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Montag, 17. September
»Gai-Jin sind Parasiten ohne Manieren«, erklärte Nori Anjo wutschnaubend. Er war der Oberste der roju, des Rates der Fünf Ältesten, ein untersetzter, rundgesichtiger, reich gekleideter Mann. »Sie haben unsere höfliche Entschuldigung verächtlich zurückgewiesen, obwohl das Tokaidō-Problem damit hätte beigelegt sein müssen, und nun sind sie so unverschämt, offiziell eine Audienz beim Shōgun… Die Schrift ist unsauber, die Worte unzulänglich, hier, lesen Sie selbst, das Schreiben ist soeben eingetroffen.«
Mit kaum verhohlener Ungeduld reichte er die Schriftrolle seinem weit jüngeren Gegner Toranaga Yoshi, der ihm gegenübersaß. Sie waren allein in einem der Audienzsäle hoch oben im Hauptturm der Burg von Edo; die Wachen hatten sie hinausgeschickt. Ein niedriger, scharlachrot lackierter Tisch trennte die beiden Männer, gedeckt mit einem schwarzen Teetablett, hauchdünnen Tassen und einer Teekanne aus Eierschalenporzellan.
»Was die Gai-Jin schreiben, spielt keine Rolle.« Yoshi nahm die Rolle voll Unbehagen entgegen, las sie aber nicht. Im Gegensatz zu Anjo trug er einfache Kleidung und Arbeits- statt Zeremonienschwerter. »Irgendwie müssen wir sie dazu bringen, zu tun, was wir wollen.« Er war Daimyo von Hisamatsu, einem kleinen, aber wichtigen Lehen ganz in der Nähe, und ein direkter Nachkomme des ersten Toranaga-Shōgun. Auf den jüngsten ›Wunsch‹ des Kaisers und gegen Anjos flammenden Widerstand war er vor kurzem zum Vormund des Eiben, des jungen Shōgun, ernannt worden und mußte die Lücke im Rat der Ältesten füllen. Sechsundzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, aristokratisch, mit schlanken Händen und langen Fingern. »Was immer geschieht, sie dürfen auf gar keinen Fall den Shōgun sehen«, sagte er, »denn damit wäre die Legalität der Verträge besiegelt, die noch nicht korrekt ratifiziert worden sind. Wir werden ihnen die unverschämte Bitte abschlagen.«
»Ich stimme zu, sie ist unverschämt, aber wir müssen uns damit befassen und beschließen, was mit Sanjiro, diesem Satsuma-Hund, geschehen soll.« Beide hatten genug von dem Gai-Jin-Problem, das jetzt schon seit zwei Tagen ihr wa, ihre Harmonie, störte, und wollten diese Sitzung so schnell wie möglich hinter sich bringen – Yoshi, um in sein Quartier zurückzukehren, wo Koiko auf ihn wartete, und Anjo zu einer Geheimsitzung mit einem Arzt.
Draußen war es sonnig und freundlich, und die leichte Brise, die durch die offenen Läden strich, trug den Geruch von Meer und fetter Erde in den Saal.
Aber bald kommt der Winter, dachte Anjo, den die Schmerzen in seinen Eingeweiden ablenkten. Ich hasse den Winter, die Jahreszeit des Todes, alles häßlich und eiserstarrt, und dann diese Kälte, die mir die Gelenke verdreht und mich daran erinnert, wie alt ich bin. Er war ein ergrauender Mann von sechsundvierzig Jahren, Daimyo von Mikawa und Mittelpunkt der Roju-Macht, seit der Diktator taikō Ii vier Jahre zuvor ermordet worden war.
Während du, Welpe, dachte er zornig, erst vor zwei Monaten in den Rat und vor vier Wochen zum Vormund ernannt worden bist – beides politisch gefährliche Ämter und gegen unseren Protest verliehen. Es wird Zeit, daß dir die Flügel gestutzt werden. »Natürlich legen wir alle Wert auf Ihren Rat«, behauptete er in zuckersüßem Ton und ergänzte dann, ohne es zu ernst zu meinen, wie beide wußten: »Seit zwei Tagen machen die Gai-Jin ihre Flotte kampfbereit, drillen die Truppen öffentlich, und morgen trifft ihr Befehlshaber ein. Wie lautet Ihr Lösungsvorschlag?«
»Genauso wie gestern: Wir schicken ihnen eine weitere Entschuldigung ›für den bedauerlichen Zwischenfall‹, gespickt mit Sarkasmus, den sie nicht verstehen werden, verfaßt von einem rangniederen Beamten, den sie nicht kennenlernen werden, und so terminiert, daß sie eintrifft, bevor der Gai-Jin-Anführer Yokohama verläßt. Zusätzlich bitten wir um einen weiteren Aufschub zwecks ›zusätzlicher Untersuchungen‹. Wenn ihm das nicht genügt und er oder sie nach Edo kommen – sollen sie doch. Wir schicken ihnen wie üblich den rangniederen Beamten, dessen Entscheidungen für uns nicht bindend sind, in die Gesandtschaft, um mit ihnen zu verhandeln, geben ihnen ein wenig Suppe, aber keinen Fisch. Wir verzögern und verzögern.«
»Und bis dahin haben wir Zeit, unser ererbtes Shōgunats-Recht auszuüben. Wir werden Sanjiro befehlen, die Mörder umgehend zur Bestrafung auszuliefern und eine Entschädigung zu bezahlen, wieder über uns, und dann sofort in den Hausarrest und den Ruhestand. Wir werden es ihm befehlen!« sagte Anjo hart. »Sie haben keine Erfahrung in höchsten Shōgunats-Angelegenheiten.«
Mühsam sein Temperament zügelnd, wünschte Yoshi, er könnte Anjo wegen seiner Dummheit und seiner schlechten Manieren umgehend in den Ruhestand schicken, und sagte: »Wenn wir Sanjiro einen Befehl erteilen, wird er nicht gehorchen, deshalb werden wir uns gezwungen sehen, Krieg zu führen, und Satsuma ist zu stark und hat zu viele Verbündete. Seit zweihundertfünfzig Jahren hat es keinen Krieg mehr gegeben. Wir sind nicht für einen Krieg bereit. Krieg ist…«
Plötzlich entstand eine merkwürdige Stille. Unwillkürlich griffen beide Männer nach ihren Schwertern. Teetassen und Teekanne begannen zu klirren. Weit entfernt grollte die Erde, der ganze Turm schwankte, und wieder, und noch einmal. Das Beben dauerte ungefähr dreißig Sekunden. Dann war es vorbei – ebenso plötzlich, wie es gekommen war. Ruhig und gelassen warteten sie, während sie die Tassen beobachteten.
Kein Nachbeben.
Immer noch kein Nachbeben.
Überall in der Burg und in Edo wurde gewartet. Alle Lebewesen warteten. Nichts. Yoshi trank einen Schluck Tee und stellte die Tasse sorgfältig auf die Untertasse zurück; Anjo beneidete ihn um seine Beherrschung. Innerlich war Yoshi jedoch in Aufruhr und dachte: Heute haben mir die Götter gelächelt, aber was ist mit dem nächsten Beben, oder dem übernächsten, oder dem darauffolgenden – jeden Moment jetzt, oder in der Zeitspanne einer Kerze, oder heute nachmittag, oder heute abend, oder morgen? Karma!
Heute bin ich sicher, aber bald wird es wieder ein schlimmes geben, ein mörderisches Beben wie vor sieben Jahren, als ich fast gestorben bin und in Edo allein einhunderttausend Menschen umkamen – durch das Beben und in den Bränden, die jedesmal folgen, ganz zu schweigen von den Zehntausenden, die von der Tsunami, die in jener Nacht unversehens aus dem Meer aufstieg, ins Meer hinausgespült wurden und ertranken, und eine davon meine bezaubernde Yuriko, damals die Liebe meines Lebens.
Er zwang sich, seine Angst zu beherrschen. »Krieg wäre im Augenblick höchst unklug: Satsuma ist zu stark, die Tosa- und Choshu-Legionen werden sich in aller Offenheit verbünden, wir sind nicht stark genug, sie ganz allein zu besiegen.« Tosa und Choshu waren weit von Edo entfernte Lehen, beide historische Feinde des Shōgunats.
»Die wichtigsten Daimyos werden, wenn wir sie rufen, zu unseren Fahnen eilen, die übrigen werden folgen.« Anjo versuchte zu verbergen, wieviel Mühe es ihn kostete, den Griff zu lockern, mit dem er noch immer sein Schwert gepackt hielt.
Yoshi war aufmerksam und gut ausgebildet; der kleine Lapsus entging ihm nicht, und er merkte ihn sich, erfreut, seinen Gegner durchschaut zu haben. »Das werden sie nicht, noch nicht. Sie werden zögern, große Worte schwingen, jammern, uns aber nicht helfen, Satsuma zu zerschlagen.«
»Wenn nicht jetzt – wann?« Anjos Wut machte sich Luft, angeheizt durch seine Angst und seinen Widerwillen gegen Erdbeben. Er hatte als Kind ein sehr schlimmes Beben erlebt, bei dem sein Vater zur lebenden Fackel wurde, die Mutter und zwei Brüder vor seinen Augen verkohlten. Seitdem stieg bereits beim leichtesten Beben jener Tag wieder vor ihm auf. »Früher oder später müssen wir diesen Hund demütigen. Warum nicht jetzt?«
»Weil wir warten müssen, bis wir besser bewaffnet sind. Sie – Satsuma, Tosa und Choshu – verfügen über ein paar moderne Waffen, Geschütze und Gewehre, wie viele, ist uns nicht bekannt. Und über mehrere Dampfschiffe.«
»Ihnen gegen den Wunsch des Shōgunats von den Gai-Jin verkauft!«
»Wegen der schwachen Position des Shōgunats von ihnen gekauft.«
Anjos Gesicht rötete sich. »Dafür bin ich nicht verantwortlich!«
»Ich auch nicht!« Yoshi packte den Schwertgriff fester. »Aus welchem Grund auch immer – diese Lehen sind besser bewaffnet als wir. Tut mir leid, aber wir werden warten müssen. Die Satsuma-Frucht ist für uns noch nicht faulig genug, um einen Krieg zu riskieren, den wir allein nicht gewinnen können. Wir sind isoliert, Sanjiro nicht.« Sein Ton wurde schärfer. »Aber ich stimme zu, daß es bald zu einer Abrechnung kommen muß.«
»Morgen werde ich den Rat bitten, den Befehl auszustellen.«
»Für das Shōgunat, für Sie selbst und alle Toranaga-Clans hoffe ich, daß die anderen auf mich hören werden!«
»Wir werden sehen, morgen. Sanjiros Kopf sollte, allen Verrätern zur Abschreckung, auf einen Spieß gesteckt und ausgestellt werden.«
»Ich stimme zu, daß Sanjiro den Tokaidō-Mord befohlen haben muß, um uns in Verlegenheit zu bringen«, sagte Yoshi. »Das wird die Gai-Jin furchtbar ärgern. Unsere einzige Möglichkeit ist die Verzögerung. Unsere nach Europa geschickte Abordnung müßte jetzt jeden Tag zurückkehren; dann dürften unsere Sorgen vorüber sein.«
Neun Monate zuvor, im Januar, hatte das Shōgunat die erste offizielle Abordnung aus Japan per Dampfschiff nach Amerika und Europa geschickt, und zwar mit dem geheimen Befehl, die Verträge – die roju betrachteten sie als ›unautorisierte, vorläufige Vereinbarungen‹ – mit der britischen, der französischen und der amerikanischen Regierung neu auszuhandeln und jede weitere Öffnung von Häfen zu widerrufen oder zu verzögern. »Ihre Befehle waren klar. Inzwischen dürften die Verträge annulliert worden sein.«
Anjo antwortete düster: »Wenn also nicht Krieg, dann sind Sie aber jedenfalls auch der Meinung, daß der Zeitpunkt gekommen ist, Sanjiro aus dem Weg zu räumen, nicht wahr?«
Der Jüngere war zu vorsichtig, um ihm offen zuzustimmen; er fragte sich, was Anjo plante oder bereits geplant hatte. Er arrangierte seine Schwerter bequemer und gab vor, über die Frage nachzudenken. Er fand seine neue Position äußerst befriedigend. Jetzt bin ich wieder im Zentrum der Macht. O ja, gewiß – Sanjiro hat mich hierhergebracht, aber nur, um mich zu vernichten: indem er mich noch deutlicher öffentlich für all die Probleme verantwortlich macht, die uns diese verfluchten Gai-Jin eingebrockt haben, indem er mich dadurch zur Zielscheibe für die verfluchten Shishi macht – und um unsere Erbrechte, unseren Reichtum und das Shōgunat an sich zu bringen. Macht nichts, ich weiß, was er und sein Laufbursche Katsumata planen, ich kenne seine wahren Absichten, ebenso wie die seiner Verbündeten. Es wird ihm nicht gelingen, das schwöre ich bei meinen Ahnen.
»Wie wollen Sie Sanjiro eliminieren?«
Anjos Miene verfinsterte sich, als er an seine letzte, heftige Auseinandersetzung mit dem Daimyo von Satsuma einige Tage zuvor dachte.
»Ich wiederhole«, hatte Sanjiro hochfahrend gesagt, »gehorchen Sie den Anregungen des Kaisers: Berufen Sie umgehend eine Sitzung aller älteren Daimyos ein, bitten Sie sie demütig, einen ständigen Rat zu bilden, um das Shōgunat zu beraten, zu reformieren und zu leiten, annullieren Sie Ihre niederträchtigen und unautorisierten Gai-Jin-Verträge, lassen Sie alle Häfen für die Gai-Jin schließen, und wenn sie nicht freiwillig gehen, jagen Sie sie umgehend fort!«
»Ich sage es Ihnen noch einmal: Nur das Shōgunat hat das Recht, Außenpolitik zu betreiben, weder der Kaiser noch etwa Sie! Wir wissen beide, daß Sie ihn hintergangen haben«, entgegnete Anjo, der ihn für seine Abstammung, seine Truppen, seinen Reichtum und seine offensichtlich gute Gesundheit haßte. »Ihre Vorschläge sind lächerlich und undurchführbar! Wir haben jetzt seit zweieinhalb Jahrhunderten Frieden und…«
»Ja, zum wachsenden Wohlstand der Toranagas«, fiel ihm Sanjiro ironisch ins Wort. »Wenn Sie sich weigern, unserem rechtmäßigen Lehnsherrn, dem Kaiser, zu gehorchen, dann treten Sie zurück oder begehen Sie Seppuku. Sie haben einen Knaben zum Shogun gewählt, dieser Verräter taikō Ii hat die ›Verträge‹ unterzeichnet. Es ist die Schuld der Bakufu, daß die Gai-Jin hier sind, Ihre Schuld!«
Anjo war errötet, fast in den Wahnsinn getrieben von der hämisch grinsenden Bosheit und den Provokationen, die er seit Monaten ertragen mußte, und wäre Sanjiro nicht durch das kaiserliche Mandat geschützt gewesen – er hätte nach seinem Schwert gegriffen. »Wenn taikō Ii die Verträge nicht ausgehandelt und unterzeichnet hätte, dann hätten die Gai-Jin sich mit ihren Geschützen den Weg an Land freigeschossen, und wir wären jetzt ebenso gedemütigt wie China.«
»Reine Vermutung – Unsinn!«
»Haben Sie vergessen, daß Pekings Sommerpalast letztes Jahr niedergebrannt wurde, Sanjiro-donno? Inzwischen ist China praktisch zerstückelt und die Regierung nicht mehr unter chinesischer Kontrolle. Haben Sie vergessen, daß sie den Briten, dem Hauptfeind, vor zwanzig Jahren eine ihrer Inseln, Hongkong, überlassen haben, die zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut wurde? Daß Tientsin, Shanghai, Swatow heute selbständige, von den Gai-Jin in Besitz genommene und beherrschte Vertragshäfen sind? Angenommen, sie würden sich einer unserer Inseln auf dieselbe Art und Weise bemächtigen?«
»Das würden wir verhindern – wir sind keine Chinesen.«
»Wie denn? Tut mir leid, aber Sie sind blind und taub, und Ihr Kopf steckt in den Wolken. Vor einem Jahr, als der letzte Chinakrieg aus war – wenn wir sie da provoziert hätten, so hätten sie all diese Flotten und Heere gegen uns ins Feld geschickt und uns ebenfalls überrannt. Nur die Klugheit der Bakufu hat sie aufgehalten. Wir hätten uns nicht gegen diese Armada wehren können – und nicht gegen ihre Geschütze und Gewehre.«
»Ich stimme zu, es ist die Schuld des Shōgunats, daß wir unvorbereitet sind, die Schuld der Toranagas. Wir hätten vor Jahren schon moderne Geschütze und Kriegsschiffe haben müssen, wir wußten seit Jahren von ihnen. Haben die Holländer uns nicht Dutzende von Malen über ihre neuen Erfindungen in Kenntnis gesetzt? Aber Sie haben den Kopf in Ihren Nachttopf gesteckt! Sie haben den Kaiser im Stich gelassen. Sie hätten sich höchstens auf einen Hafen einlassen dürfen, Deshima – warum dem amerikanischen Feind Yokohama geben, Hirodate, Nagasaki, Kanagawa, und sie für ihre unverschämten Gesandtschaften auch noch nach Edo hineinlassen! Treten Sie zurück und überlassen Sie es anderen, fähigeren Männern, das Land der Götter zu retten…«
Bei der Erinnerung an diesen Zusammenstoß brach Anjo der Schweiß aus – und bei der Erkenntnis, daß vieles von dem, was Sanjiro gesagt hatte, richtig war. Er zog ein Taschentuch aus seinem weiten Ärmel, wischte sich den Schweiß von der Stirn und dem kahlrasierten Schädel und sah wieder zu Yoshi hinüber, dem er seine Haltung, sein gutes Aussehen, vor allem aber seine Jugend und seine legendäre Männlichkeit neidete.
Vor gar nicht so langer Zeit war es noch leicht, zufrieden zu sein, war es normal, potent zu sein, dachte er bedrückt, während sich der ständige Schmerz in seinen Lenden bemerkbar machte. Vor gar nicht so langer Zeit war es noch leicht, eine Erektion zu bekommen und reichlich aufgeladen zu sein – unmöglich jetzt, nicht mal mit Hilfe der begehrenswertesten Frau, der geschicktesten Manipulationen, der kostbarsten Salben und Medikamente.
»Sanjiro mag denken, daß er außer Reichweite ist, aber das ist er nicht«, erklärte er energisch. »Denken Sie darüber nach, Yoshi-donno, unser junger, aber ach so weiser Ratgeber, wie man ihn beseitigen kann, sonst könnte nur allzu bald Ihr eigener Kopf auf einem Pfahl stecken.«
Yoshi beschloß, nicht gekränkt zu sein, und lächelte. »Was raten die anderen Ältesten?«
»Die werden mir beistimmen.«
»Wenn Sie kein Verwandter wären, würde ich Ihnen vorschlagen, zurückzutreten oder Seppuku zu begehen.«
»Wie schade, daß Sie nicht Ihr berühmter Namensvetter sind und es mir tatsächlich befehlen können, eh?«
Schwerfällig erhob sich Anjo. »Ich werde anweisen, daß alles verzögert werden soll. Morgen werden wir offiziell über Sanjiro abstimmen…« Zornig fuhr er zu einem Wächter herum, der die Tür geöffnet hatte. Yoshi hatte das Schwert schon halb aus der Scheide gezogen. »Ich habe doch Befehl gegeben …«
Der bestürzte Wachtposten stammelte: »Entschuldigen Sie, Anjo-sama…«
Anjos Wut verrauchte, als ein junger Mann den Wachtposten beiseite stieß und in den Raum gestürzt kam, dicht gefolgt von einem höchstens einsfünfzig großen Mädchen, beide reich gekleidet und übersprudelnd, in ihrem Kielwasser vier bewaffnete Samurai und dahinter eine Matrone und eine Hofdame. Sofort knieten Anjo und Yoshi nieder und beugten den Kopf bis auf die Tatami. Das Gefolge erwiderte die Verneigung. Der junge Mann, Shōgun Nobusada, tat es nicht. Ebensowenig das junge Mädchen, die Kaiserliche Prinzessin Yazu, seine Frau. Beide waren im selben Alter, sechzehn.
»Das Erdbeben hat meine Lieblingsvase zerstört«, erklärte der junge Mann erregt, Yoshi betont ignorierend. »Meine Lieblingsvase!« Er winkte einem Wachtposten, die Tür zu schließen. Seine Wachen und die Damen seiner Frau blieben. »Ich wollte Ihnen mitteilen, daß ich eine großartige Idee habe.«
»Tut mir leid um Ihre Vase, Sire.« Anjos Ton war freundlich. »Sie haben eine Idee?«
»Wir… Ich habe beschlossen, daß wir, meine Frau und ich, wir … ich habe beschlossen, daß wir nach Kyōto reisen, den Kaiser besuchen und ihn fragen, was wir mit den Gai-Jin machen und wie wir sie loswerden können!« Strahlend sah der junge Mann zu seiner Frau hinüber, die fröhlich zustimmend nickte. »Im nächsten Monat – ein Staatsbesuch.«
Anjo und Yoshi hatten das Gefühl, explodieren zu müssen; beide wären am liebsten losgesprungen, um den Knaben für seinen Mangel an Verstand zu erwürgen. Aber beide wahrten die Beherrschung, beide waren an seine schmollende Dummheit und seine Wutanfälle gewöhnt, und beide verfluchten zum tausendstenmal den Tag, an dem die Ehe dieser beiden arrangiert und vollzogen worden war.
»Eine interessante Idee, Sire«, antwortete Anjo zurückhaltend und behielt die junge Frau im Auge, ohne sie direkt zu beobachten, bemerkte, daß ihre Aufmerksamkeit sich nun mehr auf ihn konzentrierte und daß sie zwar mit den Lippen lächelte, mit den Augen aber, wie üblich, nicht. »Ich werde Ihren Vorschlag dem Ältestenrat unterbreiten, und wir werden ihn eingehend beraten.«
»Gut«, sagte Nobusada wichtigtuerisch. Er war ein kleiner, magerer junger Mann, nur einsfünfundsechzig groß, der stets, um größer zu wirken, dicke geta trug, Sandalen. Seine Zähne waren, wie es die Hofmode von Kyōto vorschrieb, hier in Shōgunats-Kreisen aber noch nicht üblich war, schwarz gefärbt. »Drei bis vier Wochen sollten genügen, um alles vorzubereiten.« Mit naivem Lächeln wandte er sich an seine Frau. »Habe ich noch etwas vergessen, Yazu-chan?«
»Nein, Sire«, antwortete sie geziert, »wie könnten Sie etwas vergessen?« Sie hatte ein zartes Gesichtchen, im klassischen Kyōto-Hofstil hergerichtet: gezupfte und statt dessen hochgeschwungene, gemalte Brauen auf kalkweißem Make-up, schwarz gefärbte Zähne, das dichte, rabenschwarze Haar hoch aufgetürmt und mit reich geschmückten Nadeln festgesteckt. Purpurroter Kimono mit einem Muster von Herbstlaubzweigen, dazu ein breiter, goldener Gürtel, der Obi. Die Kaiserliche Prinzessin Yazu, Stiefschwester des Himmelssohnes, seit sechs Monaten mit Nobusada verheiratet, für ihn ausgewählt, als sie zwölf Jahre alt war, im Alter von vierzehn Jahren mit ihm verlobt und ihm mit sechzehn angetraut. »Natürlich ist eine Entscheidung, die Sie treffen, immer eine Entscheidung und kein Vorschlag.«
»Selbstverständlich, verehrte Prinzessin«, entgegnete Yoshi hastig. »Aber es tut mir leid, Sire, so wichtige Vorbereitungen können unmöglich innerhalb von vier Wochen getroffen werden. Darf ich Ihnen den Rat geben, zu bedenken, daß die Implikationen eines solchen Besuches falsch ausgelegt werden könnten?«
Nobusadas Lächeln erstarb. »Implikationen? Rat? Was für Implikationen? Falsch ausgelegt – von wem? Von ihnen?« gab er grob zurück.
»Nein, Sire, von mir nicht. Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, daß noch nie ein Shōgun nach Kyōto gereist ist, um den Kaiser um Rat zu bitten, und daß ein solcher Präzedenzfall sich katastrophal auf Ihre Herrschaft auswirken könnte.«
»Wieso?« fragte Nobusada zornig. »Das verstehe ich nicht.«
»Weil der Shōgun, wie Sie sich erinnern werden, die ererbte Pflicht hat, zusammen mit seinem Ältestenrat und dem Shōgunat dem Kaiser die Entscheidungen abzunehmen.« Yoshi sprach bemüht freundlich. »Das ermöglicht es dem Sohn des Himmels, seine Zeit ausschließlich damit zu verbringen, für uns alle mit den Göttern zu sprechen, und dem Shōgunat, dafür zu sorgen, daß sein wa nicht von weltlichen und niederen Geschehnissen gestört wird.«
Betont liebenswürdig sagte Prinzessin Yazu: »Was Toranaga Yoshi-sama sagt, ist richtig, mein Gatte. Leider haben die Gai-Jin sein wa inzwischen, wie wir alle wissen, bereits gestört, daher würde es eindeutig sowohl höflich als auch familiengerecht sein, meinen Bruder, den Erhabenen, um Rat zu fragen. Das würde keine historischen Rechte verletzen.«
»Jawohl.« Der junge Mann wölbte die Brust. »So ist es beschlossen!«
»Der Rat wird Ihren Wunsch umgehend in Erwägung ziehen.«
Nobusadas Züge verzerrten sich, und er rief erregt: »Wunsch? Es ist mein Entschluß! Unterbreiten Sie ihn, wenn Sie das unbedingt wollen, aber ich habe mich bereits entschieden. Ich bin der Shōgun, nicht Sie! Ich! Ich habe mich entschieden! Ich wurde gewählt, und Sie wurden abgewiesen – von allen loyalen Daimyos. Ich bin der Shōgun, Vetter!«
Alle waren über den Ausbruch entgeistert. Bis auf das junge Mädchen. Sie lächelte in sich hinein und hielt die Augen niedergeschlagen. Gut, sehr gut, dachte sie; endlich beginnt meine Rache.
»Gewiß, Sire«, gab Yoshi ruhig zurück, obwohl ihm die Farbe aus dem Gesicht gewichen war. »Aber ich bin Ihr Vormund und muß Ihnen abraten…«
»Ich will Ihren Rat nicht! Niemand hat mich gefragt, ob ich einen Vormund will. Ich brauche keinen Vormund, Vetter, am allerwenigsten Sie.«
Yoshi musterte den jungen Mann, der vor Wut zitterte. Früher war ich genau wie du, dachte er kalt, eine Marionette, der man dies oder das befahl, von meiner eigenen Familie fortgeschickt, um von einer anderen adoptiert zu werden. Ich wurde verheiratet, verbannt und sechsmal fast ermordet, und das alles nur, weil die Götter beschlossen hatten, mich als Sohn meines Vaters zur Welt kommen zu lassen – genau wie du, erbärmlicher Narr, als Sohn deines Vaters geboren wurdest. Ich bin in vieler Hinsicht wie du, war aber niemals ein Narr, immer ein Schwertkämpfer. Heute bin ich keine Marionette mehr. Sanjiro aus Satsuma weiß es noch nicht, aber er hat mich zum Puppenspieler gemacht. »Solange ich Ihr Vormund bin, werde ich Sie bewachen und beschützen, Sire«, erklärte er. Sein Blick wanderte kurz zu dem jungen Mädchen hinüber, das äußerlich so zierlich und zart wirkte. »Und Ihre Familie.«
Sie erwiderte seinen Blick nicht. Das war nicht nötig. Beide wußten, daß Krieg erklärt worden war. »Wir sind froh über Ihren Schutz, Yoshi-sama.«
»Ich nicht!« kreischte Nobusada. »Du warst mein Rivale, und nun bist du nichts! In zwei Jahren, wenn ich achtzehn bin, werde ich allein regieren, und du…« Mit zitterndem Finger deutete er auf Yoshis gleichmütiges Gesicht, und alle erschraken, bis auf das junge Mädchen. »Wenn du nicht gehorchen lernst, werde ich dich… wirst du für immer auf die Nordinsel verbannt werden. Wir reisen nach Kyōto!«
Er fuhr herum. Hastig stieß ein Wachtposten die Tür auf. Alle verneigten sich, als Nobusada hinausstürzte, und sein Gefolge verließ hinter ihm ebenfalls den Saal. Als sie wieder allein waren, wischte sich Anjo den Schweiß vom Hals. »Sie ist… sie ist die Quelle all dieser… Aufregung und ›Intelligenz‹«, behauptete er säuerlich. »Seit sie hier ist, hat sich dieser Dummkopf noch dämlicher angestellt als vorher.«
Yoshi verbarg seine Verwunderung darüber, daß Anjo eine so offenkundige, wenn auch gefährliche Bemerkung laut aussprach. »Tee?«
Anjo nickte verdrossen, wieder einmal neidisch auf die Kraft und Eleganz des Jüngeren… In mancher Hinsicht ist Nobusada gar nicht so dumm, dachte er. Was dich angeht, so bin ich derselben Meinung wie der Dummkopf, je schneller ihr entfernt werdet, du und Sanjiro, desto besser, ihr bedeutet beide nur Ärger. Könnte der Rat beschließen, deine Macht als Vormund einzuschränken oder dich zu verbannen? Es stimmt, du treibst diesen törichten Jungen jedesmal, wenn er dich sieht, in den Wahnsinn – genau wie sie. Wenn du nicht wärst, würde ich mit diesem Miststück fertig werden, ob sie nun des Kaisers Stiefschwester ist oder nicht. Und ausgerechnet ich war nicht nur für diese Heirat, sondern habe auch noch taikō Iis listigen Plan ausgeführt – trotz der Einwände des Kaisers gegen diese Verbindung. Haben wir nicht sein zögerndes erstes Angebot seiner dreißigjährigen Tochter und dann seines einjährigen Babys ausgeschlagen, bis er sich endlich, unter Druck, mit seiner Stiefschwester einverstanden erklärte?
Gewiß, diese enge Verbindung Nobusadas mit der kaiserlichen Familie hat unsere Position Sanjiro und den äußeren Lehnsherren gegenüber gefestigt, unsere Position gegenüber Yoshi und all jenen, die statt dessen ihn zum Shōgun ernannt sehen wollten. Und diese Verbindung wird allmächtig werden, sobald sie einen Sohn geboren hat – das wird sie dämpfen und ihr das Gift nehmen. Ihre Schwangerschaft ist überfällig. Der Arzt des Jungen wird die Ginsengdosis erhöhen oder ihm einige von den Spezialpillen verabreichen, um die Leistung dieses jungen Laffen zu verbessern, erschreckend, in seinem Alter so schlapp zu sein. Jawohl, je schneller sie schwanger wird, desto besser.
Er leerte seine Teetasse. »Wir sehen uns morgen bei der Sitzung.« Beide verneigten sich mechanisch.
Yoshi, der frische Luft und Zeit zum Nachdenken brauchte, verließ das Zimmer und ging auf die zinnenbewehrte Brustwehr hinaus. Unten sah er die ausgedehnten, steinernen Festungsanlagen mit drei konzentrischen Burggräben, unüberwindlichen Verteidigungsschwerpunkten, mit Zugbrücken und wahrhaft monströsen Mauern. Innerhalb der Burgmauern lagen nicht nur Quartiere für fünfzigtausend Samurai und zehntausend Pferde, sondern auch zahllose Gärten, weite Hallen und Paläste für auserwählte, loyale Familien – wobei innerhalb des inneren Grabens nur die Toranaga-Familien wohnten.
Im zentral gelegenen Hauptturm befanden sich die am besten gesicherten Wohnbezirke und das Allerheiligste des regierenden Shōgun, seiner Familie, seiner Höflinge und Gefolgsleute. Und die Schatzkammern. Als Vormund wohnte auch Yoshi dort, unwillkommen und ganz am Rand, aber auch sicher und mit eigenen Wachen.
Hinter dem äußeren Burggraben lag der erste schützende Kreis der Daimyo-Paläste – riesige, luxuriöse, weitläufige Bauten; daran schlossen sich mehrere Kreise etwas geringerer Residenzen an, eine für jeden Daimyo im Land. Allen Daimyos war ihr Bauplatz vom Shōgun Toranaga persönlich zugewiesen worden, und alle Paläste waren in Übereinstimmung mit seinem neuen Gesetz der sankin-kotai, der alternativen Residenz, erbaut worden.
»Sankin-kotai«, hatte Shōgun Toranaga gesagt, »verlangt, daß alle Daimyos sich sofort eine ›angemessene Residenz‹ vor meinen Burgmauern bauen und für immer behalten, und zwar in der Lage, die ich ihnen zuweise, wo sie mit ihren Familien und einigen alten Vasallen ständig zu wohnen haben, und jeder Palast muß kostbar ausgestattet und mit Verteidigungsanlagen versehen sein. Einmal in drei Jahren darf und soll der Daimyo zu seinem Lehen zurückkehren und dort mit seinen Gefolgsleuten wohnen, doch ohne Ehefrau, Konkubine, Mutter, Vater, Kinder, Kindeskinder oder andere Mitglieder seiner nächsten Familie. Die Reihenfolge, in der die Daimyos reisen oder hier bleiben, wird ebenfalls wohlüberlegt geregelt werden, und zwar an Hand nachfolgender Liste mitsamt dem jeweils entsprechenden Zeitplan…«
Das Wort ›Geisel‹ war nie gefallen, obwohl die Geiselnahme, befohlen oder angeboten, um Willfährigkeit zu garantieren, ein uralter Brauch war. Sogar Toranaga selbst war als Kind einst Geisel des Diktators Goroda gewesen; seine Familienmitglieder waren Geiseln von Gorodas Nachfolger Nakamura, seines Verbündeten und Lehnsherrn; und er, der letzte und größte, erweiterte den Brauch zum sankin-kotai, um sie alle zusammen in Schach zu halten.
»Zugleich«, hatte er in seinem Vermächtnis geschrieben, einem privaten Dokument für ausgewählte Nachkommen, »wird den nachfolgenden Shōgunen befohlen, alle Daimyos zu ermuntern, luxuriös zu bauen, in elegantem Stil zu leben, sich reich zu kleiden und üppig zu amüsieren, damit sie das alljährliche Koku-Einkommen aus ihrem Lehen möglichst schnell ausgeben, das nach korrektem, unveränderlichem Brauch einzig dem betreffenden Daimyo gehört. So werden sie sich schnell verschulden, immer abhängiger von uns werden und, weit wichtiger, zahnlos sein, während wir weiterhin sparsam leben und jede Extravaganz vermeiden.
Trotzdem sind einige Lehen – Satsuma, Mori, Tosa, Kii zum Beispiel – so reich, daß selbst nach derartigen Extravaganzen ein viel zu gefährlicher Überschuß zurückbleibt. Daher wird der herrschende Shōgun von Zeit zu Zeit den Daimyo auffordern, ihm ein paar Meilen neuer Straße, einen Palast, einen Garten, ein Lustschloß oder einen Tempel zu schenken, wobei die Summen, der Zeitpunkt und die Häufigkeit dieser Geschenke im folgenden Dokument festgelegt werden…«
»So klug, so weit vorausdenkend«, murmelte Yoshi. Jeder Daimyo in einem Seidennetz gefangen, hilf- und wehrlos. Und alles durch Anjos Dummheit ruiniert.
Mit seinem ersten ›Wunsch‹, von Sanjiro vor den Rat gebracht, noch ehe Yoshi Mitglied wurde, verlangte der Kaiser, diesen uralten Brauch abzuschaffen. Anjo und die anderen hatten Ausflüchte gemacht, diskutiert und schließlich zugestimmt. Und fast über Nacht hatten alle Frauen, Konkubinen, Kinder, Verwandten und Krieger die Ringe der Paläste verlassen, so daß sie innerhalb weniger Tage zu einem von nur wenigen alten Gefolgsleuten bewohnten Ödland wurden.
Unser wichtigstes Machtinstrument – unwiderbringlich dahin, dachte Yoshi bitter. Wie hat Anjo nur so ungeschickt sein können?
Er ließ den Blick über die Paläste wandern, bis zu der Hauptstadt hinab, deren eine Million zählende Einwohner alle der Burg dienten und von ihr lebten, einer von Wasserläufen und Brücken durchzogenen, fast ganz aus Holz erbauten Riesenstadt. Heute waren zahlreiche Brände – die Blüten der Erdbeben – zu sehen, die sich bis zur Küste hinabzogen. Einer der großen Holzpaläste stand in Flammen.
Wie Yoshi nebenbei feststellte, gehörte er dem Daimyo von Sai. Gut. Sai unterstützt Anjo. Die Familien sind verschwunden, aber der Rat kann ihm befehlen, den Palast wieder aufzubauen, und die Kosten werden ihn endgültig ruinieren.
Vergessen wir ihn! Was haben wir gegen die Gai-Jin aufzubieten? Es muß doch etwas geben! Jeder sagt, sie könnten Edo niederbrennen, nicht aber in die Burg eindringen oder eine lange Belagerung durchhalten. Ich bin anderer Meinung. Gestern hat Anjo den Ältesten wieder die wohlbekannte Geschichte der Belagerung von Malta vor über dreihundert Jahren erzählt, als es den türkischen Armeen nicht gelang, sechshundert tapfere Ritter aus ihrer Burg zu vertreiben. »Wir haben Zehntausende von Samurai«, hatte Anjo erklärt, »die den Gai-Jin alle feindselig gegenüberstehen. Wir müssen siegen, sie müssen abziehen.«
»Aber weder die Türken noch die Christen hatten Geschütze«, hatte er eingewandt. »Vergessen Sie nicht, daß Shōgun Toranaga die Burg Osaka mit Gai-Jin-Geschützen erobert hat – dieses Gezücht kann hier das gleiche tun.«
»Selbst wenn sie es täten, hätten wir uns bis dahin längst in die Sicherheit der Berge zurückgezogen. Dann würde jeder Samurai und jeder Mann, jede Frau und jedes Kind im Land – sogar die stinkenden Kaufleute – zu unseren Fahnen eilen und wie die Heuschrecken über sie herfallen. Wir haben nichts zu befürchten«, hatte Anjo verächtlich behauptet. »Die Burg Osaka war ein anderer Fall, das war Daimyo gegen Daimyo, nicht eine Invasion. Der Feind kann einen Landkrieg nicht durchhalten. In einem Landkrieg müssen wir siegen.«
»Sie würden alles verwüsten, Anjo-sama. Uns bliebe nichts mehr zu regieren. Die einzige Möglichkeit für uns wäre, die Gai-Jin in einem Netz zu fangen, wie eine Spinne ihre weit größere Beute fängt. Wir müssen eine Spinne sein und uns ein Netz suchen.« Aber sie wollten nicht auf ihn hören.
Wo ist das Netz?
»Zunächst muß man das Problem erkennen«, hatte Shōgun Toranaga in seinem Vermächtnis geschrieben, »dann erst kann man mit viel Geduld die Lösung finden.«
Das Problem mit den Fremden war folgendes: Wie können wir uns ihr Wissen, ihre Waffen, ihre Flotten, ihren Reichtum aneignen, mit ihnen zu unseren Bedingungen Handel treiben und sie dennoch alle vertreiben, die ungerechten Verträge annullieren und es ihnen nicht gestatten, ohne strenge Restriktionen jemals wieder den Fuß an unsere Küste zu setzen.
Im Vermächtnis hieß es weiter: »Die Lösung für alle Probleme unseres Landes ist hier zu finden oder in Sun-tzu, und in der Geduld.«
Shōgun Toranaga war der geduldigste Herrscher von der Welt gewesen, dachte er, zum tausendstenmal von Ehrfurcht erfüllt.
Obwohl er – von der Burg Osaka abgesehen, der uneinnehmbaren, von dem Diktator Nakamura erbauten Festung – oberster Herrscher im Lande war, hatte er zwölf Jahre gewartet, um die Falle zu schließen, die er mit einem Köder bestückt hatte. Die Burg war fest in der Hand der Herrin Ochiba, der Witwe des Diktators, ihres siebenjährigen Sohnes und Erben Yaemon – dem Toranaga feierlich Treue geschworen hatte – und achtzigtausend fanatisch treuer Samurai.
Es hatte zwei Jahre Belagerung, dreihunderttausend Mann, die Geschütze des holländischen Kaperers Erasmus – mit dem Anjin-san, der Engländer, nach Japan gesegelt war – sowie ein ebenfalls von ihm gedrilltes Musketierregiment, einhunderttausend Mann Verluste, all seine Tücke und einen wichtigen Verräter innerhalb der Mauern gekostet, bis die Herrin Ochiba und Yaemon es vorzogen, Seppuku zu begehen, statt sich in Gefangenschaft zu begeben.
Dann hatte Toranaga die Burg Osaka dem Erdboden gleichgemacht, die Geschütze vernagelt, alle Musketen vernichtet, das Musketierregiment aufgelöst, die Herstellung und den Import sämtlicher Feuerwaffen verboten, die Macht der portugiesischen Jesuitenpriester und christlichen Daimyos gebrochen, die Lehen neu verteilt, alle Feinde beseitigen lassen, die Gesetze des Vermächtnisses erlassen, alle Räder sowie den Bau von seetüchtigen Schiffen verboten und, unter Bedauern, ein Drittel aller Einkünfte für sich und seine unmittelbare Familie in Anspruch genommen.
»Er hat uns stark gemacht«, murmelte Yoshi. »Sein Vermächtnis verlieh uns Macht und machte das Land so sauber und befriedet, wie er es beabsichtigt hatte.«
Ich darf ihn nicht enttäuschen.
Eeee, welch ein Mann! Wie klug von seinem Sohn Sudara, dem zweiten Shōgun, der Dynastie den Namen Toranaga zu geben, statt den eigentlichen Familiennamen Yoshi zu behalten – damit wir niemals die Quelle vergessen.
Wozu würde er mir raten?
Zunächst zur Geduld, dann würde er Sun Tsu zitieren: »Kennst du deinen Feind wie dich selbst, brauchst du einhundert Schlachten nicht zu fürchten; kennst du dich selbst, nicht aber deinen Feind, wirst du für jeden Sieg auch eine Niederlage erleiden; kennst du weder deinen Feind noch dich selbst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.«
Ich weiß einiges über meinen Feind, doch nicht genug.
Ich segne meinen Vater dafür, daß er mich den Wert einer guten Ausbildung erkennen gelehrt hat, daß er mir im Laufe der Jahre so viele verschiedene Lehrer gegeben hat, ausländische wie japanische. Es ist traurig, daß mir nicht die Gabe der Sprachen vergönnt ist und ich mir daher alles durch Mittelsmänner erarbeiten mußte: durch holländische Kaufleute, um Weltgeschichte zu lernen, durch einen englischen Matrosen, um zu prüfen, ob die Holländer die Wahrheit gesagt hatten, und um mir die Augen zu öffnen – genau wie Toranaga zu seiner Zeit den Anjin-san benutzt hat –, und durch viele andere mehr.
Da waren die Chinesen, die mir Verwaltung, Literatur und Sun-tzus ›Die Kunst des Krieges‹ nahegebracht haben; da war der alte, vom Glauben abgefallene französische Priester aus Peking, der mich ein halbes Jahr lang Machiavelli gelehrt hat, den er für mich mühsam in chinesische Schriftzeichen übersetzte, um dafür im Reich meines Vaters leben und die Weidenwelt genießen zu dürfen, die er so bewunderte; der amerikanische, in Izu gestrandete Pirat, der mir von Geschützen erzählte, von Grasozeanen, Prärie genannt, von ihrer Burg namens Weißes Haus und den Kriegen, mit denen sie die Eingeborenen jenes Landes auslöschten; der russische Emigrant und Sträfling aus einem Gebiet namens Sibirien, der behauptete, ein Fürst mit zehntausend Sklaven zu sein, und Märchen von Städten namens Moskau und St. Petersburg erzählte; und all die anderen – einige lehrten nur wenige Tage, andere monatelang, doch niemals ein Jahr, während keiner von ihnen wußte, wer ich bin, und es war mir verboten, es ihnen zu sagen, weil Vater so vorsichtig und so geheimnistuerisch und so schrecklich war, wenn er sich aufregte.
»Wenn diese Männer uns verlassen, Vater«, hatte er anfangs gefragt, »was wird dann aus ihnen? Sie haben alle so große Angst. Warum denn? Du versprichst ihnen doch stets einen Lohn, nicht wahr?«
»Du bist erst elf, mein Sohn. Ich werde dir die Unhöflichkeit, mir Fragen zu stellen, verzeihen – einmal. Und um dich an meine Großmut zu erinnern, wirst du drei Tage lang nichts zu essen bekommen, allein auf den Fujijama steigen und dort ohne Decke schlafen.«
Yoshi erschauerte. Damals hatte er nicht gewußt, was Großmut bedeutet. Während jener drei Tage wäre er fast umgekommen, aber er tat, wie ihm befohlen. Als Lohn hatte ihm sein Vater, der Daimyo von Mito, mitgeteilt, er werde von der Familie Hisamatsu adoptiert und Erbe jener Toranaga-Linie werden: »Du bist mein siebter Sohn. Auf diese Weise wirst du ein eigenes Erbe haben und von etwas höherer Abstammung sein als deine Brüder.«
»Ja, Vater«, hatte er gesagt, mühsam die Tränen zurückhaltend. Damals hatte er nicht gewußt, daß er zum Shōgun erzogen wurde, und sollte es auch nie erfahren. Als Shōgun Iyeyoshi dann vor vier Jahren an der Fleckenkrankheit starb und er zweiundzwanzig und bereit und von seinem Vater vorgeschlagen war, hatte taikō Ii Einspruch erhoben und gewonnen – Iis persönliche Streitmacht gebot über die Palasttore.
Also wurde sein Vetter Nobusada ernannt. Yoshi, seine Familie, sein Vater und all ihre einflußreichen Anhänger wurden unter strengen Hausarrest gestellt. Erst als Ii ermordet wurde, erhielt er, genau wie alle anderen, die überlebt hatten, zusammen mit seinen Ländereien und Ehren die Freiheit zurück. Sein Vater war während des Hausarrests gestorben.
Ich hätte Shōgun werden müssen, dachte er zum tausendstenmal. Ich war bereit, ausgebildet und hätte die Shōgunats-Versager aufhalten, hätte eine neue Verbindung zwischen dem Shōgunat und den Daimyos herstellen und mit den Gai-Jin fertig werden können. Ich hätte diese Prinzessin zur Frau bekommen müssen, ich hätte diese Vereinbarungen nie unterzeichnet oder zugelassen, daß die Verhandlungen so traurig gegen uns verliefen. Ich wäre mit Townsend fertig geworden und hätte eine neue Ära behutsamer Veränderungen begonnen, um die Welt draußen zufriedenzustellen – in einem Tempo, das wir bestimmen, nicht sie!
Nun aber bin nicht ich Shogun, sondern Toranaga ist legal zum Shogun gewählt worden, die Verträge existieren, Prinzessin Yazu existiert, Sanjiro, Anjo und die Gai-Jin hämmern an unsere Tore.
Er erschauerte. Ich müßte noch vorsichtiger sein. Gift ist eine uralte Kunst, ein Pfeil kann bei Tag oder bei Nacht treffen, Ninja-Mörder zu Hunderten lauern da draußen, für jeden käuflich. Und dann gibt es die Shishi. Es muß eine Lösung geben! Wie sieht sie aus?
Meeresvögel, die über der Stadt und der Burg kreisten und schrien, störten ihn in seinen Gedanken. Er musterte den Himmel. Kein Anzeichen von Veränderungen oder von Unwettern, obwohl dies der Monat der Veränderungen war, in dem die starken Winde kamen und den Winter brachten. Der Winter wird in diesem Jahr schlimm werden. Keine Hungersnot, wie vor drei Jahren, aber die Ernte ist karg, sogar noch karger als letztes Jahr…
Augenblick! Was hat Anjo doch gesagt, was war es, das mich an irgend etwas erinnert, das ich nicht vergessen darf?
In steigender Erregung wandte er sich um und winkte einem der Leibwächter. »Bringt mir diesen Spion, den Fischer – wie hieß er noch? Ach ja, Misamoto. Bringt ihn heimlich in meine Gemächer – sofort! Er wird im östlichen Wachhaus festgehalten.«