26

»Warum schlafen Sie heute nacht nicht hier, M’selle, M’sieur Struan? Wir haben eine Menge Platz«, sagte Vervene.

Es war inzwischen fast Dinnerzeit; in dem großen Konferenzzimmer der französischen Gesandtschaft tranken sie Champagner, und soeben war Jamie gekommen, um zu berichten, der Brand sei gelöscht, es sei nichts wirklich Ernstes passiert, nur ein Wasserschaden in ihrer und ein kleinerer in Struans Suite. »Sie können gern meine Räume benutzen, Tai-Pan«, sagte Jamie. »Ich werde anderswo unterkriechen. Und Miss Angélique kann in Vargas’ Zimmer schlafen.«

»Das ist nicht nötig, Jamie«, wehrte Angélique ab. »Wir können hier bleiben, es ist nicht nötig, jemanden zu belästigen. Morgen wollte ich ohnehin hierher umziehen, nicht wahr, chéri?«

»Ich glaube, in meiner eigenen Suite hätte ich es bequemer. Sie sagen, sie sei in Ordnung, Jamie?«

»O ja, kaum beschädigt. Möchten Sie dann meine Räume benutzen, Miss Angélique?«

»Danke, Jamie. Aber ich bin hier wunderbar untergebracht.«

»Gut, das wäre also erledigt.« Struans Augen hatten einen seltsamen Blick; er fühlte sich sehr müde. Der schlimmste Schmerz wurde zwar noch vom Opium gedämpft, nicht aber sein nagender Zorn auf Norbert Greyforth.

»Sie sind uns jederzeit herzlich willkommen, M’sieur Struan«, sagte Vervene. »Wir haben wirklich ausreichend Platz, weil der Gesandte mit seinem Stab für einige Tage in Edo ist.«

»Ach!« Angélique war sichtlich erschrocken. Morgen mußte André die Medizin holen. Alle blickten sie an. »Aber André hat mir gesagt… er hat mir gesagt, sie kämen nach der Sitzung mit dem Shōgun alle spätestens morgen früh zurück.«

»Das hängt davon ab, wie pünktlich der Shōgun ist und wie die Sitzung verläuft, M’selle – und unsere Gastgeber sind ja wohl international bekannte Vorbilder an Pünktlichkeit, eh?« Vervene kicherte über den eigenen Scherz und setzte großmütig hinzu: »Man weiß nie, wie Staatsangelegenheiten sich entwickeln. Es kann einen Tag dauern oder auch eine Woche. Noch einen Cognac, M’sieur Struan?«

»Danke. Ja, das…«

»Aber André hat gesagt, die Sitzung werde heute vormittag stattfinden, und sie würden spätestens morgen zurück sein.« Sie kämpfte mit den Tränen, die ihr über die Wangen zu laufen drohten.

»Was zum Teufel ist mit dir los, Angel?« fragte Struan ungehalten. »Ist es so wichtig, wann sie zurückkommen?«

»Es… Nein, nein. Aber… Aber ich hasse es einfach, wenn jemand etwas sagt und es dann nicht tut.«

»Du hast dich vermutlich verhört, es ist lächerlich, sich über so unwichtige Dinge aufzuregen.« Struan trank einen großen Schluck aus seinem nachgefüllten Glas. »Um Himmels willen, Angel!«

»Vielleicht sind sie ja morgen zurück, M’selle«, sagte Vervene diplomatisch. Dumme Kuh, auch wenn ihre Brüste köstlich und ihre Lippen bezaubernd sind. »Macht nichts«, sagte er mit seinem öligsten Lächeln, »das Dîner wird in wenigen Minuten serviert. M’sieur McFay, Sie werden uns doch Gesellschaft leisten, bien sûr?«

»Danke nein, ich muß jetzt gehen.« An der Tür zögerte McFay. »Soll ich… äh, soll ich Sie später abholen, Tai-Pan?«

»Ich bin durchaus in der Lage, die zweihundert Meter allein zurückzulegen«, fuhr Struan auf. »Durchaus!« Und heute nacht oder irgendwann eine verdammte Pistole abzuschießen, hätte er ihm gern nachgerufen.

Kurz bevor sie herüberkamen, hatte Norbert Greyforth, als das Brock-Feuer fast völlig unter Kontrolle war, eine Pause eingelegt und war, von Malcolm unbemerkt, auf die Straße hinausgetreten. Jamie, der neben Malcolm stand, dirigierte Vargas und die Feuerlöscher, Dr. Hoag und Dr. Babcott kümmerten sich in der Nähe um Verbrennungen und ein paar gebrochene Knochen.

Ah Toks Elixier hatte, wie immer, Wunder gewirkt, also fühlte er sich großartig und selbstsicher, wenn auch, wie immer, ein wenig seltsam und müde: Er hatte sich vorgestellt, zu schlafen und vielleicht zu träumen, von der Liebe zu träumen, sich in steigender Leidenschaft mit der Japanerin oder mit Angélique zu vereinigen, während ihr Verlangen ebenso groß war wie das seine, nur viel erotischer. Dann war er abrupt in die schreckliche Gegenwart zurückgerissen worden.

»Abend, Jamie. Ganz schöner Brocken, eh?«

»Ach, Norbert«, sagte Struan, den die Euphorie höflich machte. »Tut mir leid mit Ihrem schlechten Joss. Ich glaube, das…«

Norbert ignorierte ihn bewußt. »Glücklicherweise, Jamie – das wird Sie sicher freuen –, keine Schäden in unseren Büros, im Lagerhaus und in den Tresorräumen.« Dann tat er, als habe er Struan gerade erst entdeckt, und hob die Stimme, damit alle seinen spöttischen Ton hören konnten. »Nanu, wenn das nicht der junge Tai-Pan des ach so noblen Noble House persönlich ist! Einen wunderschönen guten Abend, Jungchen, Sie sehen mir gar nicht so gut aus – ist der Milchhahn abgestellt?«

Struans Gutmütigkeit verpuffte. Trotz des Opiatnebels merkte er, daß er mit etwas Bösem konfrontiert wurde und daß der Feind direkt vor ihm stand. »Nein, aber offenbar Ihre guten Manieren.«

»Manieren sind wohl nicht Ihre starke Seite, Jungchen.« Norbert lachte. »Jawohl, wir haben keinen Schaden erlitten, Jungchen. Im Gegenteil, unsere neuen Schürfunternehmungen machen uns zum Noble House in Japan, und bis Weihnachten haben wir Hongkong. Krabbeln Sie nach Hause, Malcolm.«

»Ich heiße Struan«, gab dieser zurück und sah sich wieder hochgewachsen, stark und allmächtig, achtete nicht auf die anderen um ihn herum oder darauf, daß Jamie und Babcott zu vermitteln trachteten. »Struan!«

»Mir gefällt Jung-Malcolm, Jung-Malcolm.«

»Wenn Sie mich noch einmal so nennen, werde ich Sie einen mutterlosen Bastard nennen und Ihnen den Kopf von den Schultern schießen, ohne auf Ihre Sekundanten zu warten, bei Gott!«

Um die beiden herum herrschte jetzt abgrundtiefes Schweigen, das durch das Knattern der Flammen und das leise, entnervende Zischen des Windes noch unterstrichen wurde. Die Nachricht von der Herausforderung beim Lunch hatte sich innerhalb von Minuten verbreitet, und alle warteten auf den nächsten Schachzug in diesem Spiel, das unterschwellig gebrodelt hatte, seit Malcolms Großvater Dirk Struan gestorben war, bevor er, wie er es geschworen hatte, Tyler Brock umbringen konnte.

Norbert Greyforths Gedanken rasten. Wieder einmal überdachte er seine Zukunft und seine Stellung bei Brock’s und erwog sorgfältig, was er tun konnte, denn der Einsatz war immens. Er wurde sehr gut bezahlt – solange er die Befehle ausführte. Mit seinem letzten Brief hatte ihm Tyler Brock eine Tür zum Paradies aufgetan, denn er verlangte von ihm darin offen, Malcolm Struan bis zur äußersten Grenze zu treiben, solange er krank, verwundet und ohne den Schutz meiner Teufelskatze von Tochter ist, Gott verfluche sie in die Hölle! Sie kriegen fünftausend Guineas pro Jahr auf zehn Jahre, wenn Sie diesen Grünschnabel kaputtmachen, solange er in Japan ist. Sie können jede Maßnahme ergreifen, die Ihnen angemessen erscheint.

In sechs Tagen wurde Norbert neununddreißig. Mit Vierzig, dem normalen Ruhestandsalter, war der durchschnittliche Chinahändler alt. Fünftausend auf zehn Jahre war wahrlich eine königliche Summe, genug, um sich einen Sitz im Parlament zu kaufen, Landedelmann zu werden, Gutsherr mit Herrensitz, verheiratet mit einer jungen Frau, die eine schöne Mitgift in Gestalt guten Surrey-Bodens mitbrachte.

Die Entscheidung war leicht. Er schob sein Gesicht ganz dicht vor Struans Nase und sah erfreut den Schmerz unter der straff gespannten Haut. »Hören Sie zu, Jung-Malcolm, Sie haben mir beim Lunch Brandy ins Gesicht geschüttet. Zum Supper können Sie mich am Arsch lecken.«

»Und Sie, mein Herr, sind ein mutterloser Bastard!«

Der Ältere lachte, ein grausam höhnisches Lachen. »Sie sind ein weitaus größerer mutterloser Bastard, ja, Sie…«

Babcott trat zwischen die beiden, die neben Struan klein wirkten. »Aufhören, alle beide!« befahl er zornig. »Alle beide! Dies ist ein öffentlicher Platz, und Meinungsverschiedenheiten sollten zwischen Gentlemen privat ausgemacht werden.«

»Er ist kein verdammter Gentl…«

»Wie Gentlemen, Malcolm«, wiederholte Babcott lauter. »Wie hätten Sie’s denn gern, Norbert?«

»Jederzeit, Doc, wie oft muß ich Ihnen das noch sagen? Ein Duell ist nicht ganz mein Geschmack, aber wenn dieser Bastard unbedingt eins will – von mir aus! Heute abend, morgen, je eher, desto besser.«

»Nicht heute abend, nicht morgen und nicht jederzeit. Duelle verstoßen gegen das Gesetz, aber ich werde um elf in Ihrem Büro erscheinen.« Babcott musterte Struan; ihm war klar, daß dieses Duell niemals verhindert werden konnte, solange sich beide darauf versteiften. Er sah die geweiteten Pupillen, bedauerte ihn und war zugleich wütend auf ihn. Beide, er und Hoag, hatten schon lange die Sucht diagnostiziert, aber nichts, was sie taten oder sagten, hatte Eindruck auf ihn gemacht, und auch seinen Zugang zu der Droge konnten sie nicht verhindern. »Dann sehe ich Sie um zwölf, Malcolm. Bis dahin befehle ich Ihnen beiden als der dienstälteste britische Beamte, der sich im Moment in Yokohama aufhält, einander weder unter vier Augen noch in der Öffentlichkeit anzusprechen oder anzugreifen…«

Zum Teufel mit dem verdammten Babcott, dachte Struan, immer noch selbstbewußt, denn der Brandy mischte sich vorteilhaft mit dem Opiat. Morgen oder übermorgen werde ich Jamie, nein, werde ich Dimitri zu Norbert schicken – nicht Jamie, dem kann ich nicht mehr vertrauen. Wir werden es bei der Rennbahn machen, und das Noble House wird Norbert eine noble Beerdigung ausrichten – und dem verdammten Brock, falls er je herkommen sollte, bei Gott! Die haben beide wohl vergessen, daß ich der beste Revolverschütze von Eton war und mich mit diesem Schweinehund von Percy Quill duelliert habe, weil er mich als Chinesen bezeichnet hat. Umgebracht hab ich ihn und wurde dafür relegiert, obwohl die Affäre vertuscht und von Papa für ein paar tausend Guineas geregelt wurde. Norbert wird seine wohlverdiente Strafe kriegen!

Unruhe im Zimmer lenkte ihn ab. Gerade war Seratard mit André Poncin hereingekommen und wurde von den anderen umringt und begrüßt. Durch seinen Nebel hörte er Seratard sagen, die Edo-Sitzung sei sehr schnell beendet worden, nachdem wir den gordischen Knoten durchhauen haben und die französischen Kompromißvorschläge akzeptiert wurden, es also keinen Grund mehr gab, länger zu bleiben…

Seine Ohren hörten auf zu lauschen, während sein Blick sich auf André konzentrierte. Der nervöse, gutaussehende Franzose mit den scharfen Zügen und der Ladestockhaltung lächelte Angélique zu, die ihm dafür ein glücklicheres Lächeln schenkte, als er es seit Tagen an ihr gesehen hatte. Eifersucht stieg in ihm auf, aber er unterdrückte sie. Nicht ihre Schuld, dachte er müde, und auch nicht Andrés, sie ist es wert, angelächelt zu werden, und ich bin kein guter Gesellschafter und nicht ich selbst, ich habe die Schmerzen und die Hilflosigkeit so unendlich satt! O Gott, aber ich liebe diese Frau und brauche sie zum Leben.

Er stemmte sich hoch, entschuldigte sich und bedankte sich für die Gastfreundschaft. Seratard war, wie immer, der Charme persönlich. »Aber Sie werden doch bei uns bleiben! Tut mir so leid, mit diesem Brand – wir haben draußen auf See nichts von dem Erdbeben gemerkt, nicht mal eine starke Dünung oder so. Keine Sorge, wir freuen uns, daß Ihre Verlobte uns Gesellschaft leistet, M’sieur, solange ihre Räumlichkeiten repariert werden, und Sie selbst sind uns natürlich auch jederzeit herzlich willkommen.« Er brachte sie zur Tür, während Angélique Struans Arm ergriff und darauf bestand, ihn nach Hause zu begleiten.

»Es geht mir gut, Angel«, sagte Struan voll Liebe zu ihr.

»Selbstverständlich, mein Liebster, aber ich tue es gern«, gab sie zurück, nach Andrés Rückkehr von gutem Willen erfüllt. Nur wenige Stunden noch, und ich bin frei!

Das Abendessen war ein großer Erfolg. Angélique strahlte; Seratard war stolz auf seinen Erfolg in Edo und unterhielt sie mit Erzählungen von seiner Tätigkeit in Algerien, wo er vor diesem Posten mit der Unterdrückung von Aufständen beauftragt gewesen war; Vervene buhlte ständig um ihre Aufmerksamkeit, um heroische Versionen dessen von sich zu geben, was er bisher erreicht hatte; und alle waren angeregt von ihrer Gesellschaft und dem Wein. Dann begann André Poncin mit dreisten Geschichten aus Hongkong, Shanghai und Kowloon, wo die Landbevölkerung von Zeit zu Zeit tatsächlich glaubte, wenn sich der Penis in den Körper zurückzog, sei wieder die Penisseuche über sie gekommen, und die Männer ihn daher, um diese Katastrophe zu vermeiden, mit einem Bindfaden umwickelten, den sie sich fest um den Hals knoteten.

»Aber André, Sie sind unmöglich! Wie ungezogen von Ihnen!« schalt sie mit flatterndem Fächer, während die Herren lachten und er behauptete, das sei die heilige Wahrheit. Also wurde es allmählich Zeit für sie, sich zu verabschieden. Sie leerte ihr zweites Glas Champagner, das wundervoll zu den vorangegangenen drei Gläsern Château d’Arcins paßte, und war selbst mehr als angeheitert – die Erleichterung, daß André so pünktlich zurückgekommen war, wie er es ihr versprochen hatte, und die Freude, einen ganzen Abend lang Französisch zu sprechen, hatte ihre gewohnte Vorsicht durchlöchert: »Ich werde Sie jetzt Ihren Zigarren und Ihrem Cognac überlassen – und ihren gewagten Histörchen.«

»Ach bitte, nur noch einen Moment«, bat Seratard, »André wird etwas für uns spielen. Ich schlage…«

»Nicht heute abend«, fiel ihm André ein wenig zu hastig ins Wort. »Wenn’s Ihnen nichts ausmacht – ich habe noch einige Papiere für morgen vorzubereiten. Tut mir leid.«

»Das kann warten, Vergnügen geht vor Arbeit«, behauptete Seratard. »Heute abend brauchen wir Musik, um den Abend zu beenden, irgend etwas Romantisches für Angélique.«

»Lassen Sie ihn doch, Henri«, entgegnete sie mit vom Wein geröteten Wangen, glücklich darüber, daß André anscheinend die versprochene Medizin holen wollte. »Sie haben ihn lange genug von der Arbeit abgehalten, schließlich ist er kein Beamter.«

»Aber André wird liebend gern für uns spielen.«

»Aha, André wird also herumkommandiert, ja? Dann muß ich Ihnen, M’sieur le Ministre, befehlen, ihn dies eine Mal zu entschuldigen – und mich auch, es wird Zeit, daß ich ins Bett komme.« Mit ein wenig schwachen Knien erhob sie sich. Die Herren umringten sie und protestierten lautstark. »Aber ich bin morgen auch noch hier, und noch mindestens drei Tage.« Mit einem ganz speziellen Lächeln bot sie André ihre Hand. »Nun dürfen Sie gehen, ich befehle Ihnen, unsere Interessen zu wahren.«

»Sie können sich darauf verlassen, Angélique.«

»Ein letztes Glas noch…«

Sie ließ sich überreden, das Glas mitzunehmen, dann begleiteten sie sie, um sich zu vergewissern, daß die Riegel an den Fenstern und den neuen Läden von Boudoir und Schlafzimmer fest und sicher hielten.

»Nach Ihrem letzten Aufenthalt hier haben wir beschlossen, sämtliche Fensterläden zu erneuern«, sagte Vervene mit beschwipstem Lächeln, obwohl er ihr das zuvor schon einmal erklärt hatte. »Selbst bei dem Sturm in der letzten Woche hat nichts mehr geklappert.« Alle sahen das hauchdünne grüne Negligé und das Nachthemd, das von der breithüftigen Dienerin, die alles beobachtete und grimmig wartete, auf dem zurückgeschlagenen Bett ausgebreitet worden war. Die heruntergedrehten Öllampen, vereint mit dem allgemeinen Alkoholnebel, machten das Zimmer einladender und das junge Mädchen herausfordernder.

Wieder wurden zögernd eine gute Nacht und angenehme Träume gewünscht, dann war sie mit Ah Soh allein und die Tür zum Korridor fest verriegelt. Die Dienerin entkleidete sie, bürstete ihr das Haar, hängte ihre Krinoline zu den anderen Roben in den tiefen Kleiderschrank und packte die Wäsche in die Kommode, während Angélique fröhlich vor sich hin summte, weil sie sich hier wohl fühlte und darüber glücklich war, daß weder das Feuer noch das Erdbeben einem von ihnen Schaden zugefügt und ihre Pläne nicht gestört, sondern vereinfacht hatte.

Ich werde Frieden zwischen Malcolm und Jamie stiften, die beiden dürfen sich nicht streiten, dachte sie liebevoll, vom Alkohol in friedliche Stimmung versetzt. Gott sei für André gedankt. Ich wüßte gern, wie die Yoshiwara ist und dieses Mädchen. Ich werde ihn bitten, mir von ihr zu erzählen, und dann können wir gemeinsam lachen…

»Nacht, Missee«, riß Ah Soh sie aus ihren Gedanken. Dann ging die Dienerin schwerfällig zur Boudoir-Couch. Als sie das letzte Mal bei ihr schlief, hatte Ah Soh sie, obwohl die Schlafzimmertür geschlossen war, mit ihrem ohrenbetäubendem Schnarchen gestört.

»Nein, Ah Soh, nicht schlafen hier! Du gehen, kommen wieder chop chop mit Kaffee-ah, heya?«

Die Frau zuckte die Achseln. »Nacht, Missee.«

Angélique verriegelte die Tür hinter ihr und wiegte sich, endlich ganz allein, im warmen Lichtschein träge zu einem gesummten Walzer. Gleich darauf hörte sie die gedämpften Töne des Pianos. Aha, Henri, dachte sie, weil sie seinen Anschlag erkannte. Ein guter Spieler, besser als Vervene, aber nicht mit André zu vergleichen. Chopin. Leise, zart, romantisch.

Sie wiegte sich im Takt der lieblichen Melodie; dann sah sie sich in dem hohen Spiegel. Einen Moment betrachtete sie ihr Bild, wandte sich hierhin und dorthin; dann hob sie ihre Brüste höher, wie sie und Colette es immer getan hatten, und musterte sich von allen Seiten, um zu sehen, ob sie dadurch begehrenswerter wirkte.

Ein Schluck Champagner, die Perlen prickelten, Musik und Alkohol beflügelten sie. Ein plötzlicher, erregter Impuls, und sie ließ das Negligé fallen; dann hob sie langsam das Nachthemd höher, kokettierte mit ihrem Spiegelbild, bewunderte ihre Beine, Lenden, Hüften und Brüste und probierte, mit dem hochgerafften Nachthemd verbergend oder enthüllend, immer wieder andere Posen aus…

Ein weiterer Schluck Champagner. Dann tauchte sie tief den Finger ins Glas und strich sich die Flüssigkeit auf die verhärteten Brustwarzen, wie es, ihrer Lektüre entsprechend, die großen Pariser Kurtisanen tun würden, die den süßen Château d’Yquem mal hier, mal da aufgetragen hatten. Seltsam, daß die beiden berühmtesten Kurtisanen in Paris Engländerinnen sind.

Sie lachte leise, beschwingt von der Nacht, der Musik und dem Wein. Wenn ich ein oder zwei Söhne geboren habe und, sagen wir, einundzwanzig bin und Malcolm eine Geliebte hat und ich für meinen eigenen Liebhaber bereit bin, werde ich genau dies tun – zu meinem Vergnügen und dem seinen, und davor auch zu Malcolms Vergnügen.

Noch ein Schluck, noch einer, dann den letzten, genußvoll jeden Tropfen auslecken, und schließlich, immer den Spiegel im Auge, die Zunge im Glas kreisen und damit spielen lassen. Wieder leise lachen, das Glas auf dem Toilettentisch abstellen, wo es unbemerkt auf den Teppich fällt, die Ohren auf Chopin und seine unterschwelligen Leidenschaften eingestellt, den Blick auf den Spiegel gerichtet, der jetzt gewagte, intime Bilder zurückwirft.

Träge beugte sie sich vor und drehte den Docht herunter, bis die Schatten freundlicher wurden; dann trat sie abermals vor den Spiegel, in dem noch immer, bezaubernd, verlockend, diese andere Frau wartete. Ihre Finger bewegten sich, als hätten sie ein eigenes Leben, wanderten, liebkosten, das Herz schlug heftiger und begann, als die Wonne wuchs, schneller zu flattern. Die Augen jetzt geschlossen, stellte sie sich Malcolm vor, wie er sie, hochgewachsen, stark, sehr stark, herrlich duftend, ins Schlafzimmer führte, auf die Bettdecke legte, sich ebenso nackt wie sie an sie schmiegte und seine Finger wandern, streicheln, liebkosen ließ…

Ori hatte leise die Tür des Kleiderschranks im anderen Zimmer geöffnet, war lautlos herausgeschlüpft und stand nunmehr im tiefen Schatten an der halboffenen Tür, um sie zu beobachten, während sein Puls ihm in den Ohren hämmerte. Es war nicht schwer für ihn gewesen, sich zwischen den Schachteln, aufgehängten Kleidern und Krinolinen zu verstecken und tiefer in den Schrank zu kriechen, als die Dienerin die Tür öffnete und wieder schloß. Nicht schwer, zu hören, wie die Riegel vorgelegt wurden, und zu beurteilen, wann Angélique ganz allein war.

Im matten Licht des Schlafzimmers lag sie mit geschlossenen Augen in den Laken; von Zeit zu Zeit überlief sie ein leichter Schauer; ihr Gesicht war im Schatten verborgen, ihr Körper lag halb im Schatten, die Schatten tanzten, als sich die kleine Flamme im Luftzug bewegte. Ihm schien, als warte er eine Ewigkeit. Lautlos trat er aus der Dunkelheit auf die Schwelle. Die Tür glitt leise ins Schloß. Die ferne Musik erstarb. Sie öffnete die Augen, konzentrierte ihren Blick und sah ihn.

Irgendein Instinkt sagte ihr, daß er es war – der Mörder von der Tokaidō, Vater des Kindes, das nie leben sollte, der sie vergewaltigt, aber keine Erinnerung an Schmerz oder Gewalt hinterlassen hatte, sondern nur erotische Halbträume, im Schlaf, im Wachen –, daß sie hilflos war und daß er heute nacht auch sie töten würde.

Beide wagten kaum zu atmen. Verharrten reglos. Warteten darauf, daß der andere etwas tat. Noch immer im Schock, sah sie seine Jugend, kaum älter als sie, ein wenig größer, am Gürtel den Dolch in der Scheide, rechte Hand am Griff, Bart und Haar sauber gestutzt und kurz, breite Schultern und schmale Hüften, grobes Hemd, weite Kniehosen, kräftige Waden und Beine, Bauernsandalen. Das Gesicht im Schatten.

Es ist wieder mal ein Traum, natürlich ist es ein Traum, kein Grund zur Angst… Verwirrt stützte sie den Kopf auf eine Hand und winkte ihm, ans Licht zu treten.

Vorübergehend im selben unwirklichen, traumhaften Zustand gefangen wie sie, gehorchten seine Füße, und als sie die feingeschnittenen Züge sah, so anders und fremd, die dunklen, von Sehnsucht erfüllten Augen, öffnete sie den Mund, um ihn zu fragen: Wer bist du, wie heißt du? Er jedoch dachte, sie werde schreien, und sprang von Panik erfüllt vorwärts, um ihr brutal die nackte Klinge an die Kehle zu setzen.

»Bitte, nicht!« keuchte sie, ins Kissen zurückgedrückt, und schüttelte, da er sie nicht verstand, heftig den Kopf, starr vor Angst, mit flehendem Blick, jede Faser ihres Körpers schreiend: Du wirst sterben, diesmal gibt es kein Entkommen! »Bitte – nicht!«

Der Ausdruck der Angst verließ sein Gesicht, und während er vor ihr stand und sein Herz ebenso stark hämmerte wie das ihre, legte er sich einen Finger auf die Lippen, um sie zu warnen, sich still zu verhalten, weder zu schreien noch sich zu rühren, »Iyé«, flüsterte er heiser. Und setzte hinzu: »Nein!«

Ein Schweißtropfen rann an seiner Wange hinab.

»Ich… Ich bin ganz leise«, murmelte sie, von schierem Entsetzen verwirrt. Sie zog sich die Bettdecke über die Lenden. Sofort riß er sie wieder herunter. Ihr Herz stand still. In dieser Sekunde wußte sie, daß irgendein Urinstinkt sie auf eine andere Ebene geschleudert hatte, und fühlte sich von einem latenten, neu gefundenen Wissen erfüllt. Ihr Entsetzen begann nachzulassen. Innere Stimmen schienen zu wispern: Sei vorsichtig, wir können dich leiten. Achte auf seine Augen, mach keine unvermittelte Bewegung, zuerst das Messer…

Mit hämmerndem Herzen beobachtete sie seine Augen und legte sich, wie er, den Zeigefinger auf die Lippen; dann deutete sie vorsichtig auf die Klinge und winkte sie weg.

Wie eine gespannte Feder stand er da und erwartete, daß sie jeden Moment zur Tür stürzen und schreien werde; er wußte, daß er sie mühelos zum Schweigen bringen konnte, aber das paßte nicht zu seinem Plan: Sie sollte zur Tür fliehen, wann er es wollte, und schreien und schreien, um den Feind zu wecken; dann würde er einmal zustoßen und sich vergewissern, dann würde er warten, und wenn sie kamen, würde er rufen: »Sonno-joi«, das Messer gegen sich selber richten und, dem Feind ins Gesicht speiend, sterben. Das war sein Plan – einer von vielen, die er erwogen hatte: Sie wild nehmen, anschließend erst sie und dann sich selbst töten, oder sie, so sehr er sie auch jetzt begehrte, einfach sofort lautlos töten, wie er es zuvor schon hätte tun sollen, auf den Bettlaken wie damals, die Tokaidō-Schriftzeichen hinterlassen und durchs Fenster fliehen. Aber sie reagierte nicht, wie er es erwartet hatte. Ruhiger, steter Blick, eine Hand, die seine Klinge wegwinkte, himmelblaue Augen, die baten, nicht bettelten, Spannung, ja, aber jetzt kein Entsetzen mehr. Unsicheres Halblächeln. Warum?

Die Klinge bewegte sich nicht.

Sei geduldig, wisperten ihre inneren Stimmen…

Wieder winkte sie die Dolchspitze von sich, ohne Eile, mit festem Willen. Seine Augen wurden noch schmaler. Mühsam riß er den Blick von ihren Augen los, um ihn über ihren Körper wandern zu lassen, dann wurde er unerbittlich zu ihren Augen zurückgezogen. Was hat sie vor? Mißtrauisch senkte er den Dolch und wartete, jederzeit zum Zustoßen bereit.

Er stand dicht neben dem Bett. Gemächlich begannen ihre Hände sein Hemd aufzuknöpfen, dann erstarrte sie jedoch. Das Kreuz an seinem Hals funkelte im Licht, ihr Kreuz. Die Tatsache, daß das auf immer Verlorene auf wunderbare Weise wiederkehrte, versetzte sie seltsamerweise in eine freudige, traumhafte Erregung; sie sah, wie ihre ganz leicht zitternden Finger das Kreuz berührten, sah es voll befremdender Genugtuung darüber, daß er es mitgenommen hatte, um es zu tragen, als Teil von ihr, der auf ewig zum Teil von ihm geworden war, wie ein Teil von ihm auf ewig ein Teil von ihr sein würde. Aber sogar das Kreuz vermochte sie nicht abzulenken.

Sanft streifte sie ihm das Hemd herunter, über den rechten Arm, über das fest umklammerte Messer, diese ständige Bedrohung. Ihr durchdringender Blick wanderte über ihn hin, über die frisch verheilte Schulterwunde, den muskulösen Körper. Und wieder über die Wunde.

»Tokaidō«, sagte sie leise – nicht als Frage, obwohl er es als solche auffaßte.

»Hai«, antwortete er leise, beobachtend, wartend, erstickt vor Begehren. »Hai.«

Wieder glänzte das Kreuz. »Kanagawa?«

Er nickte mit angehaltenem Atem, wortlos. Sie war froh, daß sie sofort richtig vermutet hatte, und war nun, da er fast nackt vor ihr stand, um so sicherer hinsichtlich des Plans, der sich in ihrem Kopf festgesetzt hatte. Immer seine Augen im Blick streckte sie die Hand aus, berührte seinen Gürtel und spürte ein winziges Erbeben.

Keine Angst, sagten die Stimmen. Mach weiter…

Ihre Finger ertasteten das Koppelschloß. Es ging auf. Der Gürtel fiel herab und nahm die Dolchscheide mit. Seine Hose sank zu Boden. Darunter trug er ein Lendentuch. Mit übermenschlicher Anstrengung blieb er regungslos stehen, das Gewicht auf beide leicht gespreizten Beine verteilt, während sein Körper mit seinem Herzschlag pulsierte und ihre Blicke nicht voneinander ließen.

Weiter, wisperten die Stimmen, hab keine Angst…

Plötzlich bewirkte das Bild, wie er in jenem Netz gefangen war, das viele Generationen von Frauen der Vergangenheit ihr weben halfen, daß sich ihre Entschlossenheit unerwartet festigte, ihr Wahrnehmungsvermögen verstärkte, sie zum Bestandteil der Nacht machte und dennoch getrennt von ihr, so daß sie sich selbst und ihn beobachtete, während ihre Finger die Schnur lösten und sie ihn unbekleidet sah.

Noch nie hatte sie einen Mann so gesehen. Bis auf die Wunde war er ohne Makel. Genau wie sie.

Sekundenlang vermochte er sein Begehren noch zu beherrschen, dann gab sein Wille nach, er warf das Messer aufs Bett und legte sich auf sie, doch sie verschloß sich wie eine Auster und entwand sich ihm, er warf sich ebenfalls herum und griff nach dem Messer, bevor sie es schaffte, aber sie hatte keine Bewegung darauf zu gemacht, sondern lag still da und beobachtete ihn, der auf dem Bett kniete und das Messer gezückt hielt: ein zweiter Phallus, der auf sie gerichtet war.

In ihrem Wachtraum schüttelte sie den Kopf und sagte zu ihm, er solle das Messer hinlegen, es einfach vergessen, und sich neben sie legen. »Wir haben Zeit«, sagte sie leise, obwohl sie wußte, daß er Worte nicht verstehen konnte, nur Gesten. »Leg dich hierher.« Sie zeigte ihm, wo. »Nein, etwas behutsamer.« Sie zeigte es ihm. »Küß mich… nein, nicht so brutal… sanfter.«

Sie zeigte ihm alles, was sie wollte, was er wollte, kam ihm entgegen, zog sich zurück, war bald erregt, und dann, als sie sich schließlich vereinigten, implodierte sie, um ihn über den Gipfel und sich und ihn in den Abgrund zu tragen.

Als ihr Atem ein wenig ruhiger ging und ihre Ohren hören konnten, spielte die Musik noch immer, aber sehr weit entfernt. Keine gefährlichen Geräusche, nur sein Keuchen, dem ihren gleich, Körper schwerelos, perfekt zueinander passend. Zusammengehörend. Das war es, was sie nicht begreifen konnte – wie oder warum er zu ihr zu gehören schien. Oder wie und warum sie so elektrisiert war, von so großer Ekstase erfaßt. Er begann sich von ihr zu lösen.

Nein, warnten die Stimmen rasch, halt ihn fest, laß nicht zu, daß er sich bewegt, sei vorsichtig, die Gefahr ist noch nicht vorüber, halte dich an den Plan…

Also umschlang sie ihn fest mit den Armen.

Sie schliefen etwa eine Stunde, und als sie erwachte, lag er neben ihr, sein Atem ging leicht, sein schlafendes Gesicht war jung und entspannt, eine Hand umklammerte das Messer, die andere berührte das Kreuz, das er so selbstverständlich trug.

Es war mein erstes Geschenk, hat Maman mir gesagt, am ersten Tag meines Lebens, ich habe es seither immer getragen, nur die Kette wurde ausgewechselt. Gehört es jetzt ihm, oder mir, oder uns?

Er öffnete die Augen; ein Schauer überlief sie.

Einen Moment wußte er nicht, wo er war, oder ob es ein Traum war; dann sah er sie, immer noch schön, immer noch begehrenswert, immer noch neben ihm, mit diesem seltsamen Halblächeln. Fasziniert wanderte seine Hand zu ihr, sie reagierte, und sie vereinigten sich abermals, diesmal ohne Zorn oder Hast. Sondern in die Länge gezogen.

Hinterher, nur halb wach, wollte er ihr erzählen, wie groß die Wolken und der Regen gewesen waren, wie sehr er sie bewunderte und ihr dankte – von einer tiefen Traurigkeit erfüllt, daß er ihr Leben beenden mußte, dieses Leben. Nicht aber traurig darüber, daß sein eigener Tod bevorstand. Nein, durch sie würde er einen erfüllten Tod sterben, einen Tod, der durch die gerechte Sache von sonno-joi geheiligt war.

Ah, dachte er mit plötzlicher Wärme, als Gegengabe für ein solches Geschenk vielleicht ein gleichwertiges Geschenk, ein Samurai-Geschenk, einen Samurai-Tod: kein Schrei, kein Entsetzen, eben noch am Leben, im nächsten Moment tot. Warum nicht?

In tiefem Frieden, die Hand am blanken Dolch, ließ er sich in die Traumlosigkeit sinken.

Ihre Finger berührten ihn. Augenblicklich war er wach, die Finger fest um das Messer geschlossen. Er sah, wie sie, einen Finger auf den Lippen, auf das von Vorhängen und Läden geschützte Fenster zeigte. Draußen näherte sich jemand, der vor sich hinpfiff. Das Geräusch ging vorüber und erstarb.

Sie seufzte, beugte sich über ihn, schmiegte sich an ihn, küßte seine Brust, um dann zu der Uhr auf ihrem Toilettentisch zu zeigen, auf der es Viertel nach vier Uhr morgens war, und dann wieder zum Fenster. Sie glitt aus dem Bett und bedeutete ihm mit Gesten, daß er sich anziehen, gehen und in der Nacht wiederkommen solle, die Läden würden unverriegelt sein. Er schüttelte den Kopf, tat so, als sei es ein Scherz, aber sie kam zurückgelaufen, kniete neben dem Bett nieder und flüsterte flehend: »Bitte… bitte…«

Seine Gedanken wirbelten. Noch nie zuvor hatte er diesen Ausdruck auf dem Gesicht einer Frau gesehen, eine so tiefe Leidenschaft, die über sein Vorstellungsvermögen ging, denn auf japanisch gab es kein Wort für Liebe. Er überwältigte ihn, konnte seinen Entschluß aber nicht ändern.

So leicht, scheinbar zuzustimmen, einverstanden damit zu sein, jetzt zu gehen und am Abend wiederzukommen. Während er sich ankleidete, blieb sie dicht bei ihm, half ihm, wollte ihn nicht gehen lassen, wollte, daß er blieb, gab sich ganz und gar beschützend. Den Finger auf den Lippen, fast wie ein Kind, schob sie die Vorhänge beiseite, öffnete lautlos das Fenster, entriegelte die Läden und spähte hinaus.

Die Luft war rein. Eine Andeutung von Morgengrauen. Himmel mit Wolken betupft. Meer still, von Gefahr weder etwas zu hören noch zu sehen, nur das Seufzen der Wellen auf dem sandigen Strand. An der High Street erinnerten nur noch Rauchfäden an die Brände. Niemand in der Nähe, die Niederlassung lag friedlich im Schlaf.

Als er nun dicht hinter ihr stand, erkannte er, daß dies der perfekte Augenblick war. Mit schneeweißen Knöcheln zückte seine Hand den Dolch. Aber er stieß nicht zu, denn als sie sich umwandte, fegten ihre Zärtlichkeit und Besorgnis seine Entschlossenheit davon – sie und das Begehren, von dem er noch immer besessen war. Hastig küßte sie ihn, dann beugte sie sich wieder hinaus und spähte nach beiden Seiten, um sicherzugehen, daß alles in Ordnung war. »Nein, noch nicht«, murmelte sie besorgt, legte den Arm um seine Taille und bedeutete ihm, noch zu warten.

Als sie dann sicher war, wandte sie sich abermals um, küßte ihn noch einmal, dann trieb sie ihn zur Eile. Lautlos stieg er über die Fensterbank. Doch kaum war er sicher im Garten gelandet, da schlug sie beide Läden zu, rammte den Riegel vor, und ihre Schreie schrillten durch die Nacht: »Hiiiiilfe! Hiii-iilfe…«

Ori war wie gelähmt. Aber nur einen Moment. Blind vor Wut kratzte er an den Läden; ihre fortwährenden Schreie und die Erkenntnis, daß er düpiert worden war, machten ihn rasend. Mit Fingern wie Krallen riß er einen Laden auf und zerrte ihn fast aus seinen Angeln. In dieser Sekunde kamen die ersten französischen Wachtposten mit schußbereitem Gewehr um die Ecke gelaufen. Ori sah sie, war schneller, riß die Derringer heraus und drückte ab, fehlte aber mit beiden Läufen, weil er noch niemals geschossen hatte, und die Kugeln prallten pfeifend vom Mauerwerk ab in die Nacht.

Der Wachtposten fehlte weder beim ersten-, noch beim zweiten- oder drittenmal. In ihrem Zimmer kauerte Angélique, beide Hände über den Ohren, freudig erregt und doch verloren, ohne zu wissen, was sie von allem halten und was sie tun sollte, ob sie lachte oder weinte, nur, daß sie gewonnen hatte, daß sie in Sicherheit war und sich gerächt hatte, während die inneren Stimmen immer wieder jubelten: Du hast gewonnen, gut gemacht, du warst wundervoll, wundervoll, du hast den Plan perfekt ausgeführt, du bist in Sicherheit, von nun an und in Ewigkeit!

»Wirklich?« fragte sie wimmernd.

O ja, du bist in Sicherheit, er ist tot, einen gewissen Preis muß man natürlich immer bezahlen, aber keine Sorge, du brauchst keine Angst zu haben…

Welchen Preis? Welchen… Heilige Mutter Gottes, ich hab das Kreuz vergessen, er hat ja immer noch mein Kreuz!

Und inmitten des wachsenden Lärms draußen und des Hämmerns an ihre Tür begann sie zu zittern. Heftig.