25
Am späten Nachmittag desselben Tages duckte Hiraga sich in den Windschatten einer Hütte am Rand von Drunk Town, wo nervös ein kleiner, verdreckter Matrose wartete. »Gib mir das Geld, Kamerad«, forderte der Mann. »Du hast es doch, eh?«
»Ja. Pistole, bitte?«
»Mal bist du ‘n Gent, mal bist du ‘ne miese Null.« Der Mann hatte einen grauen Stoppelbart und war mißtrauisch; in seinem Gürtel steckte ein gefährliches Messer, in einem Unterarmholster ein zweites. Als Hiraga zum erstenmal am Strand mit ihm sprach, hatte er seine von Tyrer beschaffte Kleidung getragen. Heute kam er in einem schmutzigen Arbeiterwollkittel, groben Hosen und abgewetzten Stiefeln. »Was für ‘n Spielchen treibst du?«
Hiraga zuckte die Achseln; er verstand den Mann nicht. »Revolver, bitte.«
»Den Revolver willst du? Ich hab ihn hier.« Der verschlagene Blick des Mannes wanderte über das von Unkraut wuchernde, mit Müll übersäte Gelände zwischen Drunk Town und dem japanischen Dorf – von den Einwohnern Niemandsland genannt –, das Hiraga gerade durchquert hatte, vermochte aber keine fremden Beobachter zu entdecken. »Wo ist das Moos?« fragte er mürrisch. »Das Geld, verdammt noch mal, die Mexe!«
Hiraga griff in die Tasche des Kittels; für ihn fühlten sich die Kleider, die er eigens für diesen Tag gekauft hatte, unbehaglich und fremdartig an. In seiner Hand glitzerten drei mexikanische Silberdollar. »Revolver, bitte.«
Ungeduldig langte der Matrose in sein Hemd und zeigte ihm den Colt. »Den kriegst du, wenn du das Moos rausrückst.«
»Kugel, bitte?«
Ein schmutziger Lumpen aus der Hosentasche des Mannes enthielt etwa ein Dutzend Patronen. »Abgemacht ist abgemacht, und mein Wort ist mein Wort.« Der Matrose griff nach dem Geld, doch bevor er es sich nehmen konnte, hatte Hiragas Hand sich wieder geschlossen.
»Nicht gestohlen, ja?«
»‘türlich nicht gestohlen, nun mach schon, verdammt!«
Hiraga öffnete die Faust. Gierig wurden die Münzen gepackt und sorgfältig untersucht, ob sie auch nicht abgeraspelt oder gefälscht waren, während der listige Blick ständig hierhin und dahin schoß. Als er endlich zufrieden war, überreichte er Colt und Patronen und stand auf. »Laß dich nicht damit erwischen, Freundchen, sonst baumelst du, ‘türlich ist das Ding gestohlen!«
Tief gebückt schlich sich Hiraga in die vergleichsweise Sicherheit des japanischen Dorfes zurück – sicher nur, solange das Gesindel und die Betrunkenen nicht beschlossen, Krawall zu machen. Es gab keine Polizisten oder Wachtposten, von denen die Dorfbewohner Schutz erwarten konnten. Nur eine Navy- oder Army-Patrouille marschierte gelegentlich durch die Hauptstraße, und diese Männer ergriffen bei einer Schlägerei selten Partei.
Hiraga hatte viele Tage gebraucht, um diesen Kauf zu bewerkstelligen, denn Tyrer konnte er natürlich nicht um Hilfe bitten. Niemand in der Yoshiwara besaß eine Schußwaffe. Raiko hatte unangenehm berührt gesagt: »Nur Gai-Jin haben so etwas, Hiraga-san, tut mir leid. Gefährlich für zivilisierte Personen, mit einer solchen Waffe erwischt zu werden.«
Akimoto sagte grinsend: »Wenn mein Vetter eine will, dann besorgen Sie ihm eine, Raiko! Sie können doch alles, neh? Dafür dürfen Sie auch ohne Bezahlung mit mir schlafen…« Er duckte sich, weil sie ein Kissen nach ihm warf und in sein Lachen einstimmte.
Raiko fächelte sich. »Ah, Hiraga-san, es tut mir leid«, sagte sie, »bitte, nehmen Sie diesen unartigen Mann mit hinaus, zwei meiner Mädchen haben schon einen freien Tag beantragt, damit sich ihr Yin vom Ansturm seines Yang erholen kann…«
Als sie allein waren, sagte Akimoto, jetzt ohne Scherz: »Vielleicht solltest du deine Absicht ändern. Vergiß die Waffe. Ich möchte versuchen, Ori zu überreden, sich hier mit uns zu treffen.«
Hiraga, der über die Gesellschaft seines gutmütigen Vetters erfreut war, schüttelte den Kopf. »Ori hat eine Schußwaffe, er wird sie sofort gegen uns benutzen, wenn er uns sieht. Ich habe auf jede nur mögliche Art versucht, ihn aus Drunk Town herauszulocken – ohne Erfolg. Wenn ich ihm dort mit einem Revolver auflauere, wird es aussehen, als habe ein Gai-Jin die Tat begangen. Er wird jetzt jeden Tag wieder versuchen, zu diesem Mädchen zu gelangen, und dann bin ich hier unzweifelhaft erledigt.«
»Vielleicht wird ihm das Warten zuviel. Jeder einzelne Mann im Dorf ist angewiesen worden, nach ihm Ausschau zu halten, und niemand darf ihn von See her hereinschmuggeln.«
»Wer würde es wagen, einem Dorfbewohner zu trauen?«
»Dann überlaß es, wenn du die Waffe hast, wenigstens mir«, erbot sich Akimoto ernst. Er war wesentlich kräftiger als Hiraga. Nachdem er diesen bei seiner Ankunft nicht gleich erkannt hatte, hatte er sich schnell einen ähnlichen Haarschnitt zugelegt.
Schließlich hatte Hiraga am Strand den Matrosen angesprochen, sich als zu Besuch weilender chinesischer Händler aus Hongkong ausgegeben und einen Handel mit ihm abgeschlossen – unter der einzigen Bedingung, daß der Revolver nicht gestohlen sein durfte. Aber er würde natürlich gestohlen sein.
Akimoto erwartete ihn in ihrer Unterkunft in einer Dorfgasse. »Eeee, Vetter, bitte entschuldige mich«, sagte er lachend. »Überflüssig, zu fragen, ob du ihn hast, aber du siehst so komisch aus in diesen Kleidern. Wenn dich unsere Shishi-Kameraden so sehen könnten…«
Hiraga zuckte die Achseln. »So sehe ich aus wie einer der Gai-Jin-Kulis, wo immer die herkommen. Alle möglichen Gai-Jin und Kulis in Drunk Town kleiden sich so.« Er rückte seine Hose bequemer zurecht; er hatte sich zwischen den Beinen wund gerieben. »Ich kann einfach nicht begreifen, wie sie ständig so schwere Kleider, einengende Hosen und erstickende Jacken tragen können – und wenn es heiß ist, eeee, sind sie ganz furchtbar.« Während er sprach, prüfte er die Funktionen der Waffe, wog sie auf der Hand, zielte mit ihr. »Ziemlich schwer.«
»Saké?«
»Danke. Und dann werde ich mich bis zum Sonnenuntergang ausruhen.« Er lud den Revolver, trank einen Schluck Saké und streckte sich, zufrieden mit sich selbst, auf den Futons aus. Er schloß die Augen, begann zu meditieren. Als er zum Frieden mit sich selbst gelangt war, ließ er sich treiben. Innerhalb von Sekunden war er eingeschlafen.
Bei Sonnenuntergang erwachte er. Akimoto hielt immer noch Wache. Er blickte aus dem winzigen Fenster. »Weder Sturm noch Regen heute abend«, stellte Hiraga fest, dann zog er ein Halstuch heraus und knotete es sich um den Kopf, wie er es bei den rangniederen Gai-Jin und den Matrosen gesehen hatte.
Plötzlich bekam Akimoto Angst. »Und nun?«
»Nun«, sagte er und schob sich den Revolver in den Gürtel, »werde ich Ori suchen gehen. Wenn ich nicht zurückkomme, mußt du ihn töten.«
Die meisten Dorfbewohner auf der Straße erkannten ihn nicht, und in seinen europäischen Kleidern würde er für die meisten Gai-Jin einer der vielen eurasischen oder chinesischen Händler aus Hongkong, Shanghai oder Manila sein, denn die Qualität seiner Kleider und seiner Haltung verriet seine Position und seinen Reichtum: »Aber vergiß nie, Nakama-san«, hatte ihn Tyrer immer wieder gewarnt, »so reich du auch aussiehst – wenn du allein nach Drunk Town oder anderswo hingehst, werden dich feine Kleider nicht vor Belästigungen oder Beleidigungen durch das Gesindel schützen.«
Als er sich zum erstenmal auf die Suche nach Ori machte – nachdem ihm der Shoya mitgeteilt hatte, daß Ori ungehorsam gewesen war –, war er in seinen Tyrer-Kleidern nach Drunk Town hineingestürmt und fast umgehend von einer Gruppe betrunkener Rowdys in die Enge getrieben worden, die ihn umringten, verhöhnten und beschimpften und ihn sogar angreifen wollten. Nur seine Karatekunst, eine den Gai-Jin noch unbekannte Kampfart, hatte ihn gerettet. Schäumend vor Wut hatte er sich zurückgezogen und zwei gebrochene Schädel sowie einen Schwerverletzten hinterlassen.
»Finde genau heraus, wo Ori-san ist! Auf der Stelle!« hatte er dem Shoya befohlen. »Was er macht und wie er lebt!«
Am nächsten Abend malte ihm der Shoya eine grobe Skizze: »Das Haus liegt hier, an dieser Ecke, zum Meer hinaus, in der Nähe einiger Lagerhäuser. Es ist ein Trink-Schlaf-Haus für sehr niedrigstehende Personen. Ori-san hat sich ein Zimmer gemietet und den doppelten Preis bezahlt, wie man mir sagte. Ein übles Haus, Hiraga-san, ständig voll böser Männer. Ohne einen speziellen Plan werden Sie niemals hinfinden. Ist es so wichtig, daß er fortgeschickt wird?«
»Ja. Solange er hier ist, schwebt Ihr ganzes Dorf in Gefahr.«
»So ka!«
Zwei Tage darauf hatte ihm der Shoya berichtet, daß das Ori-Haus in der Nacht niedergebrannt war und die Überreste von drei Männern in den Ruinen gefunden worden waren. »Wie ich hörte, war ›der Eingeborene‹ einer davon, Hiraga-san«, sagte der Shoya unbekümmert.
»Ein Jammer, daß nicht die ganze üble Gegend verbrannt ist mitsamt allen Gai-Jin, die darin sind.«
»Ja.«
So wurde das Leben wieder ruhig. Hiraga verbrachte weiterhin viel Zeit mit Tyrer und war es zufrieden, zu lernen und zu lehren, ohne zu ahnen, wie wichtig und informativ sein Wissen für Tyrer, Sir William und Jamie McFay war. Einen halben Tag lang hatte er mit Tyrer an Bord der britischen Fregatte verbracht. Das Erlebnis hatte ihn erschüttert und seinen Entschluß gefestigt, herauszufinden, wie diese Menschen, die er verachtete, so unglaubliche Maschinen und Kriegsschiffe erfinden konnten, wie so verächtliche Menschen von einer so winzigen Insel den immensen Reichtum anhäufen konnten, der nötig war, um so viele Schiffe, Armeen und Fabriken zu besitzen und zugleich sämtliche Seewege sowie einen großen Teil der Gai-Jin-Welt zu beherrschen.
An jenem Abend hatte er sich sinnlos betrunken; er war völlig durcheinander, einmal himmelhochjauchzend, dann wieder todtraurig, denn sein Glaube an die absolute Unbesiegbarkeit des Bushido und des Landes der Götter war schwer angeschlagen.
Die Abende verbrachte er zumeist in der Yoshiwara oder in ihrer Dorfunterkunft mit Akimoto, mit dem er Pläne schmiedete und dem er sein Gai-Jin-Wissen mitteilte. Wie tief beunruhigt er war, verbarg er allerdings vor ihm, während er das Netz um Tyrer ständig enger zog und regelrecht mit ihm Katz und Maus spielte: »Oh, tut mir leid, Taira-san, Fujiko-Vertrag sehr schwer, braucht viele Wochen, Raiko sehr schwieriger Verhandler, Vertrag teuer, sie hat viele Kunden, viele, tut mir leid, sie beschäftigt heute abend, aber Raiko sagen Fujiko warten auf Sie Abend nach morgen…«
Zu Hiragas Zorn hatte der Shoya vor etwas über zwei Wochen entdeckt, daß Ori bei dem Brand nicht umgekommen war: »…und tut mir leid, Hiraga-san, aber ich habe gehört, daß Ori-san plötzlich sehr reich geworden ist und Geld verschwendet wie ein Daimyo. Er bewohnt jetzt mehrere Räume in einem anderen Trinkhaus.«
»Ori – reich? Wie ist das möglich?«
»Tut mir leid, ich weiß es nicht, Herr.«
»Aber du weißt, wo dieses neue Haus liegt?«
»Ja, Sire. Hier. Hier ist der Plan, tut mir leid, daß…«
»Macht nichts«, hatte Hiraga wütend erwidert. »Heute abend räuchere ich ihn wieder aus.«
»Tut mir leid, Hiraga-san, aber das ist nicht mehr so einfach.« Äußerlich war der Shoya zerknirscht, innerlich aber wütend darüber, daß seine erste, schnelle Lösung hinsichtlich des wahnsinnigen Ronin nicht den Zweck erfüllt hatte, für den er bezahlt hatte. »Es ist nicht mehr so leicht, weil dieses Haus abseits liegt und er, wie es scheint, viele Leibwachen hat – Gai-Jin-Leibwachen!«
Eiskalt hatte Hiraga die Konsequenzen erwogen. Durch einen Dorfbewohner, der in Drunk Town Fisch verkaufte, schickte er Ori einen zuckersüßen Brief, in dem er schrieb, wie hocherfreut er sei zu hören, daß Ori noch lebe und nicht, wie er gefürchtet habe, bei diesem furchtbaren Brand umgekommen, sondern überdies sehr wohlhabend geworden sei; ob sie sich am Abend nicht in der Yoshiwara treffen könnten, da Akimoto ebenfalls äußerst wichtige Shishi-Angelegenheiten zu besprechen habe.
Ori hatte ihm umgehend geantwortet: »Weder in der Yoshiwara noch sonstwo, sondern erst dann, wenn unser sonno-joi-Plan ausgeführt, das Mädchen tot und die Niederlassung abgebrannt ist. Wenn du, Akimoto oder irgendein anderer Verräter-Shishi vorher hierherkommt, wird er erschossen.«
»Er weiß, daß der Brand kein Unfall war«, stellte Akimoto fest.
»Selbstverständlich. Woher kann er nur das Geld haben?«
»Eigentlich nur durch Diebstahl, neh?«
Weitere Botschaften zeitigten dieselbe Antwort. Ein Giftanschlag war fehlgeschlagen. Also hatte er den Revolver gekauft und sich einen Plan ausgedacht. Und jetzt, heute abend, war der perfekte Zeitpunkt für die Ausführung. Die letzten Strahlen des Sonnenuntergangs zeigten ihm den Weg durchs Niemandsland und durch die stinkenden Straßen, die mit gefährlichen Schlaglöchern durchsetzt waren. Die wenigen Männer, die ihm begegneten, hatten kaum einen Blick für ihn übrig, höchstens Flüche, damit er ihnen aus dem Weg ging.
Ori langte in den kleinen Beutel voll Münzen, der auf dem Tisch an seinem Bett stand, und zog eine heraus. Es war ein beschnittener Mex, kaum mehr wert als die Hälfte seines normalen Wertes. Aber obwohl das noch immer fünfmal soviel war wie der Preis, den sie vereinbart hatten, gab er ihn der nackten Frau. Ihre Augen leuchteten auf, sie knickste höflich und murmelte immer wieder demütige Dankesworte. »Sie sind ein echter Gent, ta, Liebchen.«
Zerstreut sah er zu, wie sie in ihr zerlumptes Kleid schlüpfte, fragte sich, warum er hier war, fühlte sich abgestoßen von diesem Zimmer, von dem Bett, dem Haus, der Umgebung und dem bleichen, knochigen Gai-Jin-Körper mit den schlaffen Hinterbacken, der, wie er sich vorgestellt hatte, das Feuer dämpfen würde, das in ihm tobte und ihn wahnsinnig machte, der es aber nur verschlimmert hatte, weil er überhaupt nicht mit ihr zu vergleichen war.
Die Frau schenkte ihm jetzt keine Beachtung mehr. Sie hatte ihre Arbeit getan, blieben nur noch der übliche gemurmelte Dank und ein paar Lügen über seine Qualitäten – in diesem Fall allerdings keine Lügen, denn was seinem Organ an Größe fehlte, machte er mit Kraft und Energie wieder wett –, dann konnte sie gehen und ihren neu erworbenen Reichtum behalten. Das Kleid hing ihr von den mageren, nackten Schultern und schleifte über den fadenscheinigen Teppich, der einen Teil der rohen Holzdielen bedeckte. Ein zerrissener Unterrock, kein Höschen. Strähniges, bräunliches Haar und dick aufgelegtes Rouge. Sie sah aus wie vierzig, war aber erst neunzehn, ein Gossenkind, in Hongkong von unbekannten Eltern geboren und vor acht Jahren von ihrer Pflegemutter an ein Wanchai-Haus verkauft. »Soll ich morgen wiederkommen? Morgen?«
Er zuckte die Achseln und zeigte zur Tür; sein verwundeter Arm war so gut geheilt, wie es nur möglich war; er würde zwar nie wieder so flink mit einem Schwert umgehen können wie früher, doch immerhin gut genug, um gegen einen durchschnittlichen Schwertkämpfer zu siegen, und gut genug mit einer Pistole. Seine Derringer lag auf dem Tisch in Reichweite.
Die Frau zeigte ein gezwungenes Lächeln und zog sich, Dankesworte murmelnd, vorsichtig zurück – erleichtert, daß sie keine Schläge oder andere widerliche Praktiken hatte über sich ergehen lassen müssen. »Keine Sorge, Genty«, hatte ihre Madam zu ihr gesagt, »Chinesen sind genau wie die anderen, manchmal ‘n bißchen wählerisch, aber dieser Kerl da ist stinkreich, also gib ihm, was er will, und gib’s ihm schnell, er ist so reich, also gib’s ihm ordentlich.« Sie hatte kaum etwas anderes tun müssen, als sein hektisches Stoßen mit stoischer Ruhe und den erforderlichen Geräuschen vorgetäuschter Lust hinzunehmen.
»Na dann, Süßer.« Sie ging hinaus, den Mex in ihrem verschmutzten Leibchen versteckt, das die schlaffen Brüste bedeckte, eine andere Münze, ein Zwanzigstel im Wert, in einer Hand.
An der Treppe draußen wartete Timee, ein grober eurasischer Seemann gemischter, hauptsächlich aber chinesischer Abstammung. Er drückte die Tür zu und packte sie. »Halt die Schnauze, du dreckige Hure«, zischte er, zwang sie, die Hand zu öffnen, nahm die Münze und begann sie auf chinesisch und in gutturalem Englisch wegen ihres armseligen Lohnes zu beschimpfen: »Ayee-yah, warum hast du den Kerl nicht zufriedengestellt?« Dann versetzte er ihr eine Ohrfeige, daß sie die Treppe halb hinabstolperte, halb hinabfiel. Als sie jedoch unten ankam, wandte sie sich noch einmal um und beschimpfte ihn noch unflätiger. »Ich werd meiner Ma Fotheringill von dir erzählen, die wird’s dir schon zeigen!«
Timee spie hinter ihr her, klopfte an und öffnete die Tür. »Musume gutt, Herr, heya?« fragte er servil.
Inzwischen saß Ori an einem alten Tisch vor dem Fenster. Er trug ein grobes Hemd und Kniehosen und im Gürtel ein Kurzschwert. Der Geldbeutel lag auf dem Tisch. Ihm entging nicht, wie fasziniert der andere darauf hinabstarrte. Achtlos nahm er einen weiteren Mex und warf ihn dem breitschultrigen Mann zu. Der fing ihn geschickt, berührte seine Stirn und grinste mit wenigen abgebrochenen und gelblichen Zähnen. »Danke, Guv. Essen?« Er rieb sich den dicken Bauch. »Essen, wakarimasu ka?« Ihre Gespräche bestanden aus Zeichensprache und ein wenig Pidgin, und er war der Chef der Leibwächter. Ein anderer wartete unten in der Bar. Ein dritter auf der Gasse.
Ori schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, eines der Wörter, die er aufgegriffen hatte; dann setzte er hinzu: »Bier-u«, und bedeutete ihm zu gehen. Endlich allein, starrte er blicklos zum Fenster hinaus. Das Glas war gesprungen und mit Fliegendreck übersät, eine Ecke fehlte. Gegenüber, zehn Meter entfernt, lag die trostlose Fassade einer weiteren heruntergekommenen, aus Holz erbauten Herberge. Die Luft roch modrig, seine Haut fühlte sich schmutzig an, und er erschauerte bei dem Gedanken an den schweißnassen Kontakt mit dem Körper dieser Frau, ohne Gelegenheit zu einem zivilisierten japanischen Bad hinterher, obwohl er im Dorf, zweihundert Meter entfernt hinter dem Niemandsland, ohne weiteres eins hätte haben können.
Aber das hieße, Hiraga und seine Spione riskieren, die mich bestimmt erwarten, dachte er, Hiraga und Akimoto und all die Dorfbewohner, die wie gemeine Verbrecher dafür gekreuzigt werden müßten, daß sie meinen großartigen Plan durchkreuzen wollen. Abschaum! Alle zusammen. Wagen es, mich verbrennen zu wollen, wagen es, den Fisch zu vergiften – eeee, Karma, daß die Katze ihn gestohlen hat, bevor ich das Vieh daran hindern konnte, und auf der Stelle an meiner Statt sterben mußte.
Seitdem hatte er nur wenig gegessen, und nur Reis, den er sich selbst auf dem Rost kochte, mit etwas Fleisch- oder Fischeintopf, der für die anderen Haus- und Bargäste gekocht worden war, und den Timee vorsichtshalber vor seinen Augen vorkosten mußte.
Der Fraß ist widerlich, dieses Haus ist widerlich, die Frau ist widerlich, und wenn ich noch länger warten muß, werde ich durchdrehen. Dann fiel sein Blick wieder auf den Geldbeutel. Und seine Lippen zogen sich zu einem bösartigen Lächeln von den Zähnen zurück.
In der Nacht, als die andere Herberge in Brand gesteckt wurde, hatte er auf einem Feldbett in einem winzigen, dreckigen Loch hinter der Bar geschlafen, das ihn den letzten Rest seines Geldes gekostet hatte. Lange bevor die anderen Gäste erwachten, hatte ihn sein durch zahlreiche Brände seit seiner Kindheit geschärfter Sinn für Gefahren gewarnt. Als er aus dem Schlaf hochfuhr, sah er, daß die Flammen oben schon an der Holztreppe leckten, während eine weitere Flasche voll Öl mit einem brennenden Lappen im Hals in den Hauptbarraum geschleudert wurde.
Ein hysterischer Hund kam die Treppe heruntergejagt, zwei Katzen suchten angstvoll das Weite, und die drei Tiere begannen im Barraum herumzuschießen und Flaschen mit Alkohol umzustürzen, daß sie auf dem Kopfsteinboden zerplatzten und mit ihrem Inhalt das Feuer nährten. Im oberen Stock waren Schreie und Tumult zu hören. Halbnackte Männer kamen, vor den Flammen fliehend, die Treppe herunter und stürzten auf die Straße hinaus.
Die Treppe fing Feuer. Dann schoß plötzlich eine Flammenzunge an den zundertrockenen Wänden und dem Geländer entlang empor. Im Barraum war es erstickend heiß, die Luft glühte, während ein Feuersturm den Brand anfachte. Die Seiten der Haustür begannen so stark zu brennen, daß die Flammen fast den Ausgang versperrten. Immer mehr Männer kamen schreiend die Treppe herunter, stolperten in Panik übereinander und durch die Flammen nach draußen, bei einigen hatten bereits die hastig übergeworfenen Kleider zu brennen begonnen. Nur Minuten waren seit der Brandstiftung vergangen, und doch war das Feuer schon unkontrollierbar geworden, das Haus dem Untergang geweiht.
Ori, in seinem Alkoven, hatte keine Angst – schließlich war er branderfahren –, sondern drückte sich außerhalb des dichten Qualms, einen in Bier getauchten Lappen vor dem Mund, dicht an den Boden; einen Fluchtweg für den Notfall hatte er sich automatisch in dem Moment gemerkt, da er den Raum betreten hatte. Sicherheit bot immer nur der Wille, nicht in Panik auszubrechen, und diesmal außerdem ein kleines, mit Läden gesichertes Fenster auf der anderen Seite des Barraums, in einiger Entfernung von der brennenden Treppe, das auf die Hintergasse hinausführte.
Gerade wollte er davonrennen, als er sah, wie sich der dicke Wirt in Nachthemd und Schlafmütze zusammen mit anderen verängstigten Männern durch die Flammen die Treppe hinunterkämpfte; fest unter den Arm geklemmt trug er eine eiserne Kassette. Wütend stieß der Mann einen anderen beiseite und in die Flammen, um gleich darauf von denselben Flammen in eine schreiende Fackel verwandelt und mit zwei anderen in die brennenden Ruinen der Treppe geschleudert zu werden, die krachend einstürzte und damit jede weitere Flucht von oben unmöglich machte. Die Kassette flog ihm aus den hilflosen Armen und rutschte über den Fußboden. Ein schwer verbrannter Mann kam aus dem Hexenkessel gewankt und strebte taumelnd zur Tür. Gierig verschlangen die Flammen den Wirt und die beiden anderen Männer und streckten ihre Zungen schon ebenso gierig nach der Kassette aus.
Kurz entschlossen wagte sich Ori durch die Flammen, packte sie und stürzte zum Fenster; die verrotteten Läden waren schnell aufgestoßen, dann war er draußen, auf der Gasse und an der frischen Luft. Sofort duckte er sich, lief zu dem gegenüberliegenden Zaun, kletterte hinüber und huschte durch den Müll und das wuchernde Unkraut des Niemandslandes zu dem verlassenen Brunnen.
Dort blickte er sich keuchend und vorsichtig um. Die Flammen aus der Herberge loderten zum Himmel, und es wimmelte von laut rufenden Gestalten. Zwei Männer sprangen aus den oberen Fenstern. Andere, mit Wassereimern bewaffnet, übergossen die angrenzenden Schuppen und Häuser und brüllten nach Helfern.
Er war nicht bemerkt worden.
Vom Lärm gedeckt, hob er ein zerbrochenes Brecheisen auf und stemmte, immer wieder schwärmende Moskitos und Nachtinsekten abwehrend, den Deckel von der Kassette. Der Schatz, den sie enthielt, verschlug ihm den Atem. Rasch stopfte er sich zwei Beutel voll Münzen in die Hosentasche und einen weiteren in den Kittel. Die etwa zwölf übrigen Beutel wie auch die Kassette vergrub er umsichtig an verschiedenen Stellen.
Am nächsten Vormittag wanderte er in Drunk Town umher, bis er, weit von der ausgebrannten Ruine entfernt, eine abgelegenere Herberge entdeckte. Zehn Mexe für den Eigentümer sowie das Gewicht der übrigen Münzen im Beutel sicherten ihm unverzügliche, zuvorkommende Bedienung und ein geräumiges Zimmer seiner Wahl. Der Wirt, ein Mann mit tiefliegenden, leuchtend blauen Augen – genau wie ihre, hatte er gedacht und plötzlich einen Stich in seinen Lenden verspürt –, hatte auf den Beutel gezeigt. »Mit dem da werden Sie ausgeraubt werden, junger Mann.«
Ori hatte ihn nicht verstanden, doch die Bedeutung seiner Worte wurde schon sehr bald klar und rief Timee auf den Plan. Zusammen mit der Erkenntnis, daß Ori – wenn Timee und der Wirt gut bezahlt wurden – hier und auf der Straße sicher sein und sein Zimmer, wenn er ausging, unangetastet bleiben würde. Da Ori wußte, wie gefährlich es war, diesen Männern Vertrauen zu schenken, machte er ihnen zur Sicherheit mit Zeichensprache und viel Geduld klar, daß diese beiden Beutel nur einen kleinen Teil seines Reichtums ausmachten, der gut bewacht im Dorf versteckt war, den er aber bereitwillig und großzügig für seinen persönlichen Schutz und alles, was sonst nötig wurde, auszugeben bereit sei.
»Sie sind der Guv, was Sie sagen, kriegen Sie. Ich heiße Bonzer und bin Australier.« Genau wie nahezu alle in Drunk Town kratzte er sich beständig Floh- und Läusebisse, hatte nur wenige schiefe Zähne und stank. »Guv? Das bedeutet Ichiban! Nummer eins. Wakarimasu ka?«
»Hai, domo.«
Die Tür ging auf und riß ihn aus seinen Gedanken. Timee brachte einen Krug Bier. »Ich geh mir jetzt was zu essen holen, Guv.« Er hustete. »Hap-hap, wakarimasu ka?«
»Hai.« Das Bier löschte Oris Durst, ließ sich aber nicht mit dem Bier im Dorf vergleichen. Oder zu Hause in Satsuma oder in der Yoshiwara, oder in der Herberge ›Zu den Mitternachtsblüten‹ in Kanagawa. Oder sonstwo.
Ich werde offenbar verrückt, dachte er verunsichert. Diese Gai-Jin-Hure mit ihrer Krötenbauchhaut und dem Fischgeruch war schlimmer als die schlimmste alte Vettel, die ich jemals gehabt habe, und dennoch habe ich zweimal die Wolken und den Regen genossen und immer noch mehr davon haben wollen.
Was haben die bloß an sich? Sind es ihre blauen Augen und hellbraunen Schamhaare – darin hat sich diese Hure nicht sehr von ihr unterschieden, in allem anderen aber doch. Unbewußt spielten seine Finger mit dem Kreuz, das er halb verborgen am Hals trug. Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. Im Tunnel hatte er Hiraga übertölpelt. Das Stück Metall, das er hinabgeworfen hatte, war sein letzter Gold-Oban gewesen. Ich bin froh, daß ich ihr Kreuz behalten habe – um mich ständig an sie zu erinnern. Und auch auf andere Art hat es sich mehr als nützlich erwiesen, weil es diese dummen Gai-Jin davon überzeugt, daß ich Christ bin. Was haben ihre Frauen an sich, das mich so rasend macht?
Es ist Karma, sagte er sich energisch, Karma, daß es keine Lösung gibt, niemals eine Lösung geben wird, es sei denn… es sei denn, sie hinüberzuschicken.
Der Gedanke an seine Männlichkeit tief in ihr ließ seinen ganzen Körper prickeln und weckte ein Sehnen, als wäre das andere nie geschehen. Wieder einmal begann das Zimmer zu schwimmen und ihn zu erdrücken; also schwang er die Füße aus dem Bett, steckte die Derringer ein, zog eine Lederweste über und ging hinunter.
»Guv?« Hustend löste sich Timee von einem Teller Eintopf, um ihn zu begleiten, aber Ori bedeutete ihm und dem anderen Mann, das Zimmer oben zu bewachen, und verließ das Haus.
Hiraga, der auf der anderen Seite der belebten, schmutzigen Straße vor einer schäbigen Bar auf einer Bank saß, entdeckte ihn sofort. Vor ihm stand ein unberührter Humpen Bier, und er war umgeben von lärmenden Männern, die tranken, standen, sturzbetrunken auf Bänken lagen oder auf dem Weg zu ihren Schlafstätten, Herbergen, Lieblingsbars oder den Spielhöllen waren, die hier im Slum nicht weniger zählten als in London. Die Männer waren ein buntes Gemisch aus europäischen, asiatischen und gemischtrassigen Arbeitern, bewaffnet mit mindestens einem Messer und ganz ähnlich gekleidet wie er. Sie kamen von des Tages Arbeit in der Segelmacherwerkstatt, beim Schiffslieferanten, als Mechaniker in den Maschinenfabriken, ein ganz neuer Beruf, oder aus irgendeiner der Dutzenden von Werkstätten, die mit der Schiffahrt zu tun hatten. Außer Herumtreibern und Bettlern gab es Bäcker, Schlachter, Brauer, Geldverleiher und andere, die diesen Teil von Yokohama belieferten oder von ihm lebten, der, im gegenseitigen Einverständnis, vom Dorf und von ›Nob Town‹, wie sie das Viertel der Händler nannten, abgegrenzt war.
»In Drunk Town«, hatte ihm Tyrer erklärt, »gibt es vielleicht einhundertfünfzig Seelen, die meisten sind Vagabunden. Es gibt nur wenige Vorschriften. Da heißt es, jeder für sich, aber wehe dem, der beim Stehlen erwischt wird, der Mob würde ihn sofort halb totprügeln. Es gibt dort keine Polizei, nur Army- und Navy-Patrouillen, die nach Deserteuren fahnden oder ganz einfach versuchen, den Frieden zwischen den Waffengattungen zu wahren, Schlägereien und Rebellionen zu beenden. Die Bier- und Ginhäuser – Gin ist ein Fusel, der Sie umbringt, wenn Sie nicht aufpassen – sind offen, solange es Kunden gibt, die Spielhöllen ebenfalls. Wagen Sie sich auf gar keinen Fall da hinein, auch nicht zu Ma Fotheringill, die haßt euch Japaner wegen eurer Billig-Yoshiwara – Gott segne sie! Am anderen Ende, beim Südtor neben der Hog Lane, liegt der schlimmste Teil von Drunk Town. Ich selbst bin noch nicht dort gewesen, und Sie sollten sich auch von dort fernhalten, denn da versuchen die Verderbtesten und Verlorenen zu überleben. Opium, Bettler, Abschaum, männliche Prostituierte. Schlachthaus. Friedhof. Krankheiten. Und ganze Heere von Ratten…«
Das wenige, was Hiraga verstand, hatte in ihm den Wunsch geweckt, das alles mit eigenen Augen zu sehen. Heute abend hatte er zum erstenmal Gelegenheit dazu. Bis auf einige hingeworfene Flüche, die auf jeden paßten, hatte niemand ihn belästigt, während er Ori im gerade noch ausreichenden Licht des dunkelnden Himmels mühelos folgte.
Sein Opfer näherte sich auf Umwegen der Küste – scheinbar ziellos und ohne die Leibwächter, vor denen man Hiraga gewarnt hatte. Seine Erregung wuchs. Der Revolver in seiner Tasche fühlte sich gut an. Seine Finger sehnten sich danach, ihn zu packen, zu zielen und abzudrücken, um dieser Bedrohung seiner Zukunft hier und jetzt ein Ende zu machen. Und dann ein kontrollierter Rückzug durchs Niemandsland oder am Strand entlang bis zur Gesandtschaft.
Jetzt näherten sie sich dem kleinen Platz an der Promenade und der Küste, wo die besten Bars, Restaurants und Pensionen um Kunden wetteiferten. Dies war das letzte Ende der Niederlassung, der schmalste Teil, eingezwängt zwischen dem Meer und dem umgebenden Zaun. Genau wie beim Nordtor war der Zaun stark und hoch und reichte bis in die Brandung hinein. Die einzige Öffnung war das verbarrikadierte Südtor.
Der Platz war überfüllt. Zumeist britische Soldaten, Seeleute und Handelsmatrosen mit ein paar Franzosen, Amerikanern, Russen und Einheimischen dazwischen. Ori drängte sich durch die Menge, bis er das Ende der Promenade erreichte. Er blickte aufs Meer hinaus. Die See hatte eine meterhohe Dünung und war schwarz und ölig. Nordwärts, eine halbe Meile entfernt, sah er in den Handelshäusern und in der französischen Gesandtschaft die Lichter angehen. Und im oberen Stock von Struan’s, dem Gebäude, das mit dem von Brock zusammen den Hafen beherrschte.
Heute? Soll ich’s heute versuchen?
Seine Füße begannen ihn davonzutragen. Plötzlich ertönte ein Donnern, und ein dumpfes, grollendes Geräusch unmittelbar unter der Erdoberfläche fiel über sie her; die Erde hob sich, und genau wie alle anderen auf dem Platz taumelte er, von Übelkeit gepackt, fiel auf Hände und Knie und klammerte sich an die Erde, die sich schüttelte, sich hob, fiel und ausruhte. Ein Augenblick der Stille, die zum Himmel zu schreien schien. Dann hier und da ein Wimmern, Rufe und Flüche, die abrissen, als sie von einem weiteren Stoß gepackt wurden. Wieder buckelte die Erde – nicht so stark wie zuvor, aber doch schlimm genug. Kaskaden von Ziegeln regneten von einem Dach. Menschen hasteten oder krochen davon. Wiederum Stille, die nahezu fühlbar war, Menschen still, Möwen still, Tiere still. Die Erde wartete, alles wartete. In den Boden gekrallt, betend, fluchend, betend. Wartend.
»O Gott, ist es vorbei?« rief jemand.
»Ja…«
»Nein…«
»Wartet, ich gl…«
Wieder der Donner. Angst- und Klagerufe. Der Lärm stieg, die Erde wand sich, schrie auf und wurde wieder still. Mehrere Schuppen stürzten ein. Hilferufe. Keiner rührte sich.
Wieder hielten alle den Atem an. Warteten: Stöhnen, Gebete, Wimmern, Gebete und Flüche. Warten auf den nächsten Stoß. Den ganz großen. Warten, doch nichts geschah.
Sekunden wurden zu einer Ewigkeit. Dann spürte Ori, daß es vorüber war; er stand auf, als erster auf dem Platz, und sein Herz hüpfte, weil er diesmal noch nicht tot war, weil er am Leben, unversehrt und wiedergeboren war. Instinktiv machte er sich jedoch auf die nächste Gefahr gefaßt, eine schnelle Flucht vor dem Feuer, das die normale Folge und die größte Bedrohung darstellte. Immer war ein jedes Erdbeben für irgend jemanden die Nemesis, für alle anderen jedoch war es die Wiedergeburt, die seit ewigen Zeiten als eine solche von den Menschen gefeiert wurde, die im Land der Götter lebten, das auch das Land der Tränen genannt wurde.
Plötzlich krampfte sich Oris Magen zusammen. Am anderen Ende des Platzes, aufragend über der Masse der Menschen, die würgend und fluchend auf dem Boden lag, sah er ganz allein Hiraga stehen, der ihn beobachtete. Hinter Hiraga hatten sich die meisten Samurai-Wachen ebenfalls aufgerappelt, und einige von ihnen musterten die beiden neugierig.
Fast im selben Moment, da Ori spürte, daß das Erdbeben vorüber war, und aufsprang, waren Hiraga und die Samurai ebenfalls aufgesprungen und hatten, wie er, ekstatische Erleichterung und das Gefühl der Wiedergeburt erlebt. Bis Hiraga sah, daß Ori ihn anstarrte. Seine Miene verschloß sich, und er begann auf ihn zuzugehen, während der Platz schnell wieder zum Leben erwachte, als sich Menschen taumelnd oder schwankend erhoben. Ori wollte weglaufen, aber verängstigte, zornige Menschen, manche hysterisch lachend, andere lauthals Gott dankend, hinderten ihn an der Flucht und Hiraga an der Verfolgung.
»Was zum Teufel ist in dich gefahren…«, riefen sie.
»Verdammt noch mal, hör auf zu drängeln!«
»He, das is ‘n beschissener Japse!«
Dann brüllte jemand: »Feuer! Seht doch!«
Wie alle anderen blickte Ori nach Norden. Am anderen Ende der Promenade stand ein Gebäude in Flammen. Sofort erkannte er, daß es das zweistöckige Struan-Building sein mußte. Oder das Nachbarhaus. Ohne Rücksicht auf die anderen brach sich Ori einen Weg durch die Menge.
Hiraga wollte hinter ihm her, im selben Moment aber stürzte eine nahe Ginbar in sich zusammen, schleuderte ihm Menschen vor die Füße und warf ihn zu Boden, während andere über ihn hinwegtrampelten. Mühsam kam er inmitten dieses Durcheinanders auf die Füße. Auf diesem Teil des Platzes stolperten die Menschen ziellos umher und versperrten ihm den Weg. Einmal konnte er ganz kurz Ori sehen, dann gingen die Ruinen der Bar in Flammen auf, die Menschen drängten wieder rückwärts und rissen ihn mit.
Als Hiraga zur Besinnung kam, war Ori verschwunden, und je energischer er sich einen Weg in die Richtung bahnte, in der er ihn zuletzt gesehen hatte, desto langsamer kam er voran, und desto wütender wurde die Menge. »He, Freundchen, langsam… Ist ja schon wieder so ‘n verdammter Japse…«
Als er sie beruhigt, kehrtgemacht, einen Bogen geschlagen hatte und zum Rand des Platz zurückgekehrt war, lief Ori weder, wie erwartet, die Promenade entlang und auf die Brandstätte zu, noch nahm er Richtung auf den Strand, sondern war ganz einfach verschwunden.
Im Struan-Building jagte Jamie McFay die Treppe hinauf. In seiner Hand pendelte eine Öllampe, denn im ganzen Treppenhaus verbreitete nur der Kronleuchter Licht, und der schwang nach den Erdstößen noch immer wie wild hin und her. Oben angekommen, rannte er den Gang entlang und stieß Struans Zimmertür auf. »Alles in Ordnung, Tai-Pan?«
Das Zimmer lag im Dunkeln; nur ein unheimlich flackerndes Licht tanzte auf den Gardinen am Fenster. Struan lag benommen, halb zum Dinner angekleidet, auf dem Boden und schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. Beide Öllampen waren zertrümmert, der offene Docht der einen, die unter die Kommode gerollt war, zischte auf dem ölgetränkten Teppich. »Glaub schon«, keuchte er. »Ich bin gefallen und muß mir irgendwo den Kopf angeschlagen haben. Großer Gott, Angélique!«
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen…«
»Ich schaff’s schon. Sehen Sie lieber nach ihr, Jamie!«
Jamie drückte auf die Klinke der Verbindungstür. Von der anderen Seite verriegelt. In diesem Moment fing der Teppich Feuer. Vor Schmerzen fluchend, kroch Struan davon; doch ehe sich die Flammen verbreiten konnten, hatte Jamie sie schon ausgetreten. In seiner Hast, Struan aus der Gefahrenzone zu ziehen, packte er zu fest zu.
»O Gott, Vorsicht, Jamie!«
»Tut mir leid, Verzeihung, ich hatte nicht…«
»Macht nichts«, keuchte Struan. Er hatte Schmerzen in der Seite, wo er beim Sturz schwer aufgeschlagen war, einen pochenden Schmerz im Magen, wo er zuvor nichts gespürt hatte, und die üblichen Schmerzen unter der verheilten, aber noch hochempfindlichen Narbe. »Wo brennt’s denn?«
»Keine Ahnung, ich war unten mit…«
»Später – Angélique!«
Jamie lief den Korridor entlang; der Rauch, der vom anderen Ende herüberquoll, nahm ihm den Atem. Er hämmerte an ihre Tür und drückte die Klinke nieder: ebenfalls von innen verriegelt. Mit der Schulter warf er sich gegen das Holz neben dem Türrahmen, und die Tür flog auf. Ihr Boudoir war leer, eine brennende Öllampe war umgekippt und ergoß ihr Öl über die vorhanggesäumte Kommode, eine andere lag zerschmettert auf dem Boden, und überall war Öl verspritzt. Er löschte den brennenden Docht und lief ins Schlafzimmer. Angélique saß leichenblaß in ihrem Himmelbett und starrte auf den schwingenden Ölkronleuchter, der widersinnig und munter brannte.
»Alles in Ordnung, Angélique?«
»Ach Jamie…«, sagte sie zögernd, mit ganz ferner Stimme. »Ja, alles in Ordnung, ich hatte mich nur… nur ein bißchen hingelegt, bevor ich mich zum Dinner umziehen wollte, dann fing alles an zu wackeln. Ich… Ich dachte, ich träume, aber dann zersprangen die Lampen und… mon Dieu, es war das Geräusch, mit dem sich das Haus bewegte, das mich am meisten erschreckt hat… Ach ja, ist Malcolm…«
»Ja. Ziehen Sie sich so schnell wie möglich an. Beeilen…«
In der nahen Hafenmeisterei begann der Feueralarm zu schrillen; sie zuckten zusammen. Plötzlich verängstigt, roch sie den Rauch, hörte die gedämpften Rufe draußen und sah das Glühen durch die Fenstervorhänge. Erschrocken keuchte sie auf. »Brennt’s bei uns?«
»Vorerst brauchen Sie keine Angst zu haben, aber kleiden Sie sich sofort an und kommen Sie nach nebenan. Ich entriegle die Verbindungstür.« Er lief hinaus. Sie glitt aus dem Bett. Unter ihrem Negligé trug sie Pantalons und ein Fischbeinkorsett. Hastig stieg sie in ihre Krinoline, die für sie zurechtgelegt worden war, und griff sich einen Schal.
»Alles in Ordnung mit ihr, Tai-Pan«, hörte sie Jamie sagen, als er die Verbindungstür öffnete. »Sie zieht sich an. Kommen Sie, ich helfe ihnen hinunter.«
»Erst, wenn sie auch fertig ist.«
Jamie wollte etwas sagen, änderte aber seine Meinung, denn in beiden schwelte noch der Streit beim Lunch, und keiner war zum Kompromiß bereit. Er öffnete das Fenster. Im Vorgarten und auf der Straße unten wimmelte es von Büroangestellten und Dienern, darunter Vargas; Neugierige und Leute aus den verschiedenen Gesandtschaften sammelten sich, einen Brand aber konnte er nirgends entdecken. »Vargas!« rief er. »Wo brennt’s bei uns?«
»Wir wissen es nicht genau, Senhor, irgendwo auf dem Dach, glauben wir. Die Männer mit dem Brandmeister sind schon hier, aber bei Brock’s steht das ganze obere Stockwerk in Flammen.«
Da Jamie von hier aus nicht zum Nachbarhaus hinübersehen konnte, eilte er in Angéliques Boudoir zurück und zog die Vorhänge auf. Der Brand hatte sich über die ganze Vorderseite von Brock’s verbreitet – ein zweistöckiges Gebäude, wie das von Struan’s –, an der die Hauptschlafzimmer lagen. Aus den offenen Fenstern quoll Rauch. Er sah Gruppen von Männern mit Wassereimern, die das Feuer zu löschen versuchten, beaufsichtigt von Norbert Greyforth. Von der Brise angefacht, wurden die Flammen mit dem Rauch herausgesogen und reckten sich über den Zwischenraum hinweg.
Beschissen, daß ausgerechnet wir unter dem verdammten Feuer bei Brock’s leiden müssen, dachte er verdrossen, als er sich aus dem Fenster beugte. »Vargas«, rief er, »bringen Sie Männer und Wasser hierher – begießen Sie diese Seite! Und wenn alles klar ist, helfen Sie Norbert!« Ich hoffe, dieser Mistkerl verbrennt und mit ihm das ganze Brock-Building, damit wäre das idiotische Duell ein für allemal unterbunden.
Andere Brände konnte er von hier aus nicht ausmachen, nur noch einen, ein Stück weiter unten an der Promenade in Drunk Town und zwei in der Yoshiwara. Über allem lag der Geruch von brennendem Holz, Öl und dem Teer, der beim Dachbau verwendet wurde. Obwohl der Wind noch eine Andeutung von Seesalz herübertrug. Wieder richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Flammen bei Brock’s, die, vom Wind gepeitscht, auf das Struan-Gebäude übergriffen. In Gedanken erteilte er ihnen den Befehl zu verlöschen, denn er hatte Angst vor dem Feuer: Die Kate, in der er geboren wurde, war eines schlimmen Winterabends, als er ein Kind war, niedergebrannt, sein Vater war, wie immer, sturzbetrunken gewesen, sein jüngerer Bruder verbrannte, er, die Mutter und seine Schwester vermochten gerade noch sich selbst, sonst aber kaum etwas zu retten und mußten einige schlimme Jahre lang in einem Arbeitshaus unterkriechen, bis sie von Campbell Struan gerettet wurden, einem Verwandten von Dirk Struan, dessen Land sein Vater beackert hatte.
»He, Vargas! Verdammt noch mal, schnell hier herauf!«
»Komme schon, Senhor!«
Inzwischen wimmelte die Promenade von Menschen; alle waren auf die Straßen hinausgelaufen, um zu helfen und gute Ratschläge zu erteilen, während andere unter lautem Geschrei eine Eimerkette zu dem riesigen Löschtank voll Meerwasser bildeten, dem einzigen, der in Reichweite war. Auch Einheiten der Army aus dem Zeltlager mischten sich in die Menge. Vom Nordtor kamen Samurai herbeigeeilt, um zu helfen, denn jeder Brand war auch eine Bedrohung für sie. Im Süden, hinter dem Kanal, stand eins der Yoshiwara-Häuser in hellen Flammen, der Wind trug Schreie und Alarmrufe herüber, aber das Feuer schien eingedämmt worden und keine große Gefahr mehr zu sein, außerdem war es zum Glück nicht in Nemis Nähe.
Der Schweiß lief ihm über den Rücken. Bei dem Bewußtsein, daß Malcolm in Sicherheit war, wurde ihm übel vor Erleichterung. Seit dem Lunch hatte er brütend in seinem Büro gesessen, wütend über die undichte Stelle, außer sich vor Sorge um das Duell und die eigene Zukunft. Nie hätte er sich träumen lassen, in einen solchen Streit verwickelt oder gezwungen zu werden, das Noble House oder Japan zu verlassen, es sei denn aus Krankheitsgründen oder wegen eines Unfalls. Nun, da Malcolm ihm entfremdet und Tess Struan wütend auf ihn zu sein schien, stand seine Beförderung, sein Ruhestand, seine gesamte Zukunft auf dem Spiel.
Was tun, hatte er sich verzweifelt gefragt; dann hatten die Erdstöße die Welt auf den Kopf gestellt, seine Sterblichkeit war ihm wieder vor Augen geführt worden, und als dann die Stöße aufhörten und er auf die Füße springen konnte, hatten ihn sein Impuls und die Erinnerungen an alles, was er und seine Familie den Struans schuldeten, veranlaßt, nach oben zu stürmen, denn schließlich hatte er hier die Leitung, und dieser Junge war kaum mehr als ein Invalide. Tai-Pan? Tut mir leid, Malcolm, Norbert hat recht, deine Ma führt das Kommando. Wenn du nicht verwundet worden wärst, hättest du sofort nach Hongkong zurückkehren müssen, als sie es befahl; dann wäre nichts von all dem passiert, du hättest die Zügel übernommen, und in ungefähr einem Jahr würdest du…
»Jamie… könnten Sie mich zuknöpfen?«
Verwirrt fuhr er herum. Mit dem Rücken zu ihm stand Angélique an der Tür; sie hielt das Vorderteil ihres schulterfreien Krinolinenkleides an sich gedrückt, während es hinten offenstand. Er hätte sie am liebsten angeschrien. Zum Teufel mit diesem verdammten Kleid, es brennt! Aber er riß sich zusammen, schloß hastig nur den obersten Knopf, wickelte sie in den Schal und schob sie eilig ins Nebenzimmer, wo sie sich sofort in Struans ausgebreitete Arme warf. An der offenen Tür lief eine Gruppe Männer mit gefüllten Wassereimern vorbei. »Sie sollten das Haus verlassen, Sir…«, rief jemand.
»Wir müssen gehen, Tai-Pan – alles in Ordnung?«
»Ja.« So schnell er konnte, ging Malcolm zur Tür. Mit seinen beiden Stöcken vermochte er sich allerdings nur langsam zu bewegen – gefährlich langsam, hätte es einen echten Notfall gegeben, und das wußten sie alle drei, Struan am besten. Jetzt hörten sie über sich auf dem Dachboden Getrampel; der Rauchgeruch wurde schlimmer und verstärkte ihre Besorgnis.
»Jamie, bringen Sie Angélique hinaus. Ich werde nachkommen.«
»Stützen Sie sich auf mich und…«
»Verdammt noch mal, tun Sie, was ich Ihnen sage! Dann können Sie meinetwegen wiederkommen.«
Jamie errötete. Er griff nach ihrem Arm, und sie eilten hinaus, während Männer mit leeren Eimern sie überholten und andere ihnen mit voller Last entgegenkamen.
Kaum war Struan allein, da hinkte er zu seiner Kommode zurück und wühlte in einer Schublade, bis er das Fläschchen fand, das ihm Ah Tok an diesem Nachmittag von neuem gefüllt hatte. Er trank die Hälfte der bräunlichen Flüssigkeit, verkorkte das Fläschchen, steckte es in die Tasche seines Gehrocks und seufzte erleichtert auf.
Angélique wurde die Treppe und zur Haustür hinausgezogen. Die frische Luft war angenehm. »Vargas!« rief Jamie »Kümmern Sie sich einen Moment um Miss Angélique!«
»Gern, Senhor.«
»Bitte, gestatten Sie, M’sieur«, erbot sich Pierre Vervene, der französische Beamte, großspurig, »ich werde M’selle Angélique in unsere Gesandtschaft begleiten. Dort kann sie in Sicherheit warten.«
»Danke.« Jamie eilte wieder ins Haus.
Jetzt konnte sie sehen, daß das Dach brannte – im Augenblick noch nicht sehr stark, aber nicht weit von ihren Suiten entfernt, während die Flammen von Brock’s noch immer gegen die Seite des Struan-Gebäudes schlugen. Gut gedrillte Samurai, die Kimonos hochgeschürzt und gegen den Rauch Masken vor dem Gesicht, hatten Leitern gegen eine Wand gelehnt. Einige kletterten hinauf, während andere mit Zeichen und lauten Rufen den Männern winkten, Eimer zu bringen, die schnell zum obersten Mann weitergereicht wurden, der sie dort einsetzte, wo das Wasser am wirkungsvollsten war. Eine Flammenzunge griff nach ihm, aber er duckte sich, bedeckte sich das Gesicht und hielt stand, um gleich darauf das Feuer weiter zu bekämpfen. Angélique hielt den Atem an, weil ihr plötzlich der Gedanke kam, wie stark und tapfer dieser Mann, wie hilflos dagegen aber Struan geworden war, wie wenig er sie in einer Notsituation beschützen konnte, daß er immer mehr zur Belastung, immer mehr zum Invaliden, daß er täglich unzufriedener und immer weniger fröhlich wurde.
»Keine Angst, M’selle«, sagte Vervene, mit der Schlafmütze auf dem kahlen Schädel, auf französisch. »Kommen Sie mit, bei uns sind Sie sicher. Erdbeben sind hier ganz normal.« Er nahm ihren Arm und führte sie die Promenade entlang durch die dichtgedrängte Menge der Männer, die das Feuer bekämpften oder neugierig starrten.
Ori hatte sie sofort gesehen, als sie auf die Straße hinaustrat.
Er stand am Rand der Menge am Eingang des Gäßchens neben der französischen Gesandtschaft in der Nähe des Nordtors. Seine Arbeitskleidung mit der Mütze unterschied sich kaum von jener der zahlreichen Männer um ihn herum und war eine perfekte Tarnung. Von seinem Standort aus vermochte er den größten Teil der Promenade zu überblicken, die Fassade des Struan-Building und die Straße daneben, die von der Hauptstraße des Dorfes heraufführte.
Jetzt hörte er auf, sie anzustarren, und sah sich vorsichtig um, ob er Hiraga oder Akimoto entdecken konnte, denn er war sicher, daß sie irgendwo in der Nähe lauerten oder bald lauern würden, während sein Herz noch von seiner panischen Flucht durch Drunk Town bis ins Dorf hinein hämmerte. In dem Moment, als er den Struan-Brand und die offene Strecke der Promenade gesehen hatte, wußte er, daß er erwischt werden würde, wenn er sich dorthin oder zum Strand durchzuschlagen versuchte – denn er hatte keine Zeit, Timee zu holen, damit er seine Rolle als Leibwächter übernahm und ihm den Rücken deckte.
Nicht, daß ich diesen Hunden je trauen könnte, dachte er, und weil sie so nah war, begann sein Herz noch schwerer zu hämmern.
Sie war nur zwanzig Meter von ihm entfernt.
Alle, die sie sahen, zogen den Hut und murmelten einen Gruß, den sie zerstreut erwiderte. Ori hätte sich tiefer in den Schatten zurückziehen können, aber das tat er nicht: Er zog die Mütze, genau wie die anderen, und starrte sie an. Kurzer Bart, kraftvolles Gesicht, neugierige Augen, die Haare kurz, aber gepflegt. Ihr Blick strich über ihn hinweg, aber sie nahm ebensowenig von ihm Notiz wie Vervene, der höflich auf französisch plauderte.
Sie kamen nur wenige Meter entfernt an ihm vorbei. Ori wartete, bis sie in der französischen Gesandtschaft verschwunden waren – jetzt standen keine Wachtposten dort, weil alle an der Brandbekämpfung teilnahmen –, dann schlich er sich das Gäßchen entlang davon. Sobald er sicher war, daß niemand ihn beobachtete, kletterte er, wie zuvor auch schon, über den Zaun der Gesandtschaft und duckte sich in sein altes Versteck unter ihrem Fenster. Heute abend waren die Läden nicht verriegelt, sondern standen offen. Ebenso die innere Tür. Er konnte quer durchs Zimmer bis in den Korridor sehen und beobachtete, wie die beiden den Raum gegenüber betraten. Die Tür stand angelehnt.
Nun, da er sicher und unbeobachtet war, kontrollierte Ori seine Derringer und vergewisserte sich, daß sein Dolch locker in der Scheide saß. Dann hockte er sich auf die Fersen, atmete tief durch und dachte nach. Von dem Augenblick an, da er Hiraga und fast zugleich auch das Feuer bei Struan’s entdeckte, hatte er sich hauptsächlich von seinem Instinkt leiten lassen. Das darf nicht so weitergehen, sagte er sich.
Jetzt muß ich planen. Und zwar schnell.
Die offenen Läden wirkten wie ein Magnet. Über die Fensterbank glitt er ins Zimmer.