsten tief; er hatte heimlich in sich hineingelacht, als Anjo sich unter Schmerzen aus der Sänfte helfen ließ. »taikō, dies ist der Gai-Jin-Doktor. B’bc’tt, und Dolmetscher Taira.«
Anjo hatte mit offenem Mund zu Babcott aufgesehen. »Eeee, der Mann ist wirklich groß wie ein Baum! So groß, eeee, ein Ungeheuer! Ist sein Penis dementsprechend?« Dann hatte er Phillip Tyrer angesehen und war herausgeplatzt: »Strohhaare, ein Gesicht wie ein Affe, blaue Schweineaugen und ein japanischer Name – einer von Ihren Familiennamen, Yoshi-donno, neh?«
»Der Name klingt fast genauso«, hatte Yoshi kurz angebunden gesagt und sich an Tyrer gewandt. »Wenn die Untersuchung beendet ist, schicken Sie diese beiden Männer mich holen.« Er hatte auf Misamoto gewiesen, den Fischer, seinen Spion und falschen Samurai, und Misamotos ständigen Bewacher, ein Samurai, dessen Befehl lautete, ihn niemals mit irgendeinem Gai-Jin allein zu lassen. »Anjo-donno, ich glaube, Ihre Gesundheit ist in guten Händen.«
»Danke, daß Sie das arrangiert haben. Der Arzt wird zu Ihnen geschickt werden, wenn es mir paßt, nicht nötig, diese Männer oder irgendwelche von Ihren Leuten hierzulassen…«
Das war gestern gewesen. Die ganze Nacht und heute morgen hatte er sich Sorgen gemacht, Sorgen und Hoffnungen. Sein Zimmer war verändert, war noch strenger; alle Spuren von Koiko waren entfernt worden. Zwei Wachen standen hinter ihm und zwei an der Tür. Gereizt stand er von seinem Schreibtisch auf und ging zum Fenster, lehnte sich auf die Brüstung. Weit unten sah er den Palast, wie die Männer des taikō Wache standen. Ansonsten keine Zeichen von Aktivität. Über die Dächer von Edo hinweg konnte er den Ozean, Rauchwolken einiger Handelsschiffe und ein Kriegsschiff sehen, das sich auf der Heimfahrt nach Yokohama befand.
Was befördern sie, fragte er sich. Waffen? Truppen? Kanonen? Welches Unheil planen sie?
Um seine Nerven zu beruhigen, setzte er sich wieder an den Schreibtisch und fuhr fort, Kalligraphie zu üben. Gewöhnlich besänftigte ihn diese Übung, aber heute brachte sie keinen Frieden. Immer wieder erschienen Koikos exquisite Pinselstriche auf dem Papier, und so sehr er sich auch bemühte, er konnte nicht verhindern, daß er ständig ihr Gesicht vor sich sah.
»Baka!« sagte er, machte einen falschen Pinselstrich und verdarb die Arbeit einer Stunde. Gereizt warf er den Pinsel hin und verspritzte Tinte auf den Tatamis. Seine Wachen wechselten unbehaglich die Position, und er verfluchte sich selbst für den Fehler. Du mußt deine Erinnerungen beherrschen. Du mußt.
Seit jenem bösen Tag hatte sie ihn verfolgt. Ihr zarter Hals, der den Schlag kaum gefühlt hatte… dann war er davongeeilt, statt ihren Scheiterhaufen zu entzünden. Die Nächte waren am schlimmsten. Einsam und frierend im Bett, aber kein Verlangen nach einem weiblichen Körper oder nach Schutz. Alle Illusionen verloren. Ihr Verrat, die Drachenfrau Sumomo in seine inneren Gemächer einzuführen, ungeheuerlich – dafür gab es keine Entschuldigung, keine, sagte er sich immer wieder, keine. Sie muß über sie Bescheid gewußt haben. Keine Entschuldigung, keine Vergebung, nicht einmal, wie er jetzt glaubte, nachdem sie sich geopfert und das Shuriken aufgefangen hatte, das sonst ihn durchbohrt hätte. Er konnte keiner Frau mehr trauen. Außer seiner Gemahlin, vielleicht, und seiner Konsortin, vielleicht. Er hatte nach keiner von ihnen geschickt, nur geschrieben, ihnen gesagt, sie sollten warten und ihre Söhne hüten.
Er spürte keine wirkliche Freude, nicht einmal über seinen Sieg über die Gai-Jin, obwohl er sicher war, daß dies ein großartiger Fortschritt war, und wenn er es den Ältesten erzählte, würden sie in Ekstase geraten. Sogar Anjo. Wie krank ist dieser Hund? Hoffentlich todkrank. Wird der Riese seinen Zauber wirken? Oder soll man dem chinesischen Arzt glauben, der sich, wie Inejin sagt, nie geirrt und etwas von einem frühen Tod geflüstert hat?
Macht nichts. Anjo wird jetzt auf mich hören, auch die anderen werden endlich zuhören und meinen Vorschlägen zustimmen, ich habe viel erreicht. Die Flotte ist nicht länger eine Bedrohung, Sanjiro ist von den Gai-Jin schon so gut wie erledigt, Ogama in Kyōto zufrieden. Shōgun Nobusada wird nach Edo zurückbefohlen, wohin er gehört, sobald er, Yoshi, den Ältesten die Rolle erklärt hat, die der Junge in dem großen Plan spielen soll. Und er wird nicht nur zurückkehren, sondern allein zurückkehren und seine Frau, Prinzessin Yazu, zurücklassen, damit sie ›in ein paar Tagen folgt‹, was nie geschehen wird, wenn Yoshis Wille sich durchsetzt – nicht nötig, daß die anderen ins Vertrauen gezogen wurden. Nur Ogama.
Nicht einmal Ogama kannte alles, nur den Teil, die Prinzessin im Netz zu fangen und auf ›Wunsch‹ des Kaisers ihre Scheidung zu erwirken. Ogama würde schon dafür sorgen, daß sie kein Problem darstellte, bis sie sicher und dauerhaft neutralisiert war, zufrieden, für alle Zeit innerhalb des Palastsumpfes aus Poesiewettbewerben, Konzertdarbietungen und anderen weltlichen Vergnügungen zu leben. Und mit einem neuen Ehemann. Ogama.
Nein, nicht Ogama, dachte er amüsiert, obwohl ich die Verbindung natürlich vorschlagen werde. Nein, ein anderer, jemand, mit dem sie zufrieden sein wird – der Prinz, dem sie einmal versprochen war und den sie noch immer verehrt. Ogama wird ein feiner Verbündeter sein. In vieler Hinsicht. Bis auch er hinübergeht.
Inzwischen bewache ich noch immer die Tore, wenn auch Ogamas Männer meine Leute kontrollieren, die die Tore hüten. Das spielt keine Rolle. Bald werden wir sie vollständig besitzen, und auch den Sohn des Himmels. Wieder. Werde ich das noch erleben? Falls ja, dann ja, falls nein, dann nicht. Karma.
Koikos Lachen ließ ihn im Innersten erschauern: Ah, Tora-chan, du und dein Karma! Gehetzt sah er sich um. Das Lachen kam aus dem Korridor, vermischt mit Stimmen.
»Sire?«
»Kommen Sie herein.« Er hatte Abeh erkannt.
Abeh trat ein, die Wachen entspannten sich. Bei Abeh war eine der Hausdienerinnen, eine fröhliche Frau mittleren Alters, die ein Tablett mit frischem Tee trug. Beide knieten nieder und verbeugten sich. »Stell das Tablett auf den Tisch«, befahl er. Die Dienerin gehorchte lächelnd, Abeh verharrte kniend an der Tür. Dies waren neue Befehle: Niemand durfte sich Yoshi ohne Erlaubnis weiter als auf zwei Meter Entfernung nähern. »Worüber hast du gelacht?«
Zu seiner Überraschung sagte sie fröhlich: »Über den Gai-Jin, Sire, ich sah ihn im Hof und dachte, er wäre ein Kami – eigentlich zwei, Sire, er und der andere mit den gelben Haaren und den blauen Augen einer Siamkatze. Eeee, Sire, ich mußte lachen. Stellen Sie sich vor, blaue Augen! Der Tee ist von dieser Saison, wie Sie befohlen hatten. Möchten Sie etwas essen?«
»Später«, sagte er und entließ sie. Er fühlte sich ruhiger, ihre warmherzige Natur war ansteckend. »Abeh, sie sind im Hof? Was geht da vor?«
»Bitte verzeihen Sie, Sire, ich weiß es nicht«, sagte Abeh, noch immer wütend, daß Anjo sie gestern alle weggeschickt hatte. »Der Hauptmann der Leibwache des taikō kam vor einem Moment und befahl… und befahl mir, sie nach Kanagawa zurückzubegleiten. Was soll ich tun, Sire? Sie werden sie natürlich vorher sehen wollen.«
»Wo ist taikō Anjo jetzt?«
»Ich weiß nur, daß die beiden Gai-Jin nach Kanagawa zurückgebracht werden sollen, Sire. Ich fragte den Hauptmann, wie die Untersuchung verlaufen sei, und er entgegnete impertinent: ›Was für eine Untersuchung?‹ und ging.«
»Bringen Sie die Gai-Jin her.«
Bald hörte er schwere, fremde Schritte. Ein Klopfen. »Die Gai-Jin, Sire.« Abeh trat beiseite und winkte Babcott und Tyrer herein, kniete nieder und verneigte sich. Die beiden Gai-Jin, unrasiert und sichtlich müde, verneigten sich stehend. Sofort schubste eine der Türwachen Tyrer wütend auf die Knie, worauf er hinfiel.
Der andere Wachmann versuchte dasselbe mit Babcott, doch der Arzt bewegte sich mit für einen so großen Mann unheimlicher Geschwindigkeit, packte den Wächter dicht vor dem Hals bei seiner Kleidung, hob ihn mit einer Hand hoch und schleuderte ihn gegen die steinerne Wand. Einen Augenblick hielt er den Bewußtlosen noch fest, dann ließ er ihn sanft zu Boden gleiten.
In die schockierte Stille hinein sagte Babcott lässig: »Gomen nasai, Yoshi-sama, aber so sollte man mit Gästen nicht umgehen. Phillip, bitte übersetzen Sie das und sagen Sie, daß ich ihn nicht umgebracht habe; allerdings wird der Kerl eine Woche lang Kopfschmerzen haben.«
Die anderen Samurai erwachten aus ihrer Trance und griffen nach ihren Schwertern. »Halt!« befahl Yoshi, wütend auf die Gai-Jin und wütend auf die Wachen. Sie erstarrten.
Phillip Tyrer hatte sich mühsam aufgerappelt, ignorierte den reglosen Wächter und sagte in seinem einfachen, stockenden Japanisch: »Bitte entschuldigen, Yoshi-sama, aber Doktor-sama und ich, wir verneigen wie fremde Sitte. Höflich, ja? Bedeutet nichts Böses, Doktor-sama sagen. Bitte entschuldigen, Mann nicht tot, nur…« Er suchte nach dem Wort, konnte es nicht finden und zeigte daher auf seinen Kopf. »Schmerzen, eine Woche, zwei.«
Yoshi lachte, ohne zu wissen warum. Die Spannung ließ nach. »Bringt ihn fort. Wenn er aufwacht, bringt ihn zurück.« Er winkte die anderen auf ihre Plätze und gab den Engländern zu verstehen, sie sollten sich ihm gegenübersetzen. Als sie ungeschickt Platz genommen hatten, sagte er: »Wie geht es dem taikō, wie ist die Untersuchung verlaufen?«
Sofort antworteten Babcott und Phillip mit einfachen Worten und Gesten, die sie vorher abgesprochen hatten, erklärten, die Untersuchung sei gut verlaufen und der taikō habe eine schlimme Hernie – einen Leistenbruch. Babcott könne helfen, den Schmerz zu lindern, und zwar mit einem Bruchband und Medikamenten, die in der Niederlassung hergestellt und dann gebracht werden sollten. Der taikō sei einverstanden gewesen, daß sie in einer Woche wiederkommen würden, um ihm das Bruchband anzupassen und die Ergebnisse der Untersuchungen mitzubringen. Inzwischen habe Babcott ihm Medizin gegeben, die ihm die größten Schmerzen nehmen und ihm helfen würde zu schlafen.
Yoshi runzelte die Stirn. »Ist diese ›Hernie‹ dauerhaft?«
»Doktor-sama sagen, daß…«
»Ich weiß, daß der Doktor durch Sie spricht, Taira«, versetzte Yoshi unwirsch, verärgert über das, was er gehört hatte, »übersetzen Sie einfach seine Worte.«
»Ja, Sire. Er sagt, der Schaden sei dauerhaft.«
›Dauerhaft‹ war ein neues Wort für Tyrer. »taikō Anjo brauchen… brauchen Medizin immer, um Schmerz zu töten, alle Zeit, Verzeihung, jede Tageszeit, und auch tragen jede Tageszeit dieses ›Bruchband‹.« Tyrer benutzte das englische Wort, zeigte mit den Händen den Gürtel und erklärte den Druckpunkt. »Doktor denken, taikō-sama gut, wenn hat Pflege. Nicht können… nicht können kämpfen, Schwert leicht gebrauchen.«
Yoshi grollte, denn die Ergebnisse waren nicht ermutigend. »Wie lange…« Er hielt inne und winkte seine Wachen hinaus. »Wartet draußen.« Abeh blieb. »Sie auch.« Widerwillig zog sein Hauptmann sich zurück und schloß die Tür. Yoshi sagte: »Die Wahrheit – wie lange wird er leben?«
»Das nur Gott sagen.«
»Ha, Götter! Wie lange glaubt der Doktor, daß der taikō leben wird?«
Babcott zögerte. Er hatte erwartet, der taikō werde ihm befehlen, nicht mit Yoshi zu sprechen, doch nachdem er ihm von der Hernie und der Medizin erzählt und ihm etwas von seiner Laudanum-Tinktur gegeben hatte, die den Schmerz fast sofort linderte, hatte der taikō gekichert und ihn ermuntert, ›die gute Nachricht‹ weiterzugeben. Doch die Hernie war nur ein Teil des Problems.
Seine umfassendere Diagnose, die er Anjo und auch Phillip Tyrer nicht mitgeteilt hatte, weil er mit seinem Urteil warten wollte, bis er eine Analyse der Urin- und Stuhlproben vorgenommen, sich mit Sir William besprochen und eine zweite Untersuchung durchgeführt hatte, war eine mögliche gefährliche Degeneration der Gedärme aus unbekannter Ursache.
Die körperliche Untersuchung hatte nur etwa eine Stunde gedauert, die verbale viele Stunden. Mit sechsundvierzig Jahren war Anjo in schlechter körperlicher Verfassung. Verfaulte Zähne, die früher oder später gewiß zu Problemen führen würden. Schlechte Reaktionen auf vorsichtige Untersuchung von Magen und anderen inneren Organen, offensichtliche innere Einschnürungen, stark vergrößerte Prostata.
Das größte diagnostische Problem waren seine und Phillips sprachliche Unzulänglichkeiten, denn der Patient war ungeduldig, vertraute ihm noch nicht und rückte nicht von sich aus mit Symptomen oder Hinweisen heraus. Eingehende Befragung war nötig gewesen, damit Babcott zu dem wahrscheinlichen Schluß gelangen konnte, daß der Mann Schwierigkeiten mit der Verdauung hatte, Probleme beim Wasserlassen und eine Unfähigkeit, Erektionen aufrechtzuerhalten – was ihm am meisten Sorgen zu machen schien –, obwohl Anjo die Achseln gezuckt hatte und keines der Symptome direkt zugeben wollte.
»Phillip, sagen Sie ihm, ich glaube, er hat etwa die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes in seinem Zustand und Alter.«
Tyrers Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, verstärkt durch sein verzweifeltes Bemühen, seine Sache gut zu machen. »Er leben ungefähr so lange wie Mann gleiches Alter.«
Yoshi dachte darüber nach. Auch er verstand die Schwierigkeiten, in einer fremden Sprache bei unzulänglicher Übersetzung heikle Angelegenheiten zu erkunden. Deshalb mußte er seine Fragen einfach formulieren. »Fragen Sie. Zwei Jahre, drei Jahre, ein Jahr?« Er beobachtete Babcott, nicht Tyrer, genau.
»Schwer sagen, Herr. In einer Woche vielleicht wissen besser.«
»Aber jetzt? Die Wahrheit. Eins, zwei oder drei, was denken Sie?«
Ehe er Kanagawa verließ, hatte Babcott erkannt, daß seine Funktion hier nicht nur die eines Arztes war. Sir William hatte gesagt: »Um es unverblümt auszudrücken, alter Knabe, wenn sich herausstellt, daß der Patient Anjo ist, dann sind Sie auch ein wichtiger Vertreter der Regierung Ihrer Majestät, meiner Person und der Niederlassung, und außerdem ein verdammter Spion… also, George, spucken Sie nicht auf diese goldene Gelegenheit…«
Für sich selbst war er zuerst und vor allem Arzt, der die Vertraulichkeit zwischen Arzt und Patient wahrte. Kein Zweifel, Yoshi war der Feind des Patienten, ein mächtiger Feind, aber auch ein potentiell mächtiger Freund für die Regierung Ihrer Majestät. Wog man beides ab, so war Yoshi auf lange Sicht wichtiger. Anjo hatte das Ultimatum gestellt, Yokohama zu evakuieren, er war der Anführer der Bakufu, der, falls Yoshi nicht durch eine Gewalttat zu Tode kam, sicherlich früher sterben würde als dieser. Wenn du gezwungen würdest, was würdest du antworten? fragte sich Babcott. Binnen eines Jahres. Statt dessen antwortete er: »Eins, zwei oder drei, Yoshi-sama? Wahrheit, bedaure, nicht jetzt wissen.«
»Könnte es mehr sein?«
»Bedaure, nicht möglich sagen jetzt.«
»Können Sie es nächste Woche sagen?«
»Vielleicht kann sagen nicht mehr als drei Jahre nächste Woche.«
»Vielleicht wissen Sie mehr, als Sie sagen, jetzt oder nächste Woche.«
Babcott lächelte nur mit den Lippen. »Phillip, sagen Sie ihm höflich, daß ich auf seine Einladung hier bin, als Gast. Als Arzt, nicht als Zauberer, und ich muß nicht in der nächsten oder irgendeiner Woche wiederkommen.«
»Verdammt, George«, murmelte Tyrer, der auf der Hut war. »Wir wollen keine Probleme, ich weiß nicht, was ›Zauberer‹ heißt, und ich will verdammt sein, wenn ich mit diesen Nuancen zurechtkomme. Um Gottes willen, drücken Sie sich einfach aus.«
»Was haben Sie gesagt, Taira?« fragte Yoshi scharf.
»Oh! Sire, daß… schwierig übersetzen Worte von hohen Führern, wenn… wenn viele Bedeutungen und nicht wissen… nicht wissen bestes Wort, bitte um Verzeihung.«
»Sie sollten eifriger studieren«, sagte Yoshi mürrisch, wütend, keinen eigenen Dolmetscher zu haben. »Sie machen Ihre Sache gut, aber nicht gut genug. Lernen Sie fleißiger! Es ist wichtig, daß Sie härter arbeiten! So, und nun: Was hat er gesagt, genau!«
Tyrer atmete tief ein. »Er sagen, er Arzt, nicht wie Gott, Yoshi-sama, nicht genau wissen über taikō. Er… er hier, weil Yoshi einladen. Tut mir leid, wenn nicht wollen kommen Edo, Doktor-sama nicht kommen Edo.« Er wand sich innerlich, als er sah, daß Yoshi genauso unaufrichtig lächelte wie Babcott eben und genau den Sinn verstanden hatte, und er verfluchte den Tag, an dem er beschlossen hatte, Dolmetscher zu werden. »Tut mir leid.«
»So ka!« Grimmig erwog Yoshi seinen nächsten Schritt. Der Arzt hatte sich als nützlich erwiesen, obwohl er Tatsachen vor ihm verbarg. Wenn dies der Fall war, schloß er, so waren die realen Fakten schlecht, nicht gut. Dieser Gedanke gefiel ihm. Ein zweiter Gedanke gefiel ihm ebenfalls. Er beruhte auf einer Idee, auf die ihn Misamoto, ohne es zu ahnen, vor Monaten gebracht hatte. Yoshi hatte sie sofort durch seinen Meisterspion, Inejin, für zukünftigen Gebrauch in die Praxis umgesetzt – eine Möglichkeit, die Barbaren zu kontrollieren, waren ihre Huren.
Inejin war fleißig gewesen wie immer. Yoshi wußte jetzt also eine Menge über die Yoshiwara der Gai-Jin, welche die beliebtesten Herbergen waren, über Raiko und die Hure dieses seltsamen und so häßlichen jungen Mannes Taira, die Alte mit den vielen Namen, die sich jetzt Fujiko nannte. Und über die seltsame Hure von Furansu-san. Der Gai-Jin Führer, Sir William, hatte keine spezielle Hure, Seratard benutzte sporadisch zwei. Nemi wurde als Gefährtin des obersten Gai-Jin-Händlers genannt und war eine besonders gute Informationsquelle. Der Doktor besuchte die Yoshiwara nicht. Warum? Meikin wird das herausfinden…
Ach, ja, Meikin, die Verräterin, du bist nicht vergessen!
»Sagen Sie dem Doktor, daß ich mich darauf freue, ihn nächste Woche zu sehen«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Und danken Sie ihm. Abeh!«
Binnen Sekunden war Abeh im Raum und kniete nieder. »Geleiten Sie sie nach Kanagawa. Nein, bringen Sie sie persönlich zu dem Gai-Jin-Führer in Yokohama, und bringen Sie auf dem Rückweg den Verräter Hiraga mit.«
»Hallo, Jamie! Zeit zum Lunch! Gestern abend hast du gesagt, ich sollte dich um ein Uhr abholen!« Maureen lächelte ihm durch die Tür seines Büros zu, hübsch gekleidet, die Wangen rosig von ihrem raschen Spaziergang vom Struan-Building über die Promenade. »Ein Uhr, sagtest du, zum Lunch in diesem Club von dir.«
»Bin gleich fertig, Kleines«, sagte er abwesend und beendete den Brief an seinen Bankier in Edinburgh über das gemeinsame Unternehmen mit dem Shoya. Tess Struans Sichtwechsel legte er zur Einzahlung bei. Irgendwie muß ich mit Nakama-Hiraga reden, sobald er gefunden wird, dachte er. Wo zum Teufel steckt er nur? Ich hoffe bei Gott, daß er nicht geflohen ist, wie alle denken. »Setz dich, Albert schließt sich uns an.« Er war so vertieft, daß er ihre Enttäuschung nicht bemerkte.
Das neue Büro befand sich im Gebäude des Guardian in der Nähe von Drunk Town in der High Street. Es war viel kleiner als das bei Struan’s, hatte aber einen schönen Blick auf die Bucht, und es war so wichtig, daß der Händler das Kommen und Gehen der Schiffe verfolgen konnte. Keine Möbel bis auf einen Schreibtisch, drei Stühle und ein halbes Dutzend Aktenschränke. Weißes Papier, Federn und neue Hauptbücher, die er stibitzt hatte, bis seine Bestellung aus Hongkong ankam, waren überall verteilt. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich weitere Papiere, Briefe, Bestellungen und ein großer Packen Werbebriefe, in denen der Start seiner neuen Firma verkündet und um Geschäftsverbindungen geworben wurde. Alles mußte für das Ablegen der Prancing Cloud bereitgemacht werden. »Hast du gut geschlafen?«
Er versiegelte den Brief. Ihr »Ja, danke, und du?« vernahm er kaum. Er nahm eines der Werbeschreiben zur Hand, das von zwei fleißigen portugiesischen Angestellten in ihrem Büro am anderen Ende des Ganges kopiert wurde. MacStruan hatte sie ihm ausgeliehen, bis er dauerhafte Vereinbarungen treffen konnte. »Albert ist ein netter Kerl, nicht wahr? Ich habe gesagt, wir würden vielleicht zu spät kommen«, bemerkte er zerstreut. Wenn es an ihm gelegen hätte, hätte er das Essen im Club geschwänzt und sich von einem der Angestellten ein Sandwich herrichten lassen oder ein chinesisches Gericht bestellt. Eine halbe Stunde später legte er den Federhalter aus der Hand. »Alles klar?« fragte er heiter.
»Aye.«
»Was ist los?« fragte er, als er ihren Ausdruck sah.
»Tja, Lieber, ich hatte gehofft, wir könnten beim Lunch allein sein, es gibt eine Menge zu bereden – gestern abend war dazu natürlich keine Zeit. Aber es war trotzdem eine reizende Gesellschaft, nicht wahr?«
»Ja, in der Tat. Die Kosakentänzer waren erstaunlich. Wir haben noch viel Zeit, um zu reden, tut mir leid, ich dachte nicht, daß es wichtig wäre.«
»Angélique war auch erstaunlich, aye, und viele von deinen Freunden. Marlowe und Settry!« Sie lachte unbeschwert.
Er entspannte sich, nahm seinen Hut und Mantel und öffnete die Tür. »Freut mich, daß es dir gefallen hat.«
»Du bist gestern nacht noch ausgegangen, nachdem wir uns verabschiedet hatten.«
Er konnte ein schuldbewußtes Erröten nicht vermeiden. »Ja, äh, ja, stimmt.«
»Ich habe an deine Tür geklopft, aber keine Antwort bekommen – ich wollte einfach reden, ich war nicht müde. Du sagtest, du wärst müde.«
»Ja, äh, das war ich auch, aber dann war ich es nicht mehr. Gehen wir?«
»Aye, ich bin hungrig.« Sie gingen auf die Promenade hinaus, wo nur wenige Menschen unterwegs waren. Das Wetter war nicht das beste, die See kabbelig und der Wind eisig kalt. »Nicht so schlimm wie Glasgow um diese Jahreszeit«, sagte sie scherzend und nahm seinen Arm.
»Das stimmt, aber die Kälte wird nicht anhalten, bald kommt die beste Zeit, Frühling und Herbst sind am schönsten.« Er atmete jetzt leichter, da sie das Thema hatte fallenlassen. »Frühjahr und Herbst sind am schönsten.«
»Bist du in die Yoshiwara gegangen?« fragte sie in scherzendem Ton.
Sein Herz setzte für mehrere Schläge aus, dann fielen ihm tausend Antworten ein, deren beste lautete: Wenn ich in die Yoshiwara gehen will, bei Gott, dann gehe ich, und wir sind nicht verheiratet, und selbst wenn ich… und ich habe dir gesagt, daß ich nicht heiraten möchte, zumindest noch nicht, nicht jetzt, wo das neue Geschäft eine Chance hat. Zuversichtlich öffnete er den Mund, um all das zu sagen, aber aus irgendeinem Grund kam seine Stimme erstickt und schwach heraus: »Ich, äh, ja, bin ich, aber d…«
»Hast du dich gut amüsiert?«
»Hör zu, Maureen, da ist eini…«
»Ich weiß Bescheid über die Yoshiwara, Lieber, und über die Männer«, sagte sie freundlich. »Hast du dich gut amüsiert?«
Er blieb stehen, erschüttert über die sanfte Stimme und ihr Verhalten. »Ich, ja, nun, ich glaube… aber siehst du, Maur…«
»Es ist zu kalt, um stehenzubleiben, Jamie, Lieber.« Freundschaftlich nahm sie wieder seinen Arm, zwang ihn zum Weitergehen und fuhr fort: »Gut, also hast du dich gut amüsiert. Warum hast du mir nichts gesagt? Warum hast du mir weisgemacht, du seist müde?«
»Nun ja, weil…« Wieder ein Dutzend Antworten, aber sein Mund brachte nur heraus: »Weil es auf der Hand liegt, um Gottes willen. Ich wollte nicht…« Er konnte nicht sagen: Ich wollte dich nicht verletzen, weil ich eine Verabredung hatte, Nemi sehen und doch nicht sehen wollte, vor allem nicht wollte, daß du von ihr erfährst, und tatsächlich habe ich mich überhaupt nicht amüsiert.
Als er ihr Häuschen betreten hatte, trug Nemi ihren besten Schlafkimono. Ihr kleines Heiligtum war unangetastet, Essen und Saké standen bereit, und sie hatte gelacht und war glücklich und vollkommen aufmerksam gewesen. »Heya, Jami-san, gut dich sehen, ah! Höre gute Nachricht von Schiff. Du heiraten Lady aus Schottland, heiraten, heya?«
Er war verblüfft gewesen, wie schnell die Nachricht sich verbreitet hatte. »Woher weißt du das?«
»Ganze Yoshiwara wissen!« hatte Nemi geplappert. »Zwei Tage ich kommen Großes Haus machen Kotau und treffen bald deine oku-san.«
»WIE BITTE?«
»Wichtig, Tami-san. Wann Heirat? Wichtig, für oku-san, neh, goh-san Freundin, neh?«
»Bist du verrückt?« war er herausgeplatzt.
Sie hatte ihn angestarrt, ohne zu verstehen. »Warum böse, Jami-san? Oku-san bezahlen jetzt Rechnung. Oku-san bezahlen, Jami-san, iyé! Wichtig oku-san, neh…«
»So geht das nicht, um Himmels willen.«
»Nicht verstehen… wichtig Nemi gehen oku-san…«
»Du bist verrückt!«
»Nicht verstehen«, hatte sie traurig gesagt, entsetzt über seine Feindseligkeit. Dann hatte sie beschlossen, daß Flucht die beste Verteidigung gegen dieses unglaubliche Benehmen war – aber natürlich unter Tränen.
Sie war gegangen, bevor er sie aufhalten konnte. Die Mama-san hatte sie nicht überreden können, zurückzukommen, und so war er wütend nach Hause gestapft, hatte sich zu Bett gelegt und schlecht geschlafen. Allmächtiger Gott, Nemi, die zu Struan’s kommt, um Maureen zu sehen? Maureen soll in Zukunft Nemi bezahlen? Wichtig, daß Geliebte und Ehefrau gute Freundinnen sind? Gott im Himmel! Ich muß das mißverstanden haben.
Nein, verdammt, hast du nicht. Verdammt, genau das hat sie gesagt.
Schließlich war er ins Büro gegangen. Vor der Morgendämmerung. Verdammter Mist, hatte er den ganzen Morgen gedacht, und nun hatte er zwei verdammte Frauen, mit denen er fertig werden mußte. »Schau, Maureen tut mir leid, daß ich gelogen habe«, sagte er lahm, »aber… nun ja, ich weiß nicht recht, was ich sonst noch sagen soll.«
»Mach dir nichts draus, solche Sachen passieren.« Sie lächelte.
»Wie? Du bist nicht sau… Verzeihung, du bist nicht böse?«
»Nein, Lieber, diesmal nicht«, sagte sie sehr liebevoll, »nicht, ehe wir einen kleinen Schwatz gehalten haben.«
In ihrer Stimme und ihrem Verhallen konnte er keine Drohung entdecken. Noch immer hielt sie zärtlich seinen Arm, aber in seinen Ohren schrillten Alarmglocken. Um Gottes willen, halt den Mund, sag nichts. »Einen kleinen Schwatz?« hörte er sich fragen.
»Aye.« Dann folgte eine betäubende Stille, obwohl der Wind mit Dachschindeln und Läden klapperte, die Kirchenglocken läuteten, Dampfsirenen aus dem Hafen ertönten und Hunde bellten.
Halt den Mund, mahnte er sich. »Aye? Was soll das bedeuten?«
Maureen tastete sich vorsichtig voran. Sie genoß den Vorgang des Lernens – und Lehrens. Dies war nur die erste in einer unendlichen Reihe von Konfrontationen.
»Alle Männer sind schrecklich, Maureen«, hatte ihre Mutter unter anderen Ratschlägen gesagt. »Einige sind schlimmer als andere, aber alle sind Lügner, nur – eine kluge Frau kann die Lügen ihres Mannes immer durchschauen. Am Anfang sind Ehemänner reizend und heben dich in den Himmel mit ihrer Wärme und Liebe und ihren albernen kleinen Nettigkeiten. Am Anfang. Dann kommen die Kinder, der Haushalt, meistens ohne genügend Geld. Inzwischen bist du soweit, daß du dich am liebsten gehenlassen würdest. Es ist schrecklich schwierig mit Kindern, mit dem Mangel an Schlaf, man ist todmüde, und bald dreht dir dein Mann im Bett den Rücken zu, beginnt zu schnarchen, aye, und das ist kein kleines Problem, wenn du nicht lernen kannst, deine Ohren fest zuzumachen. Dann gehen sie auf Abenteuer aus… aber mach dir nichts draus, das ist ein vorübergehendes Spiel und hält nicht an, und wenn du eine kluge Frau bist, kommt dein Mann immer zurück, du hast immer die Kinder, und du hast Gott. Denk daran, es ist nicht leicht, das tägliche Brot zu verdienen, und er sollte daran denken, daß es auch nicht leicht ist, Kinder großzuziehen und ein gemütliches Heim zu schaffen, aber daran denken sie nie. Dein Vater war auch nicht anders mit seinen Frauen oder seiner Frau in Indien, aber jetzt ist er zu Hause, und das Problem ist ein ganz anderes. Ich hätte wissen sollen, daß er schon mit seinem Regiment verheiratet war, als wir heirateten. Wenigstens ist dieser Jamie kein Soldat; es ist schrecklich schwer für eine Frau, damit zu konkurrieren.«
»Wie wird man eine kluge Ehefrau, Ma?«
»Ich wünschte, ich wüßte es, mein Mädchen, ich wünschte, aber ein paar Regeln stehen fest: Wähle deinen Mann klug aus. Es ist hilfreich, wenn man seine Zunge im Zaum halten kann. Ein guter, steifer Besen und ein wildes Temperament sind hilfreich, wenn sie klug eingesetzt werden, aber auch Verständnis und Vergebung und ein warmer, weicher Busen, an dem der arme kleine Kerl sich ausweinen kann…«
»Kleiner Schwatz?« hörte sie Jamie noch einmal mit erstickender Stimme sagen, und sie hätte beinahe laut gelacht. Ihr Lächeln blieb nachsichtig; den Besenstiel und den Wutanfall hielt sie für alle Fälle bereit. »Ich habe auf dem Schiff von der Yoshiwara erfahren.« Sie ließ diese Feststellung in der Luft hängen, und er schnappte nach dem Köder.
»Hat Gornt dir davon erzählt? Oder Hoag? War er es? Dieser Idiot.«
»Nein, es war dein feiner Captain Strongbow – und Dr. Hoag ist kein Idiot, mein Lieber. Ich fragte Strongbow, wie ihr alle es schaffen würdet, ohne weibliche Freunde nicht verrückt zu werden, und ob es genauso sei wie in Indien oder China.« Sie lachte bei der Erinnerung daran, wie schwer es gewesen war, ihn zu offenen Äußerungen zu bewegen. Whisky ist wunderbar, dachte sie und segnete ihren Vater, daß er ihr beigebracht hatte zu trinken, wenn es nötig war. »Ich glaube, eure Yoshiwara ist eine sehr vernünftige Einrichtung.«
Beinahe hätte er gesagt: Ach, wirklich? Doch diesmal sagte er nichts. Ihr Schweigen quälte ihn. Als sie bereit war, sagte sie: »Morgen ist Sonntag.«
Er war verwirrt über diesen plötzlichen Themenwechsel. »Ja, ich… ja, ich glaube, morgen ist Sonntag. Wieso?«
»Ich dachte, wir könnten heute nachmittag zu Reverend Tweet gehen, ich hoffe, er ist nicht so albern wie sein Name, und wir sollten ihn bitten, das Aufgebot zu veröffentlichen.«
Er blinzelte. »Was?«
»Aye, das Aufgebot, Jamie.« Sie lachte. »Du hast doch nicht vergessen, daß das Aufgebot an drei aufeinanderfolgenden Sonntagen verlesen werden muß, oder?«
»Nein, aber ich sagte dir doch, ich habe dir geschrieben, daß…«
»Das war, als ich dort war. Nun bin ich nicht mehr dort, sondern hier, und ich liebe dich«, sagte sie, blieb stehen, sah zu ihm auf und erkannte, daß er alles war, was sie sich im Leben wünschte, und auf einmal verlor sie ihre Kontrolle. »Jamie, Liebling, wir sind verlobt, und ich glaube, wir sollten heiraten, denn ich werde die beste Ehefrau werden, die ein Mann jemals hatte, das verspreche ich dir, ich verspreche es, und nicht bloß, weil ich hier bin; ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt, und jetzt ist die richtige Zeit zum Heiraten, ich weiß es, aber ich werde zurückkehren, nach Schottland, und niemals… wenn du willst, daß ich zurückfahre, werde ich es tun, mit dem nächsten Schiff, aber ich liebe dich, Jamie. Ich schwöre, ich werde fahren, wenn du das willst.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wischte sie weg. »Verzeihung, das ist bloß der Wind, Lieber.« Aber es war nicht der Wind, alle Verstellung verschwand, ihre Seele lag offen und nackt vor ihm. »Ich liebe dich einfach, Jamie…« Seine Arme legten sich um sie, und sie vergrub den Kopf an seiner Schulter. Sie sehnte sich verzweifelt nach seiner Liebe, und ihre Tränen flossen.
Als ihre Verzweiflung nachgelassen hatte, hörte sie ihn liebevolle Dinge sagen, vermischt mit dem Wind und der Gischt, daß er sie liebe und sie glücklich und nicht besorgt und traurig sehen wolle, aber heute nachmittag sei es zu früh. Er habe so viel für die Firma zu arbeiten, und es werde schwer sein, sie in Gang zu bringen und am Leben zu erhalten.
»Mach dir keine Sorgen über die Geschäfte der neuen Firma, Jamie, Mrs. Struan hat gesagt, sie würde…« Erschrocken hielt sie inne. Sie hatte es ihm nicht sagen wollen, aber nun war es zu spät, da seine Arme sich versteiften und er sie von sich weg hielt.
»Was hat sie gesagt?«
»Es spielt keine Rolle. Laß uns…«
»Was hat sie zu dir gesagt?« Sein Gesicht war grimmig, seine Augen durchdringend. »Hat sie dir gesagt, sie würde mir Geld schicken?«
»Nein, nein, das hat sie nicht, sie hat nur gesagt, daß du ein guter Händler bist und Erfolg haben wirst. Laß uns essen, ich bin am Verhung…«
»Was hat sie gesagt? Genau.«
»Ich hab’s dir doch gesagt. Nun laß uns ess…«
»Sag mir, was sie gesagt hat, bei Gott! Die Wahrheit. Sie hat mit dir über das Geld gesprochen, ja?«
»Nein, eigentlich nicht.« Sie wandte den Blick ab, wütend über sich selbst.
»Die Wahrheit!« Er hielt sie an den Schultern, »jetzt gleich!«
»Also gut.« Sie atmete tief ein und begann dann rasch zu sprechen. »Es war so, Jamie. Als ich zu Struan’s ging, in das Gebäude an der Promenade, um mich zu erkundigen, wo du bist, ob in Japan oder sonstwo, sagte man mir, ich solle warten, und dann schickte sie nach mir. Mrs. Struan ließ mich rufen, in das große Büro mit dem Blick über ganz Hongkong. Sie war so traurig und doch so stark, die arme Frau. Laß mich einen Augenblick.«
Wieder trocknete sie sich die Augen, nahm ein Taschentuch heraus, schneuzte sich, und da sie danach nicht wußte, was sie mit ihren Händen tun sollte, hakte sie sich bei ihm unter und schob eine Hand in seine Manteltasche. »Laß uns gehen, Jamie, im Gehen redet es sich leichter, es ist so kalt. Mrs. Struan bot mir Platz an und sagte mir, du seist entlassen. Ich fragte, warum, und sie sagte es mir, und ich antwortete, das sei nicht fair, es sei nicht dein Problem, daß ihr Sohn ein kleiner Teufel und wahnsinnig in eine Abenteurerin namens Angélique verliebt sei – ich verstehe nichts von Abenteurerinnen, aber nachdem ich Angélique gesehen habe, Jamie, kann ich verstehen, warum ihr Sohn oder jeder andere Mann sich in sie verliebte, und nachdem ich seine Mutter kennengelernt habe, begreife ich, wieso es Ärger zwischen ihnen gab…«
Ein Windstoß zerrte an ihren Hüten, und sie hielten sie fest. »Wir… wir hatten einen Streit«, fuhr Maureen fort, »vergiß nicht, das war Tage, bevor wir von seinem Tod erfuhren. Es war ein schrecklicher Streit, Jamie. Ich fürchte, ich habe die Beherrschung verloren, du hättest dich meiner geschämt, und ich habe ein paar schreckliche Ausdrücke meines Vaters gebraucht.«
Er blieb stehen und starrte sie mit offenem Mund an. »Du hattest einen Streit mit Tess?«
»Aye, nie in meinem Leben war ich so böse, nicht einmal insgeheim zu meinen Schwestern und meinem Bruder. Ich war nicht sonderlich tapfer, aber ihre Unfairneß machte mich wütend, und ich habe kein Blatt vor den Mund genommen und ihr…« Maureens Gutartigkeit und ihr Sinn für Humor kehrten zurück, und sie lachte nervös. »Tja, es war ein richtiger Glasgower Krach, wie zwei Fischweiber im Hafen, die sich fast die Haare ausreißen. Einmal kam jemand herein, und sie warf ihn hinaus… ›Also, Miß Ross‹, sagte sie mit verkniffenen Lippen, während wir beide keuchten und uns alles andere als wohlgesonnen waren, ›was soll ich denn tun?‹ ›Tun?‹ fragte ich. ›Zuerst geben Sie Mr. McFay eine nette Abfindung, die er sich im Laufe seiner Jahre in Ihren Diensten ein Dutzend Male verdient hat, und Sie geben ihm Aufträge, um seine Firma zu starten, und Sie schreiben ihm einen freundlichen Brief.‹«
»Das hast du gesagt? Zu Tess?«
»Aye, hab ich.« Sie sah und hörte seinen Unglauben und verwahrte sich sofort dagegen. »Ich schwöre bei Gott, das ist die Wahrheit, Jamie, ich schwöre es. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber du hast darauf bestanden, und ich wollte nicht lügen. Beim Allmächtigen, ich schwöre, es ist die Wahrheit.«
»Ja, tut mir leid. Bitte sprich weiter.«
»Es braucht dir nicht leid zu tun, Lieber, damals glaubte ich es selbst kaum. Nachdem ich meinen Standpunkt vertreten hatte, alles andere als freundlich, hat Mrs. Struan gelacht, sie hat gelacht und gesagt, ich soll mich setzen. Sie sei einverstanden, aber nicht mit dem freundlichen Brief. ›Das reicht nicht‹, sagte ich. Ich habe sie gefragt, was eine faire Belohnung sei. Ihr Lächeln verschwand, und sie sagte: ›Tausend Guineas.‹ Sie spie es förmlich aus, genau wie Dad, wenn er wütend ist. ›Unsinn‹, sagte ich. ›Zehntausend.‹«
Maureen hielt inne und sah ihn forschend an. »Ich mußte mich mit fünftausend zufriedengeben. War das in Ordnung? Ich wußte nicht, ob es genug ist.«
»Du gabst dich zufrieden? Du gabst dich mit fünf zufrieden?«
»Aye. Es kostete Zeit und weitere Flüche… an dem Abend habe ich Gott wegen der Flüche und weiterer Ausdrücke von meinem Dad um Verzeihung gebeten. Ich hoffe, es war fair, Jamie, zusammen mit zusätzlichen Aufträgen… Und sie war einverstanden, dir nicht zu schaden, dich als Geschäftsfreund zu behandeln, ich hielt das für wichtig. Nachdem sie eingewilligt hatte, bot sie mir mit ihrem eisigen Lächeln freie Überfahrt an und sagte, ich solle zu Mr. McFay fahren, mit ihren besten Empfehlungen.« Maureen schaute einen Augenblick auf die Gischt und sammelte ihre Gedanken. Noch ein leichtes Achselzucken, dann blickte sie arglos zu ihm auf. »So ist es gewesen, aber es war für dich, nicht für mich oder für uns, nur für dich. Ich wollte es eigentlich nicht erwähnen.«
»Jamie! Miß Ross!« Lunkchurch war aus seinem Büro gestürmt und stand bei ihnen, ehe sie sich versahen. Er begrüßte sie überschwenglich, erstickte Maureen beinahe mit seinem Whiskyatem, lud sie für den Abend zum Dinner ein und stürmte wieder davon.
»Er ist immer schon um zwei Uhr betrunken, aber er ist in Ordnung«, sagte Jamie. »Er wird sich weder an die Einladung noch an unsere Ablehnung erinnern.« Nun nahm er ihre Hand und schob sie in seine Tasche, um sie zu wärmen. »Maureen, ich glau…«
»Bevor du etwas sagst, laß mich zu Ende erzählen. Ich wollte dir nichts von ihr und mir erzählen, es ist mir einfach so rausgerutscht. Es tut mir schrecklich leid, ich schwöre bei Gott, ich wollte es dir nicht sagen, das ist die Wahrheit, nicht, wenn wir ernsthaft reden, über… über uns reden, über dich und mich. Bitte, glaub mir, bei Gott, das ist die Wahrheit.«
»Ich glaube dir ja, keine Sorge deswegen, und Tess hat mir geschrieben, sie hat ihr Wort gehalten und mir das Geld geschickt, mehr, als ich in meinem ganzen Leben hatte, genug, um einen Anfang zu machen, und all das deinetwegen.«
Sie vergoß Tränen der Reue. »Nicht meinetwegen, Jamie, man hatte dir Unrecht getan, und Mrs. Struan war dir das schuldig – ich hätte es dir nicht erzählt, aber du… du wolltest es ja. Und du hattest recht, ärgerlich zu sein, ich hätte das nicht sagen sollen mit heute nachmittag, bitte verzeih mir, es war nur… du hattest recht, heute nachmittag ist zu früh. Können wir warten, Jamie? Bitte. Können wir vielleicht eine Woche warten, oder zwei, oder einen Monat, und sehen, ob du mich magst? Bitte?«
»Jetzt hör zu«, sagte Jamie und drückte ihre Hand. »Ich habe dich zu gern, und nein, ich will nicht, daß du fährst, und ja, wir werden ein Weilchen warten, und nein, ich bin nicht wütend, und ja, ich glaube dir und danke dir von ganzem Herzen, und nein, du hattest nicht unrecht, den Vorschlag zu machen. Denken wir darüber nach und sprechen wir beim Abendessen darüber, Fünkchen, nur du und ich, ja?«
Ehe sie wußte, was sie tat, reckte sie sich hoch und küßte ihn dankbar. Daß er ihren Kosenamen benutzt hatte, war für sie ein gutes Vorzeichen. Ihre Hand faßte nach seiner, und sie schob sie wieder in seine Tasche. »Du bist lieb, Jamie, das ist die Wahrheit, und ich liebe dich, und…« Beinahe hätte sie gesagt: Und du brauchst das erst zu sagen, wenn du bereit bist. Aber sie wich vor dieser Klippe zurück. »Du bist ein lieber Kerl.«
»Und du ein liebes Mädchen«, sagte er lächelnd. Er fühlte sich ihr gegenüber ruhiger als seit Jahren, Schmerz und Schuldgefühle waren verschwunden. Wie wäre es mit einer Heirat? Das fragte er sich zum erstenmal ohne Schauder. Ein Mann muß unbedingt heiraten und Kinder haben, zur richtigen Zeit. Ich bin nicht gegen die Ehe, ganz und gar nicht. Wann? Wenn das Geschäft läuft und wir Gewinn machen? Sie ist großartig, klug, sieht gut aus, kommt aus guter Familie, ist geduldig und treu und liebt mich. Unglaublich, daß sie sich gegen Tess behauptet und getan hat, was sie getan hat. Das zeigt, wie schlau sie ist. Es könnte klappen. Liebe ich sie? Ich mag sie schrecklich gern…
Ich bin neununddreißig. Ich bin gesund und sollte verheiratet sein – ich hätte schon längst heiraten sollen. Sie ist achtundzwanzig und weiß, was sie will. Und zweifellos sprüht sie Funken…
Marlowe und Pallidar haben das gestern abend auch gemerkt, nur allzu sehr! Dieser geile Bastard Settry wollte sie gar nicht mehr in Ruhe lassen. Nicht, daß es mir etwas ausmacht… ein Kopfnicken, und meine Kleine kam angelaufen. Er drückte ihren Arm, weil ihm das gefiel.
»Was?«
»Nichts. Ich bin froh, daß die Gesellschaft dir gestern abend gefallen hat«, sagte er, aber er dachte: In drei oder vier Monaten, das hat keine Eile. Es ist keine schlechte Idee. »Da sind wir.«
Sie betraten den Vorhof des Clubhauses, wo sich MacStruan unterhielt. Er sah sie kommen, und Dimitri winkte fröhlich. Plötzlich wurde Jamie wieder eiskalt. Nemi! Wenn Nemi das herausbekommt…
Allmächtiger Gott, dachte er entsetzt, wie zum Teufel werde ich mit Nemi, der Yoshiwara und Fünkchen fertig? Das ist unmöglich. Aber es muß sein. Was hat sie über die Yoshiwara gesagt? Sie war diesmal nicht sauer… ›nicht, ehe wir einen kleinen Schwatz gehalten haben‹. Schwatz?
»Ist dir kalt, Jamie, Liebling?«
»Nein, nein, alles in Ordnung.«
»Phillip, sagen Sie Hauptmann Abeh noch einmal, es tut mir leid, aber Hiraga ist im Augenblick nicht zu finden.« Sir William stand mit dem Rücken zum Kamin in einem der Empfangsräume der Gesandtschaft. Tyrer, Babcott und Abeh waren soeben aus Edo eingetroffen. Es dämmerte schon. »Wir suchen noch immer überall. Und, Phillip, verkneifen Sie sich diesen selbstgefälligen Gesichtsausdruck, oder wollen Sie ihn wirklich reizen?«
Abeh war wütend, Sir William ebenfalls. Er hatte getan, was er konnte, die Niederlassung war durchkämmt worden, und zweimal hatten Soldaten Drunk Town und das Dorf durchsucht. Mit der Yoshiwara war das schwieriger. Waffen waren nicht erlaubt, der Zugang zu den Herbergen war nur mit Gewaltanwendung möglich, ein schrecklicher Gedanke, der internationale Verwicklungen nach sich ziehen würde. Wenn er es tat, würden die Samurai an den Toren dasselbe Recht für sich verlangen. Bei der Gründung der Niederlassung war vereinbart worden, daß die Yoshiwara unbeeinträchtigt ihre Dienste leisten durfte, solange es nicht zu Aufständen kam.
»Er sagt, er kann ohne Hiraga nicht zurückgehen, und Hiraga sei Herrn Yoshi für heute versprochen worden.«
Sir William unterdrückte einen Fluch und sagte liebenswürdig: »Bitten Sie ihn zu warten. Im Wachhaus. Gewiß wird Hiraga bald gefunden werden, wenn er noch hier ist.«
»Er sagt: Noch hier? Wenn nicht hier, wo ist er dann?«
»Wenn ich das wüßte, würde ich ihn gewiß für Herrn Yoshi holen. Vielleicht ist er geflohen, nach Edo oder Kanagawa oder anderswohin.« Selbst Sir William war schockiert über die blanke Wut in Abehs Gesicht, der auf japanisch verächtlich etwas sagte und davonstampfte.
»Grobian!«
»Er sagte, wir sollten Hiraga besser finden, Sir William.« Tyrer rieb sich das unrasierte Gesicht, fühlte sich schmutzig und sehnte sich vor dem Treffen mit Fujiko nach einem Bad, einer Massage und einer Siesta. Seine Erschöpfung hatte sich bei der frohen Nachricht, daß Hiraga nicht eingesperrt und in Eisen war, sofort gelegt. »Abeh ist zu bedauern, Sir. Er kann nicht zurückgehen ohne Nak… ohne Hiraga, wenn ihm sein Leben lieb ist.«
»Nun, das ist sein Problem. Phillip, haben Sie irgendeine Idee, wo Nakama sein könnte?«
»Nein, Sir, wenn er nicht im Dorf oder in der Yoshiwara ist.«
»Sie könnten versuchen, das festzustellen, weil es natürlich wichtig ist. Noch wichtiger aber ist, wer der Patient war, George. War es Anjo?«
»Ja.«
»Hurra! Phillip, Sie sehen erschöpft aus. Sie brauchen nicht zu warten, wir können später reden. George kann mir alles berichten. Wenn Nakama-Hiraga auftaucht, dann lassen Sie ihn sofort in Eisen legen. Hören Sie: Sofort!«
»Ja, Sir, danke, Sir. Bevor ich gehe, darf ich fragen, was in Hongkong passiert ist?« Als sie sahen, daß die Prancing Cloud zurückgekehrt war, hatten die beiden sofort danach gefragt, aber Sir William hatte sich zuerst mit Hauptmann Abeh befassen wollen.
»In Hongkong ist alles ruhig, und hier auch. Gott sei Dank.« Er erzählte ihnen von der Bestattung und von Hoags Rückkehr. »Eigentlich sollte sein Besuch hier vertraulich sein, aber sie kennen ja die Niederlassung. Nun wird gewartet, wie Hoag sagt, aber sie kann auch nicht viel anderes tun. Entweder ist sie schwanger oder nicht.«
Babcott sagte: »Wenn sie es nicht ist, wird sie es in ein paar Tagen wissen. Und wir auch.«
»Großer Gott«, murmelte Tyrer. »Was passiert, wenn sie schwanger ist?«
Sir William zuckte die Achseln. »Wir müssen abwarten. Nun gehen Sie, Phillip. Whisky oder Brandy, George? Macht es Ihnen etwas aus, mir jetzt zu berichten – sind Sie nicht zu müde?«
»Nein.« Die beiden Männer waren nun allein. »Brandy, bitte. Edo war sehr interessant, William.«
»Zum Wohl! Und?«
»Zum Wohl! Bevor ich von Edo berichte – wissen wir mehr über Hongkong?«
Sir William lächelte. Die Männer waren alte Freunde, und Babcott war stellvertretender Gesandter. »Es lief perfekt. Tess hat mir vertraulich geschrieben, um mir zu danken. Das meiste kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Hoag hat drei Briefe für Angélique mitgebracht, was sie übrigens nicht weiß. Einen hat Hoag ihr sofort gegeben und mir berichtet, sie habe darauf keine erkennbare Reaktion gezeigt, keinen Hinweis. Er nahm an, daß sie in dem Brief nur aufgefordert wurde zu warten. Mir gegenüber hat Tess den Inhalt dieses Briefes bestätigt; sie hat eine Ruhepause vorgeschlagen, bis feststeht, ob Angélique schwanger ist oder nicht. Wenn Angélique ihre Periode bekommt, gibt er ihr einen Brief, wenn nicht, wartet er noch einen Monat ab, um sicher zu sein, und gibt ihr dann den anderen Brief. Hoag hat geschworen, er kenne den Inhalt nicht; Tess hat in ihrem Brief an mich auch nichts darüber verraten.«
Mit angespannter Miene trank er seinen Whisky. »Ich fürchte allerdings, daß es in ihrem Brief einen Hinweis darauf gibt, wie Tess denkt. Die Anwälte von Struan’s entwerfen einen Schriftsatz, um vor Gericht die ›lächerliche Zeremonie‹ – sie schreibt das in Großbuchstaben – annullieren zu lassen, ob schwanger oder nicht, und jedes Testament anzufechten, das möglicherweise hier oder in Japan gefunden wird.«
»Mein Gott! Arme Angélique… wie schrecklich!«
»Und deutlich, kann man wohl sagen. Mein Brief, in dem ich um Nachsicht bat, hat nichts bewirkt. Beschissen, eh?« Sir William stapfte zu seinem Schreibtisch und nahm eine Depesche heraus. »Darüber wollte ich eigentlich reden – natürlich streng vertraulich.«
Babcott drehte das Licht der Öllampe höher, denn das Tageslicht schwand rasch. Der Brief war vom Gouverneur von Hongkong.
Mein lieber Sir William,
danke für Ihre Depesche vom 13. Ich fürchte, es
ist im Augenblick nicht möglich, zusätzliche Truppen zu schicken.
Ich hörte soeben aus London, daß alle Truppen anderswo benötigt
werden, daß Budgeterwägungen es verbieten, in Indien oder anderswo
neue Kräfte auszuheben; Sie werden also mit dem auskommen müssen,
was Sie haben. Ich überlasse Ihnen jedoch vorübergehend eine
weitere Segelfregatte mit zwanzig Kanonen, die H.M.S. Avenger.
Seien Sie versichert, wenn es zu einem größeren
Angriff auf Yokohama kommt, wird die Strafe dafür zu gegebener Zeit
erfolgen.
London befahl mir, Ihnen folgende Direktiven mitzuteilen: Sie sollen auf der verlangten Entschädigung und der Auslieferung der Mörder bestehen. Sie sollen den verantwortlichen Tyrannen, Sanjiro von Satsuma, bestrafen und zur Räson bringen. Weiter soll ich Sie darauf hinweisen, daß die Navy- und Army-Streitkräfte, über die Sie gegenwärtig verfügen, für mehr als ausreichend erachtet werden, um mit einem unbedeutenden Fürsten fertig zu werden.
Babcott stieß einen leisen Pfiff aus. Nach einer Weile sagte er: »Eine Horde von Idioten, der ganze verdammte Verein.«
Sir William lachte. »Das habe ich auch gedacht. Aber nachdem wir uns darüber einig sind: Was denken Sie?«
»Sofortiges vorsichtiges Befolgen? Das heißt gar nichts.«
»Diplomatisches Gerede; sie wollen sich natürlich bedeckt halten.«
»Wir haben die Entschädigung, wir…«
»Das Silber wurde in Sanjiros Namen vorgestreckt. Es war eine Anleihe, keine Bezahlung durch die schuldige Partei.«
»Richtig. Und wahrscheinlich sind beide Mörder tot.«
»Ja, durch Zufall, nicht mit hundertprozentiger Sicherheit und nicht als Strafe für das Verbrechen.«
»Gewiß, ja. Wir…« Babcott sah Sir William an und seufzte. »Was meinen Sie? Unter uns, ich glaube, Sie haben bereits beschlossen, eine Strafaktion gegen Sanjiro durchzuführen, vermutlich in Kagoshima, vor allem, da Yoshi dies stillschweigend gebilligt hat.«
»Möglicherweise gebilligt. Reichen die Depesche und meine Antworten aus, Ketterer zu überzeugen, daß ein Schlag genehmigt ist?«
»Zweifellos, man hat Ihnen Direktiven gegeben. Die Depesche verpflichtet Sie eindeutig dazu, so dumm das auch ist und so sehr ich es auch mißbillige.«
»Weil Sie Arzt sind?«
»Ja.«
»Wenn Sie jemals die Verantwortung übernehmen müssen, George, dann hoffe ich, daß Sie das vergessen werden.«
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, William. Aber bis dahin: Vertraue nicht auf Fürsten, Bürokraten oder Generäle, denn sie werden für zweckdienliches Vorgehen plädieren, während sie aus sicherer Entfernung dein Blut vergießen.« Er hob sein Glas. »Auf London. Gott, bin ich müde.«
»Denken Sie daran, daß Machiavelli auch gesagt hat: Die Sicherheit des Staates ist die vorrangige Pflicht des Herrschers oder eine ähnliche Platitüde.« Er kniff die Augen zusammen. »Und nun zu Anjo.«
Babcott berichtete. Auf Sir Williams Frage stellte er die Diagnose, zu der er gelangt war. »Sechs Monate. Ein Jahr, nicht mehr, je nach meinen Untersuchungsergebnissen.«
»Interessant.« Sir William dachte lange und eingehend nach. Draußen war es dunkel geworden, und die Flotte bereitete sich auf die Nacht vor. Schließlich stand Sir William auf, schloß die Vorhänge gegen die Zugluft, ging zum Feuer und fachte es an. »Wenn wir das für den Augenblick beiseite stellen, so neige ich dazu, sofortige Flottenpräsenz vor Kagoshima und die sofortige Beschießung zu befehlen, wenn Sanjiro uns keine Genugtuung gibt – sowohl zum Nutzen von Yoshi, Anjo und seinem Ältestenrat als auch dieses Lumpen Sanjiro wegen, aber vor allem für Yoshi.«
»Wenn Sie die Flotte dorthinschicken, ist die Niederlassung ungeschützt. Was ist mit den Berichten, daß wir in aller Heimlichkeit von Samurai eingekreist werden – wir haben in der Gegend der Tokaidō viele gesehen.«
»Das ist das Risiko.«
Babcott erwiderte Sir Williams Blick unbewegt und schwieg. Die Entscheidung lag nicht bei ihm. Er würde wie alle anderen gehorchen und darauf bestehen, an der Expedition teilzunehmen. Er stand auf. »Ich denke, ich werde vor dem Dinner ein Nickerchen machen, ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen. Übrigens, Phillip hat seine Sache großartig gemacht. Ich fange später mit meinen Untersuchungen an und lasse Sie wissen, was dabei herauskommt.«
»Möchten Sie einen späten Imbiß einnehmen? Neun Uhr? Gut, und danke für Anjo, das ist sehr wichtig. Und es macht Yoshi noch wichtiger. Wenn man ihm vertrauen kann. Wenn.«
»In diesem Land ist das ein großes Problem.« Dann, noch immer bestürzt über Tess’ Einstellung, sagte Babcott: »Gemein, daß sie vor Gericht gehen will. Das wird schwierig für Angélique, und es ist verdammt unfair, nicht?«
»War das Leben jemals sehr fair, alter Knabe?«
Zur Dinnerzeit klopfte Angélique, zum Ausgehen gekleidet, an die Bürotür des Tai-Pan. »Albert?«
»Kommen Sie herein! Ach, was für ein hübscher Hut.« Es war ein eleganter Abendhut, passend zur Trauerkleidung.
»Danke. Noch so spät an der Arbeit?«
»Das gehört zu meinen Aufgaben.« Wie alle anderen fragte er sich, was in dem Brief stand, den Tess ihr geschrieben hatte. In der Niederlassung gingen wilde Gerüchte um, von Tess’ Befehl an Angélique, Asien zu verlassen, bis zu einer Mordanklage. Ihr Gesicht verriet nichts außer einer kleidsamen Melancholie.
In dem an ihn selbst gerichteten Brief hatte Tess ihn gewarnt, er solle vorsichtig mit Verträgen über Waffen sein und sie, falls sie ihm vorgeschlagen würden, höchst vertraulich behandeln. Und McFay einschalten, falls das nötig sein sollte.
Ich habe ihn gebeten, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Natürlich wird sein Hauptinteresse die Förderung seines eigenen Geschäfts sein, aber behandeln Sie ihn als Freund. Jetzt, da Mr. Edward Gornt die Kontrolle von Brock’s in Japan übernommen hat, ist er unser Feind – hüten Sie sich vor ihm, er ist gerissener, als wir angenommen hatten. Was die andere Person betrifft, so hat Dr. Hoag sich bereit erklärt, mich zu unterstützen. Ich höre, daß sie noch immer Räume in unserem Haus bewohnt, die mein Sohn ihr gewährt hat. Sie werden später über neue Arrangements unterrichtet werden.
»Wo dinieren Sie? In der französischen Gesandtschaft?« fragte er.
»Ich habe eingewilligt, nebenan mit Mr. Gornt zu speisen.« Sie sah, wie sein Gesicht sich verhärtete. »Es war eine Einladung in letzter Minute, zusammen mit gemeinsamen Freunden, Dimitri und Marlowe. Er bat mich, Sie einzuladen, sich uns anzuschließen und mich zu begleiten, wenn es Ihnen recht ist – sind Sie frei?«
»Tut mir leid, ich kann nicht; ich begleite Sie gern bis dorthin, aber das ist Brock and Sons, er ist der Chef, und wir sind das Noble House.«
»Sie sollten Freunde sein; Sie könnten ja trotzdem Konkurrenten bleiben. Er war tatsächlich mit meinem Mann, mit mir und mit Jamie befreundet.«
»Tut mir leid, aber das ist mein Problem, nicht Ihres.« Er lächelte wieder. »Kommen Sie.« Er nahm ihren Arm, ohne sich die Mühe zu machen, einen Mantel anzuziehen, und sie traten in die Kälte hinaus.
»Guten Abend, Ma’am.« Der Wachmann vor Brock’s verbeugte sich.
»Guten Abend. Danke, Albert. Sie brauchen mich nicht abzuholen, einer von den anderen wird mich nach Hause begleiten. Und nun gehen Sie. Sie werden sich sonst erkälten.« Er lachte und ging. Im selben Moment erschien Gornt, um sie zu begrüßen.
»Abend, Ma’am. Meine Güte, Sie sehen hinreißend aus.«
Während er ihr den Umhang abnahm, wallten ihre Ängste wieder auf. Welche Trümpfe? Aus einem der inneren Räume ertönte Gelächter. Sie erkannte Marlowe, sah, daß der Wachmann gegangen und keine Dienstboten in der Nähe waren; sie waren für einen Augenblick allein: »Edward«, flüsterte sie, und ihre Besorgnis siegte über ihre Vorsicht, »wieso sind Sie so sicher, daß alles gut werden wird?«
»Tess hat mich eingeladen zurückzukommen. Keine Sorge, alles ist unter Kontrolle. Wir unterhalten uns besser morgen bei Ihrem Spaziergang – der heutige Abend eignet sich nur für eine nette Unterhaltung unter Freunden, zum Vergnügen. Ich fühle mich wirklich geehrt, daß Sie meine Einladung angenommen haben – Ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich hier der Chef bin.« Gornt nahm ihren Arm und sagte mit normaler Stimme: »Willkommen bei Brock and Sons, Angélique. Wollen wir hineingehen?«
Der Speisesaal war ebenso groß wie der von Struan’s, das Silber genauso gut; der Wein war besser und die Tafeltücher kostbarer. Livrierte chinesische Diener. Marlowe, Pallidar und Dimitri standen vor einem lodernden Feuer und warteten darauf, sie zu begrüßen. Sie küßten ihr die Hand und bewunderten ihren Hut, den sie aufbehalten hatte, wie es üblich war; Marlowe und Pallidar trugen ihre inoffiziellen Uniformen. Während sie die Anwesenden begrüßte und ihnen ruhig zuhörte, dachte sie über Gornt nach, über das, was er gesagt hatte, und über das, was fehlte.
»Wollen wir jetzt Platz nehmen, nachdem unser geehrter Gast uns die Freude seines Erscheinens gemacht hat?« Gornt führte sie zu einem Ende des Tisches und setzte sich selbst an das andere. »Ein Toast!« sagte er und hob sein Champagnerglas. »Auf die Dame!« Sie tranken, und er ließ sie nicht aus den Augen. Es war eine diskrete Einladung. Sie lächelte zurück und ließ weder Ja noch Nein erkennen.
Reichlich Zeit, dachte er, entzückt, der Gastgeber zu sein, und noch mehr von sich selbst entzückt. So vieles war noch zu erzählen. Vielleicht das Beste. Aber nicht für sie.
Am letzten Tag in Hongkong hatte Tess Struan noch einmal nach ihm geschickt, heimlich. »Ich habe alle Papiere durchgesehen, Mr. Gornt. Es ist nicht absolut sicher, daß die Unterstützung, die die Papiere für Ihren Plan bedeuten, den Zusammenbruch von Brock’s herbeiführen wird.«
»Doch, ich glaube, das wird sie tun, Ma’am«, widersprach er beeindruckt von ihrem Gespür für Geschäfte. »Ich glaube wirklich, daß Sie alles haben, was nötig ist, um die Büchse der Pandora zu öffnen.« Das war der Codename, auf den sie sich geeinigt hatten. »Es gibt ein letztes Stückchen des Puzzles, das das Bild vervollständigen und den Erfolg garantieren würde.«
»Und was ist das?«
»Norberts offizieller Chop. Er liegt in seinem Tresor in Yokohama.«
Sie hatte geseufzt und sich in dem geschnitzten Lehnstuhl zurückgelehnt. Keiner von beiden brauchte zu erwähnen, daß dieser Chop, korrekt angebracht und zur Bestätigung datiert, Brock’s in Yokohama auf alles verpflichtete, was auf dem entsprechenden Papier stand.
Unnötig zu sagen, daß alle möglichen belastenden Informationen jetzt niedergeschrieben, rückdatiert und dann aufgefunden oder heimlich in den Stapel geschoben werden konnten. Wer würde einen solchen Brief anfechten, nachdem Greyforth nun tot war?
Beide kannten den Wert des Chops.
Morgan und Tyler Brock hatten ganz auf diesen komplizierten, aber unglaublich einfallsreichen Plan gesetzt, den Zuckermarkt von Hawaii in die Hand zu bekommen – im Prinzip war er bereits in die Tat umgesetzt. Sie hatten die Zuckerernte im voraus gegen Baumwolle aus dem Süden eingetauscht, die sie legal an garantierte französische Interessenten vorverkauft hatten – historische Verbündete der USA und in diesem Falle aufgrund gewisser Kongreßhilfen und Sicherungen nicht der nördlichen Blockade unterworfen –, um sie danach legal von Frankreich nach Genua zu verschiffen und von da aus zu den Baumwollspinnereien in Lancashire, die fast kein Rohmaterial mehr besaßen und diese Lieferung dringend brauchten.
Ein ganz kleines Risiko: Wenn die Unionsregierung den endgültigen Bestimmungsort erfuhr – Großbritannien war offiziell neutral, die meisten Briten waren aktiv für die Konföderierten – und dies öffentlich bekannt wurde, würden sie mittels Abfangen den Export verhindern. Doch diese Gefahr war klein wegen der hochrangigen Billigung der französischen Verbindung, die sich durch Gornts Papiere erstmalig als Firmenmantel von Brock’s erwies: ein Eingreifen der Regierung war noch unwahrscheinlicher, weil ein beträchtlicher Anteil des Zuckers, der ebenfalls dringend benötigt wurde, gegen umgeleitete Unionswaffen eingetauscht werden sollte, die Brock’s unverzüglich nach Asien importieren würde. Die vorgesehenen Gewinne waren ungeheuer. Der Plan konnte unmöglich fehlschlagen, weil die Victoria Bank in Hongkong die Unterzeichnerin war.
Die Bank, die größte der Kolonie, hatte diese Unternehmung bereitwillig unterstützt, und zwar mit Zustimmung des zwölfköpfigen Aufsichtsrates, dem Tyler Brock angehörte; Anteile und Liquidität von Brock and Sons bildeten eine nominelle Nebenbürgschaft. Die Victoria war sozusagen die Hausbank von Brock’s. Der alte Brock war im Jahre 1843 einer ihrer Gründer gewesen und hatte die anderen Mitglieder gewählt – sämtliche Direktoren von Struan’s waren für immer aus dem Aufsichtsrat ausgeschlossen –, sich einen Anteil von vierzig Prozent vorbehalten und besaß die ständige Kontrolle von mindestens neun zu drei Stimmen. Während der Aufsichtsrat auf der internationalen Bühne Brock’s unterstützte, hatte er eingewilligt, Struan’s durch Wiederinbesitznahme all seiner am 30. Januar fälligen Schuldentitel zu vernichten – der Zeitplan und die fragwürdigen Methoden des heimlichen, langfristigen Erwerbs gingen ebenfalls aus Gornts Beweismaterial hervor.
Gornt hatte aufgeregt darauf hingewiesen, daß Brock and Sons zum erstenmal verwundbar waren – nie zuvor hatten sie die Kontrolle über ihre Firma als Nebenbürgschaft eingesetzt. Die Victoria Bank war der Schlüssel zur Büchse der Pandora. Der Aufsichtsrat war der Schlüssel zur Bank. Er mußte gestürzt und umgedreht werden, und am richtigen Tag mußte Tyler und Morgan die finanzielle Unterstützung entzogen werden, damit sie mittellos waren und nicht mehr über die notwendigen Gelder verfügten, um die Räder zu schmieren. Inzwischen mußten Beweise für den Plan und die Mitteilung, daß die Victoria Bank den Deal nicht länger unterstützte, auf schnellstem Wege per Clipper nach Washington in die richtigen Hände gebracht werden, die ein Eingreifen wahrscheinlich machten – ohne Rückendeckung der Bank gab es keinen Zucker, den man gegen Baumwolle oder Waffen eintauschen konnte. Doch dies mußte sofort geschehen, ehe die Kontrolle über die Stimmrechte der Bank neu hergestellt werden konnte.
Wie der Aufsichtsrat umgedreht werden konnte, war der entscheidende Angelpunkt von Gornts Plan.
Die Papiere enthüllten überaus peinliche Tatsachen über zwei Tyler freundlich gesinnte Aufsichtsratsmitglieder, die so schwerwiegend waren, daß ihre Stimmen demjenigen zufallen würden, der die entsprechenden Dokumente besaß. Damit stand es sieben zu fünf. Weitere Tatsachen über einen anderen Mann, weniger schädlich und fragwürdig, waren ebenfalls belegt. Möglicherweise lief es also auf sechs zu sechs hinaus.
Gornts Idee bestand darin, daß Tess vertraulich an den Aufsichtsratsvorsitzenden herantreten, ihm die Fakten mitteilen und ihm sagen sollte, Details des Planes seien bereits unterwegs nach Washington. Dann sollte sie den Vorschlag machen, Brock’s die Unterstützung zu entziehen, Struan’s einen sechsmonatigen Zahlungsaufschub zu gewähren, sofort die Kontrolle über Brock’s zu übernehmen und die Aktiva zu Sonderpreisen zu verkaufen, genug, um die Schulden zu decken, so daß Tyler und Morgan Brock in Zucker ertranken, den sie nicht bezahlen konnten. Schließlich sollte die Bank sich noch bereit erklären, Brock’s verpfändete vierzig Prozent an der Bank in vier Teile aufzuteilen, einen für den Aufsichtsratsvorsitzenden, einen für zwei Aufsichtsratstmitglieder seiner Wahl, einen für das Noble House.
»Als Gegenleistung für was? Warum sollte die Bank Tyler einen Strich durch die Rechnung machen?« hatte Tess gefragt.
»Nun«, hatte Gornt geantwortet, »weil sie dabei große Gewinne machen, der Vorsitzende und alle anderen, und weil sie Tyler eigentlich hassen und fürchten. Sie, Mrs. Struan, werden nicht gehaßt, Sie sind das Noble House und keine Bedrohung für sie. Haß, nicht Geld allein ist das Öl, das die Welt schmiert.«
»Da bin ich anderer Meinung, aber lassen wir das. Zurück zu diesem sagenhaften Chop. Was schlagen Sie vor, was damit geschehen soll?« Ihr Lächeln war zynisch gewesen. »Falls Sie ihn bekommen.«
»Was immer Sie wollen, Ma’am.«
»Vielleicht sollten Sie ihn mit der Prancing Cloud nach Hongkong bringen.«
»Nein, Verzeihung, das ist zu früh, es sei denn, Sie lassen die Cloud ein oder zwei Wochen irgendwo liegen. Ich werde ihn rechtzeitig bringen.«
»Warum warten? Schicken Sie ihn, Strongbow ist vertrauenswürdig.«
»Ich werde ihn rechtzeitig herbringen.« Er erinnerte sich, daß ihre Augen, meistens so farblos und scheinbar unschuldig, ihn durchbohrt hatten. »Ich verspreche es.«
»Lassen wir das für den Augenblick beiseite. Der Preis, Mr. Gornt?«
»Den würde ich Ihnen gern nennen, wenn ich zurückkomme, Ma’am.«
Sie hatte trocken gelacht. »Ich bin sicher, daß Sie das tun werden. Ich dachte, Sie kennen mich inzwischen gut genug, um keinen Versuch zu unternehmen, mich oder Struan’s zu erpressen. Sie könnten es aufschieben bis zum letzten Moment, bis ich mit dem Angriff auf Tyler und die Bank begonnen habe; Struan’s wäre dann schrecklich exponiert, und ich würde allem zustimmen müssen, was immer Sie auch verlangen.«
»Es muß auf beiden Seiten Vertrauen herrschen. Ich habe mich an meinen Teil des Vertrags gehalten und Ihnen die Beweise gegeben, die Sie brauchen, um Tyler Brock und Morgan zu vernichten; ich vertraue darauf, daß Sie sich auch an Ihren Teil halten, Ma’am. Ein kurzer Aufschub ist nicht zuviel verlangt, ich schwöre, ich werde rechtzeitig zurück sein. Was ich aus Yokohama mitbringe, ist der Zuckerguß auf dem Kuchen, und der Preis wird fair sein.«
»Ich habe Kuchen und Zuckerguß nie gemocht, Mr. Gornt – alle derartigen Vorlieben wurden mir von meinem Vater ausgeprügelt, der solche Verweichlichungen mißbilligte, als ich noch sehr jung war. Der Preis?«
»Ma’am, ich darf Ihnen versichern, daß es ein Preis sein wird, den Sie gern bezahlen werden, bei meiner Ehre und meinem Wort als Gentleman.«
Sie hatte ihn angesehen. »Mr. Gornt, ich darf Ihnen meinerseits versichern, daß Sie, wenn Sie mich betrügen, ein überaus unglücklicher Mann und darüber hinaus Persona non grata in Asien und im ganzen Empire sein werden – bei meiner Ehre und meinen Wort als Tai-Pan des Noble House…«
Gornt wurde kalt, als er sich daran erinnerte, wie Tess ihn mit Worten eingekreist hatte, mit welchem Stolz sie Tai-Pan des Noble House gesagt hatte, selbst als sie hinzufügte: »Für wie kurze Zeit auch immer.« Plötzlich war ihm aufgegangen, daß diese Frau jetzt tatsächlich Tai-Pan war, und er hatte begriffen, daß derjenige, der bald den Titel tragen würde, damit noch lange nicht die Macht hatte. Angst stieg in ihm auf, als ihm klarwurde, daß er lange Zeit mit ihr würde umgehen müssen und vielleicht, indem er Brock’s zerstörte, ein Ungeheuer geschaffen hatte, das seinen eigenen Untergang herbeiführen würde.
Gott im Himmel, sie kann mich nach Lust und Laune in Stücke zerlegen! Wie mache ich sie zu meiner Verbündeten, und zwar auf Dauer? Sie muß meine Verbündete sein, um welchen Preis auch immer.
Gelächter von Dimitri und Marlowe brachte ihn zurück in die Gegenwart. Seine Welt kam wieder ins Gleichgewicht. Kerzenlicht, Speisetafel, feines Silber, Freunde. Er war sicher in Yokohama, der Chop war bereits aus dem Tresor entfernt und sicher versteckt, ein Brief bereits geschrieben, rückdatiert und gestempelt, in dem die diversen Beweise gegen das wichtigste Aufsichtsratsmitglied erhärtet wurden, ein anderer Brief belegte das heimliche Einverständnis des Vorsitzenden. Ohne diese beiden Männer wird der Aufsichtsrat uns in den Schoß fallen wie eine reife Birne, und sie werden ihrer einzigen Chance zur Rache an Tyler und Morgan Brock nicht widerstehen können. Nicht nötig, Tess Struan zu fürchten. Ich habe sie genauso in der Hand, wie sie meine Zukunft in der Hand hat.
Ich habe eine Menge, worüber ich froh sein kann. Hier bin ich, siebenundzwanzig Jahre alt, Morgans Kopf ist schon fast im Korb, ich bin Tai-Pan der zukünftigen Firma Rothwell-Gornt, sitze an einer prachtvollen Tafel, die Diener warten auf meine Befehle. Und sie ist da, schön, demnächst reich, und sie liebt mich, so sehr sie das auch zu verbergen sucht. Sie ist meine zukünftige Braut, wie auch immer es ausgehen mag – ein Kind von Malcolm macht den Preis für Tess nur höher, ein üppiger Preis, aber dennoch ein Sonderpreis, den sie mit Freuden bezahlen wird!
Er brachte im stillen einen Toast aus auf Angélique, auf sich selbst und auf sie beide zusammen, sicher, daß seine Zukunft unbegrenzte Möglichkeiten barg.
Seine Gäste bemerkten den privaten Trinkspruch nicht, waren zu sehr in ihre Plaudereien und in das Buhlen um Angéliques Aufmerksamkeit vertieft. Zufrieden beobachtete er sie. Vor allem beobachtete er Angélique. Dann klopfte er auf den Tisch.
»Angélique, meine Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Es gibt indische Fleischsuppe mit Curry, gebratenen Fisch mit Zwiebeln und Oliven, eisgekühlten Pouilly Fuisse, Sorbet und Champagner, dann den Braten mit Kartoffeln und St. Emilion – der Koch ›fand‹ ein schönes Stück Struan-Rindfleisch… keine Sorge, Ma’am«, sagte er mit einem Lachen, »es wurde gekauft, nicht gestohlen. Dann Geflügelpastete und zum Schluß die Überraschung aller Überraschungen.«
»Und was ist das?« fragte Marlowe.
»Warten Sie ab.« Er sah Angélique an.
Sie lächelte ihr rätselhaftes Lächeln, das Lächeln, das ihn so sehr erregte, genau wie das der Mona Lisa, das er als Student auf einer Reise nach Paris gesehen hatte – unvergeßlich.
»Ich glaube, wir müssen unserem Gastgeber vertrauen, Captain«, sagte sie leise. »Meinen Sie nicht?«