20

Mittwoch, 17. Oktober

André Poncin riß die Augen auf. »Sie sind schwanger?«

»Ja«, bestätigte sie leise. »Es ist, wissen Sie…«

»Aber das ist ja wundervoll! Das macht alles endgültig perfekt!« platzte er heraus, als sein Schock sich in einem breiten Grinsen auflöste, weil Struan, der britische Gentleman, einer unschuldigen Dame Unrecht zugefügt hatte und nun einer baldigen Heirat nicht mehr aus dem Weg gehen konnte, wenn er ein Gentleman bleiben wollte. »Darf ich Ihnen gratulieren, Madam…«

»Still, André, das dürfen Sie nicht! Und bitte nicht so laut, die Wände haben Ohren, besonders in den Gesandtschaften, nicht wahr?« flüsterte sie außer sich und staunte darüber, daß ihre Stimme so ruhig blieb, daß sie sich so ruhig fühlte und es ihm so gelassen mitteilen konnte. »Denn wissen Sie, der Vater ist leider nicht M’sieur Struan.«

Sein Lächeln erstarb; dann kehrte es zurück. »Sie scherzen natürlich, aber warum dieser…«

»Bitte, hören Sie einfach zu!« Angélique rückte ihren Sessel näher. »Ich wurde in Kanagawa vergewaltigt…«

Offenen Mundes starrte er sie an, während sie ihm erzählte, was ihr nach ihrer Meinung zugestoßen war, was sie beschlossen und wie sie seither ihre Angst verborgen hatte.

»Großer Gott, arme Angélique, Sie Ärmste, wie fürchterlich für Sie.« Mehr brachte er vor Schreck nicht heraus, während für ihn ein weiteres Puzzleteil an seinen Platz fiel. Sir William, Seratard und Struan hatten beschlossen, so wenige Personen wie möglich von Dr. Hoags Operation in Kanagawa zu informieren und die Nachricht vor allem vor Angélique geheimzuhalten, und auch beide Ärzte hielten das medizinisch für geraten. »Warum sie unnötig aufregen? Sie ist seit der Tokaidō-Sache nervös genug.«

Kein Grund, ihr jetzt davon zu erzählen, dachte André beunruhigt, und die Ironie erschütterte ihn zutiefst.

Er nahm ihre Hand und streichelte sie, zwang sich, die eigenen Probleme zurückzustellen und sich ganz auf sie zu konzentrieren. Wie sie da neben ihm in seinem Büro saß, ernst, bescheiden und mit klaren Augen, die personifizierte Unschuld und wenige Stunden zuvor noch die Königin des schönsten Balls, den Yokohama jemals gesehen hatte – all das verlieh ihrer Geschichte den Anschein absoluter Unwirklichkeit. »Ist das tatsächlich geschehen? Wirklich?«

Sie hob die Hand, als wolle sie einen Eid leisten. »Ich schwöre es, bei Gott.« Nun faltete sie die Hände auf ihrem Schoß. Blaßgelbes Tageskleid mit Reifrock, orangefarben das winzige Häubchen und der Sonnenschirm.

Verunsichert schüttelte er den Kopf. »Hört sich unmöglich an.«

Er war schon in viele Mann-Frau-Tragödien verwickelt gewesen. In manche war er von Vorgesetzten hineinmanövriert worden, in einige hineingestolpert, viele hatte er ausgelöst und fast alle, wenn nicht überhaupt alle, hatte er zum Besten seiner Sache benutzt: für Frankreich und natürlich, zuallererst, für sich selbst.

Warum nicht, dachte er. Was hat Frankreich für mich getan, was wird es für mich tun? Gar nichts. Aber diese Angélique wird entweder jeden Moment zusammenbrechen, oder sie ist wie diese Frauen, die, böse geboren, die Wahrheit geschickt für ihre eigenen Zwecke zurechtbiegen, oder wie jene, die, durch Angst und Schrecken über die Grenze gestoßen, weit über ihr Alter hinaus berechnend und kaltblütig wurden. »Wie bitte?«

»Ich muß dieses Problem beseitigen, André.«

»Abtreibung, meinen Sie? Aber Sie sind katholisch!«

»Das geht nur mich und Gott etwas an.«

»Was ist mit der Beichte? Kommenden Sonntag müssen Sie…«

»Das geht nur mich und den Priester etwas an, und dann Gott. Zuallererst muß das Problem beseitigt werden.«

»Das verstößt gegen Gottes Gebote und die Gesetze der Menschen.«

»Und wird seit Jahrtausenden gemacht.« Ihr Ton gewann an Schärfe. »Beichten Sie denn etwa alles? Ehebruch verstößt ebenfalls gegen ›Gottes Gebote‹ – oder? Sie sind verheiratet, nicht wahr? Mord verstößt gegen alle Gesetze. Nicht wahr?«

»Wer sagt, daß ich jemanden getötet habe?«

»Niemand, aber daß Sie an mehreren Todesfällen schuldig sind, ist mehr als wahrscheinlich. Wir leben in gewalttätigen Zeiten. Ich brauche Ihre Hilfe, André.«

»Sie riskieren ewige Verdammnis.«

Ja, darüber habe ich ein Meer von Tränen vergossen, dachte sie grimmig, ohne daß sich der unschuldige Ausdruck in ihren Augen veränderte. Sie haßte ihn, aber sie mußte ihm vertrauen.

An diesem Morgen war sie zeitig erwacht, und als sie ihren Plan zu rekapitulieren begann, wurde ihr auf einmal klar, daß sie alle Männer haßte. Männer bringen uns nur Probleme: Väter, Ehemänner, Brüder, Söhne und Priester – die Priester sind die schlimmsten von allen, die meisten von ihnen notorische Kopulierer und Pervertierte, Lügner, die die Kirche für ihre eigenen Zwecke mißbrauchen, obwohl es tatsächlich einige gibt, die Heilige sind. Die Priester und die anderen Männer beherrschen diese Welt und ruinieren sie für uns Frauen. Ich hasse sie alle – bis auf Malcolm. Den hasse ich nicht, noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich ihn wirklich liebe, ich weiß nicht recht, was Liebe ist, aber ich mag ihn lieber als jeden anderen Mann, den ich kenne, und ich kann ihn verstehen.

Was die übrigen angeht, so hat der liebe Gott mir endlich die Augen geöffnet! Vertrauensvoll und flehend sah sie André an. Verdammt, daß ich mein Leben in deine Hände geben muß, aber zum Glück durchschaue ich dich jetzt. Malcolm und Jamie haben recht, du willst nur die Firma Struan unter deine Kontrolle oder zu Fall bringen. Verdammt, daß ich überhaupt einem Mann vertrauen muß! Wenn ich nur in Paris wäre oder sogar in Hongkong, da gibt es Dutzende von Frauen, die ich diskret um entsprechende Hilfe bitten könnte, hier aber keine einzige. Diese beiden Vetteln? Unmöglich! Es ist eindeutig, daß sie mich hassen und meine Feindinnen sind.

Sie ließ ein paar Tränen in ihre Augen treten. »Bitte, helfen Sie mir.«

Er seufzte. »Ich werde später mit Babcott…«

»Sind Sie wahnsinnig? Den dürfen wir auf gar keinen Fall einweihen. Auch Hoag nicht. Nein, André, ich habe mir alles sehr sorgfältig überlegt. Keinen von beiden. Wir müssen jemand anders finden. Eine Madam.«

Über ihre ruhige Stimme und ihre Logik verblüfft, starrte er sie wieder an. »Eine Mama-san meinen Sie?« stotterte er.

»Was ist das?«

»Ach… das ist die Frau, die Japanerin, die… die die einheimischen Freudenhäuser leitet, Verträge für die Dienste der Mädchen abschließt, über Preise verhandelt und Mädchen zuteilt. Und so weiter.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »An so eine hatte ich nicht gedacht. Ich habe allerdings gehört, daß es am Ende der Straße so ein Haus gibt.«

»Großer Gott! Sie meinen Naughty Nellie’s… in Drunk Town? Nicht für tausend Louis d’or würde ich da hingehen.«

»Aber wird das Haus denn nicht von Mrs. Fotheringills Schwester geführt? Die berühmte Mrs. Fotheringill aus Hongkong?«

»Woher wissen Sie etwas von ihr?«

»O mein Gott, André, bin ich denn eine dumme, bigotte Engländerin?« gab sie gereizt zurück. »Jede Europäerin in Hongkong weiß von Mrs. Fotheringills Etablissement für junge Damen, obwohl sie vorgeben, nichts zu wissen, und in der Öffentlichkeit niemals davon sprechen, aber auch die Dümmsten wissen, daß ihre Männer chinesische Häuser besuchen oder asiatische Mätressen haben. Eine furchtbare Heuchelei. Sogar Sie wären erstaunt, wenn Sie wüßten, worüber die Damen in der Privatsphäre ihrer Boudoirs reden oder wenn keine Männer in der Nähe sind. In Hongkong hörte ich, daß ihre Schwester hier ein Haus eröffnet hat.«

»Das ist nicht dasselbe, Angélique, dieses Haus ist für Seeleute, Betrunkene, Rumtreiber – für den Abschaum. Und Naughty Nellie ist nicht ihre Schwester, das behauptet sie nur, also bezahlt sie vermutlich für den Gebrauch ihres Namens.«

»Ach! Aber wohin gehen Sie dann? Wenn Sie ›Unterhaltung‹ wünschen?«

»In die Yoshiwara«, antwortete er und erklärte es ihr, verblüfft über dieses Gespräch und darüber, daß auch er so offen reden konnte.

»Haben Sie ein Haus, mit dessen Mama-san Sie sich gut verstehen?«

»Ja.«

»Na, wunderbar. Sie gehen heute abend noch zu Ihrer Mama-san und holen die entsprechende Medizin.«

»Wie bitte?«

»Mein Gott, André, seien Sie doch vernünftig! Dies ist ein sehr schweres Problem, und wenn wir es nicht lösen können, werde ich niemals Herrin des Noble House und niemals… gewisse Interessen fördern können.« Sie sah sofort, daß sie damit ins Schwarze getroffen hatte, und freute sich. »Gehen Sie heute abend dorthin und bitten Sie sie um die Medizin. Bitten Sie nicht ein Mädchen darum, die verstehen vermutlich nichts davon. Bitten Sie die patronne, die Mama-san. Sie können ja sagen, ›das Mädchen‹ sei überfällig.«

»Ich weiß nicht, ob es eine derartige Medizin gibt.«

Sie lächelte herablassend. »Seien Sie nicht töricht, André, selbstverständlich gibt es die, sie müssen so etwas haben.« Mit der Rechten begann sie die Finger ihres linken Handschuhs glattzustreichen. »Sobald das Problem beseitigt ist, wird alles wundervoll werden, und wir werden Weihnachten heiraten. Übrigens, da M’sieur Struan allmählich kräftiger wird, habe ich beschlossen, die Struan-Suite zu verlassen, bis wir verheiratet sind, und heute nachmittag in die Gesandtschaft zurückzukehren.«

»Ist das klug? Sie sollten in seiner Nähe bleiben.«

»Normalerweise ja. Aber es gibt gewisse Anstandsregeln, und, noch wichtiger, ich bin sicher, daß es mir nach der Medizin einige Tage nicht gut gehen wird. Sobald auch das vorüber ist, werde ich entscheiden, ob ich in das Struan-Building zurückkehre. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann, mein Freund.« Sie erhob sich. »Morgen um die gleiche Zeit?«

»Wenn ich nichts habe, werde ich Ihnen Bescheid geben.«

»Nein. Besser, wir treffen uns um zwölf Uhr hier. Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen.« Damit schenkte sie ihm ihr schönstes Lächeln.

Ihm wurde ob dieses Lächelns heiß, aber auch, weil sie von nun an auf immer an ihn gekettet war. »Diese Schriftzeichen auf Ihrem Laken«, sagte er. »Erinnern Sie sich, wie die aussahen?«

»Ja«, antwortete sie, von dem Themenwechsel überrascht. »Warum?«

»Könnten Sie sie mir aufzeichnen? Möglich, daß ich sie erkenne. Möglich, daß sie eine Bedeutung haben.«

»Sie waren auf der Steppdecke, nicht auf dem Laken. Mit… Mit seinem Blut.« Sie atmete tief durch, griff nach der Feder und tauchte sie in die Tinte. »Eines habe ich Ihnen zu sagen vergessen. Als ich erwachte, war das kleine Kreuzchen verschwunden, das ich seit meiner Kindheit trage. Ich habe überall gesucht, aber es war fort.«

»Hat er es gestohlen?«

»Ich nehme es an. Aber sonst nichts. Ich hatte noch ein bißchen Schmuck, den hat er nicht angerührt. Die Stücke waren nicht sehr wertvoll, doch weitaus wertvoller als das Kreuz.«

Der Gedanke daran, wie sie da im Bett lag, reglos, das Nachthemd von oben bis unten aufgeschlitzt, wie die Hand des Vergewaltigers ihr das Kreuz vom Hals riß und das Mondlicht auf dem Gold glitzerte, vor oder nachdem er ihre Beine gespreizt hatte, wurde sehr schnell real und erotisch und ließ ihn pulsieren. Sein Blick wanderte über ihren Körper, während sie sich, ohne sein Begehren zu spüren, über den Schreibtisch beugte.

»Da«, sagte sie und reichte ihm das Blatt Papier.

Er starrte auf die Schriftzeichen, die ihn an überhaupt nichts erinnerten. »Tut mir leid, aber sie haben keine Bedeutung, sie sehen nicht mal chinesisch aus – Chinesisch oder japanisch, die Schriftzeichen sind dieselben.« Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke, er drehte das Blatt herum und hielt die Luft an. »Tokaidō, sie bedeuten Tokaidō!« Die Farbe wich ihr aus dem Gesicht. »Sie haben sie nur verkehrt herum aufgeschrieben. Tokaidō, jetzt wird alles klar! Er wollte, daß Sie es wissen, wollte, daß die ganze Niederlassung es weiß, und wir hätten es gewußt, wenn Sie irgend jemandem davon erzählt hätten! Aber warum?«

Sie hob die zitternden Finger an ihre Schläfen. »Ich… Ich weiß es nicht. Vielleicht… Ich weiß es nicht. Er muß inzwischen tot sein, M’sieur Struan hat ihn angeschossen, er muß ganz einfach tot sein.«

André zögerte ein wenig, erwog das Für und Wider. »Nachdem wir schon so viele Geheimnisse miteinander teilen und Sie Geheimnisse eindeutig bewahren können, muß ich, so leid es mir tut, Ihnen noch ein weiteres anvertrauen.« Er erzählte ihr von Hoag und der Operation. »Es war nicht Hoags Schuld, er konnte nichts davon wissen. Es ist eine Ironie, aber beide Ärzte rieten davon ab, es Ihnen zu erzählen, um Ihnen Kummer zu ersparen.«

»Nur wegen Babcott und seinem Opiat bin ich jetzt hier«, murmelte sie, und bei ihrem Ton überlief es ihn eiskalt. »Der Mann lebt also noch?«

»Wir wissen es nicht. Hoag hat ihm keine große Chance gegeben. Warum wollte dieser Teufel, daß seine Teufelei bekannt wird, Angélique?«

»Gibt es noch weitere Geheimnisse über diese Katastrophe, die Ihnen bekannt sind, mir aber nicht?«

»Nein. Warum wollte er, daß alle davon erfahren – Tollkühnheit?«

Lange stand sie da und starrte auf die Schriftzeichen. Reglos, nur ihre Brust hob und senkte sich mit ihrem regelmäßigen Atem. Dann ging sie ohne ein Wort hinaus. Leise schloß sich die Tür hinter ihr.

Verwundert schüttelte er den Kopf und starrte wieder auf das Blatt.

Tyrer saß in dem kleinen, an die britische Gesandtschaft grenzenden Häuschen, das er sich mit Babcott teilte, und übte sich mit Nakama in Kalligraphie. »Bitte, nennen Sie mir die japanischen Bezeichnungen für heute, morgen, übermorgen, nächste Woche, nächstes Jahr, die Wochentage und die Monate des Jahres.«

»Ja, Taira-san.« Langsam sprach Hiraga ein japanisches Wort und sah zu, wie Tyrer es in lateinischer Schrift phonetisch notierte. Dann setzte Hiraga die Schriftzeichen in die dafür vorgesehene Spalte und beobachtete, wie Tyrer sie kopierte. »Sie gut Student. Immer gleiche Folge für Striche, leicht, dann nicht vergessen.«

»Ja, allmählich begreife ich. Vielen Dank, Sie sind mir eine große Hilfe«, gab Tyrer freundlich zurück. Es machte ihm Freude, zu schreiben, zu lesen und zu lernen – und wiederum zu lehren, denn er merkte, daß Nakama hochintelligent war und sehr schnell lernte. »Gut. Danke. Jetzt bitte zu Raiko-san gehen und meine Verabredung für morgen bestätigen.«

»›Bestätigen‹, bitte?«

»Sicher machen. Sich vergewissern, daß meine Verabredung fest ist.«

»Ah, verstehn.« Hiraga rieb sich das Kinn, das über Nacht dunkle Stoppeln bekommen hatte. »Ich gehe bestätigen.«

»Ich bin nach dem Lunch wieder da. Bitte seien Sie pünktlich hier, damit wir Konversation üben und Sie mir mehr über Japan erzählen können. Wie sagt man das auf japanisch?« Hiraga nannte ihm die Worte. Tyrer schrieb sie phonetisch in sein Übungsheft, das inzwischen mit Wörtern und Sätzen vollgestopft war, und wiederholte sie so lange, bis er zufrieden war. Gerade wollte er den anderen entlassen, da fiel ihm plötzlich noch etwas ein. »Was ist ein ›Ronin‹?« fragte er.

Hiraga überlegte einen Moment und erklärte es ihm mit möglichst einfachen Worten. Die Shishi erwähnte er jedoch nicht.

»Dann sind Sie ein Ronin, ein Gesetzloser?«

»Hai.«

Gedankenverloren bedankte sich Tyrer und ließ ihn gehen. Er unterdrückte ein Gähnen. Er hatte letzte Nacht schlecht geschlafen, denn nachdem ihn Raiko abgewiesen hatte, stand seine ganze Welt auf dem Kopf.

Verdammte Raiko, verdammte Fujiko, dachte er, während er den Zylinder aufsetzte und sich bereit machte, die High Street entlang in den Club zum Lunch zu gehen. Verdammtes Japanisch-Lernen, verdammt einfach alles, ich habe Kopfschmerzen und werde diese furchtbar komplizierte Sprache niemals lernen. Sei nicht albern, schalt er sich gleich darauf laut, natürlich wirst du sie lernen; du hast Nakama und André, zwei sehr gute Lehrer, heute abend wirst du mit einem netten Menschen etwas Gutes essen und eine Flasche Champagner trinken, und dann ins Bett. Und schimpf nicht auf Fujiko, denn bald wirst du wieder mit ihr schlafen. O Gott, ich hoffe es jedenfalls!

Der Tag war schön, die Bucht wimmelte von Schiffen, die Kaufleute strebten dem Club entgegen. »O hallo, André! Wie schön, daß ich dich treffe. Hättest du Lust, mit mir zu Mittag zu essen?«

»Vielen Dank, nein.« Poncin, der verärgert wirkte, blieb nicht stehen.»Was ist los? Alles in Ordnung?«

»Nichts ist los. Ein anderes Mal.«

»Morgen?« Es paßte nicht zu André, so kurz angebunden zu sein. Verdammt, ich wollte ihn fragen, was ich…

»Wenn ich darf, werde ich Ihnen Gesellschaft leisten, Phillip«, erbot sich McFay.

»Aber sicher, Jamie. Sie sehen verkatert aus, alter Junge.«

»Bin ich auch. Sie sehen genauso aus. Wir waren auf demselben Fest.«

»Ja. Wie geht’s Malcolm?«

»Nicht besonders. Über ihn wollte ich mit Ihnen sprechen.« Sie suchten sich einen Tisch in dem stickigen, überfüllten Raum.

An einem Ecktisch fanden sie Platz. Die chinesischen Diener trugen Platten mit Roastbeef auf, Hühnerpastete, Fischpastete, Fischsuppe, Fleischpastete aus Cornwall, Yorkshire Pudding, Pökelfleisch, Currys und Schüsseln voll Reis für die alten Chinaveteranen, dazu Whisky, Rum, Gin, Portwein, Champagner, Rot- und Weißwein und Krüge voll Bier. Neben jedem Platz lagen Fliegenklatschen.

McFay benutzte die seine. »Ich wollte Sie bitten, mit Malcolm zu sprechen. Sagen Sie ihm, daß es gut für ihn ist, möglichst bald nach Hongkong zurückzukehren.«

»Aber Jamie, das wird er doch sicher ohnehin tun. Außerdem hört er bestimmt nicht auf mich, warum sollte er auch? Was ist los?«

»Seine Mutter. Ich fürchte, das ist kein Geheimnis mehr. Sagen Sie nichts, aber sie schreibt mir mit jeder Post, ich soll ihm befehlen, daß er nach Hause zurückkehrt – aber ich kann überhaupt nichts machen, er will einfach nicht hören, und wenn die Nachricht von dem Ball und seiner offiziellen Verlobung in Hongkong eintrifft…« McFay verdrehte die Augen. »Ayeeyah! Dann ist die Kacke am Dampfen.«

Trotz McFays finsterer Miene mußte Tyrer lachen. »Das ist schon passiert, es stinkt, wie es noch nie gestunken hat. Der ganze Gesandtschaftsgarten ist mit einer kniehohen Schicht bedeckt.«

»Ach ja?« Der Schotte begann stirnrunzelnd zu schnuppern. »Hatte ich gar nicht bemerkt. Wie ist der Curry?« erkundigte er sich bei einem Nachbarn.

»Scharf, Jamie.« Der Mann, Lunkchurch, spie ein Stück Hühnerknochen auf den mit Sägemehl bedeckten Boden. »Hab mir schon den zweiten Schlag geholt.«

Tyrer winkte einem der Kellner, die vorbeikamen, aber der junge Mann mit den großen Zähnen übersah ihn geflissentlich.

»He! Dew neh loh moh, Kellner!« rief McFay gereizt. »Curry viel schnell, heya!«

Ringsum ertönten Gelächter und schrille, höhnische Pfiffe über den chinesischen Fluch, während der calvinistische Padre des Highland Bataillons, der mit seinem Kollegen von der Church of England einen reichhaltigen Lunch einnahm, eine säuerliche Miene zog.

Ein Teller blutiges Roastbeef wurde vor McFay auf den Tisch geknallt. »Curry, Mass’er, viel sehr schnell schnell heya?« erklärte der junge Diener.

Wütend schob McFay den Teller zurück. »Das ist Roastbeef, verdammt noch mal! Curry, Himmeldonnerwetter, ich will Curry!«

Brummelnd kehrte der Diener in die Küche zurück, wo er sich vor Lachen bog. »Noble House Fay ist hochgegangen wie ‘n Faß voll Feuerwerk, als ich ihm das Roastbeef unter die Knollennase schob und so tat, als hielte ich es für Curry. Ayeeyah.« Er hielt sich den Bauch vor Lachen. »Ich hätt mir fast in die Hosen gemacht. Fremde Teufel zum besten zu halten macht noch mehr Spaß als kopulieren.«

Andere stimmten in sein Lachen ein, bis der Chefkoch herüberlangte und ihm eine Ohrfeige versetzte. »Hör zu, du dreckiger kleiner Scheißer – und ihr anderen auch –, fremde Teufel vom Noble House werden nicht zum besten gehalten, bis Noble House Chen sagt, daß es in Ordnung ist. Und jetzt bring Noble House Fay sofort sein Curry, und wage ja nicht reinzuspucken, sonst werd ich deine Eier in Butter braten.«

»Ayeeyah, ist doch üblich, den fremden Teufeln ins Essen zu spucken, Ehrenwerter Chefkoch«, begehrte der junge Mann auf, griff sich zusätzlich einen Teller mit Hühnerpastete und gehorchte.

Der Teller mit Curry und eine Schüssel Reis wurden vor McFay auf den Tisch gestellt. »Curry, Mass’er, Sie wollen heya macht nichts.« Innerlich fluchend eilte der junge Mann davon, aber er war trotzdem zufrieden, denn obwohl er es nicht gewagt hatte, dem Chefkoch nicht zu gehorchen, hatte er auf dem ganzen Weg von der Küche zum Tisch seinen schmutzigen Daumen in den Curry gehalten.

»Unverschämter Hund«, schimpfte Jamie. »Zehn Dollar gegen einen geplatzten Flush, daß der Mistkerl reingespuckt hat.«

»Wenn Sie so sicher sind, warum schreien Sie ihn dann an?« Tyrer begann seine Fleischpastete aufzuschneiden.

»Weil er das braucht, das brauchen sie alle, und dazu einen kräftigen Tritt in den Hintern.« Genußvoll nahm McFay den gelblich-schleimigen Curry aus Hammelfleisch und Kartoffeln in Angriff, auf dessen Oberfläche dicke Fettaugen schwammen. »Ach, übrigens – ich habe gehört, Sie haben einen Samurai aus Edo rausgeschmuggelt, der ein bißchen Englisch spricht.«

Tyrer hätte sich fast an einem Stück Huhn verschluckt. »Unsinn!«

»Warum sind Sie dann jetzt so rot geworden, verdammt noch mal? Sie reden mit Noble House McFay! Kommen Sie, Phillip, hatten Sie etwa erwartet, Sie könnten das hier geheimhalten? Irgend jemand hat mitgehört.« Von der Schärfe des Curry war ihm der Schweiß auf die Stirn getreten. »Das Zeug ist so scharf, daß es einem die Eier wegfrißt – aber gut. Möchten Sie auch was?«

»Nein danke.«

Munter setzte McFay seine Mahlzeit fort. Dann wurde sein Ton auf einmal hart, obwohl er immer noch vertraulich sprach. »Wenn Sie mir nicht alles über ihn erzählen, alter Junge, vertraulich natürlich, und mir sämtliche Informationen geben, werde ich hier und jetzt einen Bericht abgeben – an ihn.« Mit dem Löffel deutete er auf Nettlesmith, den Herausgeber des Yokohama Guardian, der sie schon neugierig beobachtete. Ein Klecks Curry fiel auf das Tischtuch. »Wenn Wee Willie von Ihrem Geheimnis erst aus der Zeitung erfährt, wird er explodieren, wie Sie es bestimmt noch nie erlebt haben.«

Tyrer verging der Appetit. Voll Nervosität entgegnete er: »Ich… Es stimmt, wir haben einem Dissidenten zur Flucht aus Edo verholfen. Mehr kann ich nicht sagen. Im Augenblick steht er unter dem Schutz Ihrer Majestät. Tut mir leid, mehr kann ich wirklich nicht sagen. Streng geheim.«

McFay musterte ihn argwöhnisch. »Unter dem Schutz Ihrer Britischen Majestät, eh?«

»Ja, tut mir leid. Ein geschlossener Mund fängt keine Fliegen, mehr kann ich nicht sagen. Staatsgeheimnis.«

»Interessant.« McFay putzte seinen Teller blank und rief nach einer zweiten Portion. »Aber ich würd’s wirklich keinem weitersagen.«

»Tut mir leid, ich habe Geheimhaltung geschworen.« Tyrer schwitzte ebenfalls; das gehörte, vom Winter und den Frühlingsmonaten abgesehen, in Asien zwar dazu, war aber auch darauf zurückzuführen, daß sein Geheimnis offenbar bekannt war. Dennoch war er zufrieden mit der Art, wie er sich Jamie gegenüber verhielt, dem zweifellos wichtigsten Kaufmann von ganz Yokohama. »Das werden Sie doch sicher verstehen.«

Ganz auf seinen Curry konzentriert, nickte McFay freundlich. »Ich verstehe sehr gut, alter Freund. Sowie ich aufgegessen habe, kriegt Nettlesmith die Exklusivstory.«

»Das würden Sie nicht wagen!« Tyrer war entsetzt. »Staatsgeheimnisse…«

»Zum Teufel mit den Staatsgeheimnissen«, zischte McFay. »Erstens glaube ich Ihnen nicht, zweitens, selbst wenn es eins wäre, hätten wir das Recht, davon zu erfahren, denn wir sind der Staat, bei Gott, und nicht eine Bande von diplomatischen Tagedieben, die sich nicht mal den Weg aus ‘ner leeren Tüte freifurzen können.«

»Also, hören Sie mal…«

»Ich höre. Raus damit, Phillip, oder Sie lesen in der nächsten Ausgabe davon.« Mit unschuldigem Lächeln stippte McFay mit einem Stück Brot den letzten Rest Sauce auf und stopfte es sich in den Mund. Dann rülpste er, stieß seinen Stuhl zurück und wollte sich erheben. »Ihr eigene Schuld.«

»Warten Sie!«

»Alles? Sie müssen bereit sein, mir alles zu erzählen.«

Tyrer nickte ergeben. »Wenn Sie schwören, es geheimzuhalten.«

»Gut, aber nicht hier. Mein Büro ist sicherer. Kommen Sie.« Als sie an Nettlesmith vorbeikamen, fragte er: »Was gibt’s Neues, Gabriel?«

»Lesen Sie die Nachmittagsausgabe, Jamie. Könnte jeden Moment Krieg in Europa geben, Lage in Amerika kritisch, weil sich auch dort ein Krieg zusammenbraut.«

»Wie gehabt. Na ja, bis dann…«

»Guten Tag, Mr. Tyrer.« Nettlesmith streifte Phillip nur mit einem Blick, dann richtete sich seine Aufmerksamkeit wieder auf McFay. »Ich habe eine Vorauskopie des letzten Kapitels von Große Erwartungen.«

Unvermittelt blieb Jamie stehen. Phillip ebenfalls. »Das glaube ich Ihnen nicht, bei Gott!«

»Ich geb sie Ihnen für zehn Dollar und für die Zusage einer Exklusivstory.«

»Was für eine Exklusivstory?«

»Sobald Sie eine haben. Ich vertraue Ihnen.« Wieder richtete sich sein listiger Blick auf Tyrer, der bemüht war, nicht zusammenzuzucken.

»Heute nachmittag, Gabriel? Ganz bestimmt?«

»Ja. Für eine Stunde, damit Sie sie nicht kopieren können. Es hat mich fast jede Gefälligkeit gekostet, die mir die Leute von Fleet Street schulden, um mir die Fortsetzung zu besorgen…«

»Zu stehlen. Ich biete zwei Dollar.«

»Acht, aber Sie haben die Stunde nach Norbert.«

»Letztes Angebot: acht. Und ich krieg’s zuerst.«

»Und die Exklusivstory? Gut. Sie sind ein Gentleman, Jamie. Ich bin um drei in Ihrem Büro.«

Durch das offene Fenster hörte Tyrer die Schiffsglocke vor dem Büro des Hafenmeisters acht Glasen schlagen. Er hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und döste vor sich hin; die nachmittäglichen Schönschreibübungen hatte er völlig vergessen. Unnötig, auf die Kaminuhr zu sehen. Sein Verstand sagte ihm, daß es vier Uhr nachmittags war.

Er gähnte, öffnete die Augen. Vor kaum mehr als einem halben Jahr bin ich noch nie auf einem Kriegsschiff gewesen; inzwischen weiß ich sofort, wie spät es ist, wenn ich eine Schiffsglocke höre.

Seine Kaminuhr schlug vier. Pünktlich. In einer halben Stunde soll ich bei Sir William sein. Die Schweizer können wirklich Chronometer bauen, besser als wir. Wo zum Teufel steckt Nakama? Ob er weggelaufen ist? Er hätte schon vor Stunden zurück sein sollen. Was zum Teufel will Sir William von mir? Hoffentlich hat er nichts von meinem Geheimnis erfahren. Hoffentlich will er nur wieder Depeschen kopiert haben. So ein Mist, daß meine Schrift die beste in der ganzen Gesandtschaft ist. Ich soll als Dolmetscher hier arbeiten und nicht als Schreiber! Verdammt, verdammt, verdammt!

Müde stand er auf und räumte seine Arbeit beiseite, um sich am Becken die Hände zu waschen und die Tinte von den Fingern zu schrubben. Es klopfte. »Herein!«

Hinter Hiraga traten ein Rotrock-Sergeant und ein Soldat ins Zimmer, beide mit aufgepflanztem Bajonett, beide aufgebracht. Hiraga war grün und blau geschlagen, zerzaust, grau vor Wut und so gut wie nackt – Hut verschwunden, Turban verschwunden, Bauernkimono in Fetzen. Der Sergeant stieß ihn mit gezücktem Bajonett vorwärts und salutierte. »Wir haben ihn erwischt, als er über den Zaun klettern wollte, Sir. War verdammt schwierig, ihn zur Ruhe zu bringen. Er hat einen von Ihnen unterschriebenen Paß. Ist der echt?«

»Ja. Ja, er ist echt.« Hastig kam Tyrer zur Tür. »Er ist unser Gast hier, Sergeant, ein Gast von Sir William und mir. Er ist Japanischlehrer.«

»Ein Lehrer, eh?« wiederholte der Sergeant grimmig. »Nun, dann erklären Sie ihm mal, daß Lehrer nicht über Zäune klettern, nicht davonlaufen, keinen Samurai-Haarschnitt tragen, keine Leute erschrecken und nicht wie ‘ne ganze Bande wildgewordener Kater kämpfen – er hat einem meiner Männer den Arm und dem anderen die Nase gebrochen. Wenn wir ihn noch einmal erwischen, werden wir nicht so rücksichtsvoll mit ihm umgehen.« Beide Soldaten stapften hinaus.

Tyrer schloß die Tür, eilte zum Sideboard und holte Wasser. »Hier.«

Fast an seiner Wut erstickend, schüttelte Hiraga den Kopf.

»Bitte. Oder hätten Sie lieber Saké? Oder Bier?«

»Iyé «

»Bitte… Also, dann setzen Sie sich und erzählen Sie mir, was passiert ist.«

Auf japanisch begann Hiraga einen Bericht hervorzusprudeln.

»Gomennasai, Ingerish dozo.« Tut mir leid, bitte Englisch.

Mit Mühe wechselte Hiraga ins Englische und erzählte, mit langen, wütenden Pausen zwischen den Wörtern: »Viele Wachen an Tor und Brücke. Ich gehe durch Sumpf, gehe durch Wasser, über Zaun. Diese Soldat mich sehen. Ich halte, verneige, greife nach Paß, sie werfen zu Boden. Kämpfen, aber zu viele.« Darauf folgte eine weitere Flut von japanischem Gift und wütend gezischten Racheschwüren.

Als das Schlimmste vorbei war, sagte Tyrer: »Tut mir leid, aber es ist Ihre eigene Schuld…« Unwillkürlich wich er zurück, als Hiraga zu ihm herumwirbelte. »Aufhören!« schalt er verärgert. »Der Soldat hatte recht. Die Samurai versetzen die Leute in Angst! Sir William hat Ihnen gesagt, daß Sie vorsichtig sein sollen, und ich ebenfalls.«

»Ich war höflich, ich tat nur, was korrekt war!« behauptete Hiraga empört auf japanisch. »Diese unerzogenen Affen sind über mich hergefallen. Ich wollte meinen Paß herausholen und konnte ihn nicht sofort finden. Affen. Ich werde sie alle umbringen!«

Tyrers Herz klopfte; in seinem Mund sammelte sich der süßliche Geschmack der Angst. »Hören Sie, wir müssen dieses Problem zusammen lösen, und zwar schnell. Wenn Sir William davon hört, wirft er Sie möglicherweise aus der Niederlassung hinaus. Sie und ich, wir müssen das allein lösen, verstanden?«

»Iyé! Was ist ›lösen‹, bitte?«

Dankbar für das ›bitte‹ zügelte Tyrer seine Angst. Dieser Kerl ist zweifellos genauso gefährlich, hitzig und gewalttätig wie die anderen japanischen Samurai. Zum Glück ist er nicht bewaffnet. »›Lösen‹ bedeutet zu einer Einigung kommen. Wir müssen dieses Problem lösen, Sie und ich. Verstehen Sie? Damit Sie hier sicher leben können.«

»Hai. So desu ka! Wakarimasu. Taira-san und ich müssen Problem lösen.« Hiraga zügelte seine Wut. »Bitte, was Sie vorschlagen? Paß nicht gut für Soldat. Männer, die mich sehen, hassen. Wie Problem lösen?«

»Erstens… gibt es einen schönen, alten englischen Brauch. Wenn wir ein schweres Problem lösen müssen, trinken wir Tee.«

Hiraga starrte ihn verständnislos an. Tyrer läutete und bestellte Tee bei Chen, dem Boy Nummer Eins, der, ein scharfes Hackebeil hinter dem Rücken verborgen, Hiraga mißtrauisch musterte.

Während sie warteten, saß Tyrer in seinem Sessel und blickte ernst zum Fenster hinaus. Er hätte den anderen so gern nach Fujiko gefragt, war aber zu gut erzogen. Verdammter Kerl, dachte er, du müßtest mir die Informationen freiwillig geben, du weißt genau, wie gespannt ich bin. Ich muß ihm unbedingt englische Manieren beibringen, damit er nicht ständig in die Luft geht. Einen englischen Gentleman aus ihm machen. Aber wie? Und dann ist da dieser verdammte Jamie, der verdammt viel zu gerissen ist.

Nach dem Lunch war er mit McFay in dessen Büro gegangen, hatte einen kleinen Brandy akzeptiert und ihm zu seiner eigenen Überraschung innerhalb weniger Minuten alles erzählt.

»Och, Phillip, Sie sind brillant«, hatte McFay ihm aufrichtig begeistert erklärt. »Wenn man ihm die richtigen Fragen stellt, wird dieser Bursche eine veritable Goldmine für uns sein. Hat er gesagt, woher er kommt?«

»Choshu, hat er, glaube ich, gesagt.«

»Ich würde mich gern mit ihm unterhalten – unter vier Augen.«

»Wenn er mit Ihnen spricht, werden andere davon erfahren, und dann ist es aus mit dem Geheimnis. Alle werden sie Bescheid wissen.«

»Wenn ich es weiß, weiß es Norbert, und ich wette, daß die Bakufu ebenfalls Bescheid wissen – die sind doch nicht dumm. Tut mir leid, aber hier gibt es keine Geheimnisse. Wie oft muß ich Sie noch daran erinnern?«

»Na schön, ich werde ihn fragen. Aber nur, wenn ich dabeisein darf.«

»Also, das ist wirklich nicht nötig, Phillip, Sie haben so viel zu tun. Ich möchte Ihnen nicht die Zeit stehlen.«

»Ja oder nein!«

McFay seufzte. »Sie sind ein harter Brocken, Phillip. Na schön.«

»Und ich will außerdem das letzte Kapitel lesen – ohne Gebühr! Sagen wir morgen. Arrangieren Sie das mit Nettlesmith.«

Ziemlich scharf entgegnete McFay: »Wenn ich die horrende Summe von acht Dollar bezahlen muß, müssen Sie auch etwas dazu beitragen.«

»Dann gibt es kein Gespräch, und ich werde Sir William informieren.« Innerlich lächelte er, wenn er an die saure Miene dachte, die McFay gezogen hatte. Dann wurde er unterbrochen: »Cha, Mass’er, viel schnell schnell.« Chen stellte das Teetablett ab.

Feierlich schenkte Tyrer ein, fügte Milch und Zucker hinzu und trank genußvoll das kochend heiße, eisenschwarze Gebräu. »Ah, das tut gut.«

Hiraga machte es ihm nach. Es kostete ihn seine gesamte Willenskraft, nicht aufzuschreien, als er den heißen Tee schluckte, und diese übelschmeckende Flüssigkeit bei sich zu behalten.

»Gut, eh?« sagte Tyrer strahlend und leerte seine Tasse. »Noch ein wenig?«

»Nein, vielen Dank. Englischer Brauch, ja?«

»Englisch und amerikanisch, ja. Nicht französisch. Die Franzosen…«, Tyrer zuckte die Achseln, »…haben keinen Geschmack.«

»Ah, so ka?« Hiraga hatte die Verachtung bemerkt. »Franzosen nicht so wie Engländer?« erkundigte er sich, seine Wut vorerst beiseite schiebend, mit vorgetäuschter Naivität.

»Großer Gott, nein, ganz und gar nicht. Die leben auf dem Kontinent, wir dagegen sind ein Inselreich wie ihr. Andere Bräuche, andere Küche, andere Regierung, alles anders, und Frankreich ist im Vergleich zu England eine unbedeutende Macht.« Zufrieden, weil die Wut des Mannes verflogen zu sein schien, rührte Tyrer noch einen Löffel Zucker in seinen Tee.

»Ach ja? Engländer und Franzosen Krieg gehabt?«

Tyrer lachte. »Dutzende im Lauf der Jahrhunderte, aber in anderen Kriegen waren wir Verbündete. Wie zum Beispiel auch im letzten.« Mit kurzen Worten erzählte er ihm von der Krim, von Napoleon Bonaparte, der Französischen Revolution und dem gegenwärtigen Kaiser Louis Napoleon. »Das ist Bonapartes Neffe, ein absoluter Hanswurst. Bonaparte dagegen war der böseste Mensch, den es jemals gegeben hat; Hunderttausenden hat er den Tod gebracht. Wären Wellington, Nelson und unsere Truppen nicht gewesen, hätte er die ganze Welt regiert. Verstehen Sie das alles?«

Hiraga nickte. »Nicht alle Worte, aber verstehen.« Nur vermochte er nicht zu begreifen, warum ein großer General als böser Mensch betrachtet wurde. »Bitte weiter, Taira-san.«

Tyrer fuhr fort; dann beendete er seine Geschichtslektion und gab ihm einen Hinweis. »Nun zu Ihrem Problem. Als Sie die Yoshiwara verließen, haben die Wachen keine Schwierigkeiten gemacht?«

»Nein. Ich habe getan, als bringe Gemüse.«

»Das ist gut. Ach, übrigens – haben Sie Raiko-san gesehen?«

»Ja. Fujiko morgen nicht möglich.«

»Ach. Na ja, macht nichts.« Innerlich verzweifelnd zuckte Tyrer die Achseln.

Aber Hiraga bemerkte seine Enttäuschung und genoß sie. Sonno-joi, dachte er grimmig. Er hatte Fujikos Dienste wieder selbst kaufen müssen, aber das störte ihn nicht. »Da Sie gut bezahlen«, hatte Raiko gesagt, »wenn auch nicht so gut wie die Gai-Jin, bin ich einverstanden. Aber am Tag darauf sollte er mit ihr schlafen dürfen. Ich möchte nicht, daß er sich eine andere…«

»Nakama-san«, sagte Tyrer, »die einzige Möglichkeit für Sie, hier sicher zu sein, ist, überhaupt nicht auszugehen. Ich werde Sie nicht mehr in die Yoshiwara schicken. Sie müssen hier bleiben in der Gesandtschaft.«

»Aber noch besser, Taira-san, ich bleibe in Dorf, suche sicheres Haus. Innerhalb Zaun sicherer. Jeden Tag ich komme Sonnenaufgang, oder wann Sie wollen, gebe Lektion und kehre zurück. Sie sehr gut Sensei. Das lösen Problem, ja?«

Tyrer zögerte; er wollte ihn nicht von der Leine lassen, aber auch nicht mehr in allzu großer Nähe haben. »Gut. Wenn Sie mir zeigen, wo genau, und nicht weggehen, ohne es mir zu sagen.«

Hiraga nickte; dann sagte er: »Ja. Bitte, Sie sagen Soldat gut ich bin hier und in Dorf?«

»Ja. Wird gemacht. Sir William ist bestimmt einverstanden.«

»Danke, Taira-san. Sagen Soldat auch, wenn mich wieder angreifen, ich hole katana.«

»Das werden Sie nicht tun! Ich verbiete es! Sir William hat es verboten. Keine Waffen, keine Schwerter!«

»Bitte sagen Soldat, kein Angriff bitte.«

»Das werde ich tun, aber wenn Sie hier Schwerter tragen, wird man Sie umbringen, wird man Sie erschießen!«

Hiraga zuckte die Achseln. »Bitte, kein Angriff. Wakata?«

Tyrer antwortete nicht. Wakata war die Befehlsform von wakarimasu ka: Verstehen Sie?

Überhöflich, jedoch mit einer unvermittelten, unterdrückten Grausamkeit, die Tyrer fast riechen konnte, bedankte sich Nakama abermals und erklärte, daß er gegen Abend zurückkehren werde, um ihn zu dem sicheren Haus zu führen, wo er dann bereit sei, alle weiteren Fragen zu beantworten. Damit verneigte er sich steif. Tyrer ebenfalls. Er ging hinaus. Jetzt erst entdeckte Tyrer das ganze Ausmaß der Prellungen auf seinem Rücken und seinen Beinen.

In dieser Nacht wurde der Wind wechselhaft, das Meer kabbelig.

Die Flotte, die draußen auf Reede ankerte, machte sich zum Schlafen bereit; die erste Nachtwache, deren Dienst um acht Uhr abends begann, war bereits auf Wachstation. Über fünfzig Mann saßen wegen verschiedener Vergehen in den verschiedenen Zellen, flochten die Neunschwänzigen Katzen für die fünfzig Hiebe, die ihnen am frühen Morgen verabreicht werden sollten, und erwarteten ihre Strafen: einer, weil er gedroht hatte, einem schwulen Bootsmann den Hals zu brechen, drei wegen Rauferei, einer, weil er eine Ration Rum gestohlen, und einer, weil er einen Offizier beschimpft hatte.

Für den Sonnenaufgang waren neun Seebestattungen angesetzt.

Alle Schiffslazarette waren überbelegt mit Kranken, die an Ruhr, Diarrhöe, Krupp, Keuchhusten, Scharlach, Masern, Geschlechtskrankheiten, Knochenbrüchen, Leistenbrüchen und ähnlichem litten, alles Routine bis auf vierzehn mit den lebensgefährlichen Pocken an Bord des Flaggschiffs. Für die meisten Krankheiten wurden Aderlässe und brutale Einläufe empfohlen, denn fast alle Ärzte waren zugleich Barbiere. Und nur ein paar glückliche Patienten erhielten Dr. Collis’ Tinktur, die er während des Krimkrieges entwickelt und die die Todesrate bei Ruhr um drei Viertel gesenkt hatte: sechs Tropfen der dunklen, auf Opiumbasis gemischten Flüssigkeit, und die Gedärme beruhigten sich.

In der ganzen Niederlassung wurden Vorbereitungen für das Dinner und den freudig erwarteten, schönsten Teil des Tages getroffen: die Gespräche nach dem Dinner über die neuesten Gerüchte und Nachrichten – Gott sei Dank kommt morgen wieder der Postdampfer! –, die herzliche Kameradschaft und das Lachen über gepfefferte Skandale, die Spannung bei geschäftlichen Problemen und der Frage, ob es Krieg geben wird, die Berichte über das neueste Buch, das jemand gelesen, oder ein neues Gedicht, das jemand erdacht hatte, die Erzählungen über Reisen an unbekannte Orte innerhalb des Empire – Neuseeland, Afrika und Australien, bis auf die Küstenregionen noch kaum erforscht – oder in den Wilden Westen Amerikas und Kanadas, die Geschichten vom kalifornischen Gold Rush von ‘48 oder über Besuche in Spanisch-, Französisch- oder Russisch-Amerika – Dimitri hatte einmal die nicht kartographierte Westküste von San Francisco nach Norden bis nach Russisch-Alaska befahren –, und jeder Mann berichtete von seltsamen Dingen, die er gesehen, Mädchen, die er probiert, Kriegen, die er erlebt hatte. Guter Wein, gute Drinks, Pfeifen und Tabak aus Virginia, ein paar Abschiedsdrinks im Club, danach Abendgebete und ins Bett.

Ein ganz normaler Abend im Britischen Empire.

Manche Gastgeber spezialisierten sich auf Dichterlesungen oder Auszüge aus einem bevorzugten Roman, und so fand sich bei Norbert Greyforth ganz privat eine Gesellschaft von Gästen zusammen, die allesamt Schweigen geschworen hatten, um sich die Schwarzkopie des letzten Kapitels anzuhören, die er in der ihm zugeteilten Stunde angefertigt hatte, indem er all seine fünfzig Büroangestellten dafür einsetzte. »Wenn etwas rauskommt, werdet ihr alle fristlos entlassen«, hatte er ihnen gedroht.

Im Club wurde noch über den gestrigen Ball diskutiert und beratschlagt, wie man so etwas öfter arrangieren könnte. »Warum nicht jede Woche, eh? Von mir aus kann Angel Tits mit Naughty Nellie Fotheringill jeden Tag die Röcke schwenken und ihre Büxen zeigen…«

»Verdammt noch mal, hört endlich auf, sie Angel Tits zu nennen!«

So begann unter Johlen und Pfeifen wieder einmal eine Schlägerei, und während Lunkchurch und Grimm, die beiden Kontrahenten, antraten, um einander den Schädel weich zu prügeln, wurden zahlreiche Wetten angenommen.

Fast genau gegenüber dem Club lag der große Backsteinbau der britischen Gesandtschaft mit Fahnenmast im Vorgarten und grünem Park, umgeben, wie die meisten wichtigen Gebäude, von einem hohen Zaun. Sir William war, ebenso wie sein wichtigster Gast, der Admiral, bereits zum Dinner angekleidet. Beide Herren kochten vor Wut.

»Diese verdammten Schweine!« fluchte der Admiral, dessen rotes Gesicht noch tiefer gerötet war als sonst, und ging zum Sideboard, um sich noch einmal einen großen Whisky einzuschenken. »Das ist einfach unverständlich.«

»Absolut.« Sir William warf die Schriftrolle beiseite und funkelte Johann und Tyrer, die vor ihm standen, aufgebracht an. Vor einer Stunde hatte ein Bote des japanischen Gouverneurs die Rolle im Auftrag der Bakufu gebracht. »Sehr dringend, Verzeihung.« Statt auf holländisch, wie üblich, war der Text in Schriftzeichen abgefaßt. Mit Seratards Zustimmung hatte Johann einen der zu Besuch weilenden französischen Jesuiten-Missionare konsultiert und eine Rohübersetzung zustande gebracht, die Tyrer sofort in korrektes Englisch übertrug.

Die Nachricht kam vom Ältestenrat und war von Anjo unterzeichnet. Sie lautete:

Ich spreche mit Ihnen per Depesche. Auf Befeh l des Shōgun, übermittelt aus Kyōto, wird der Termin der Verhandlungen mit den roju, die in neunzehn Tagen stattfinden sollten, sowie die für denselben Tag angesetzte Audienz bei dem Erhabenen Shōgun um drei Monate verschoben, da Seine Majestät nicht frühe r zurückkehren wird. Daher lasse ich Ihnen dieses zukommen, bevor ich eine Konferenz über die Details einberufe. Die zweite Rate des Geschenks wird dreißig Tage später geliefert. Hochachtungsvolle und demütige Kommunikation.

»Johann«, sagte Sir William in eisigem Ton, »würden Sie sagen, daß dies ein grob, unhöflich und eindeutig beleidigend abgefaßtes Schreiben ist?«

Der Schweizer zeigte ein gezwungenes Lächeln und antwortete vorsichtig: »Ich glaube, Sir William, das haben Sie richtig ausgedrückt.«

»Verdammt noch mal, ich habe tagelang verhandelt, gedroht, nicht geschlafen und wieder verhandelt, bis sie endlich auf das Haupt des Shōgun geschworen haben, daß die Verhandlungen mit ihnen am 5. und 6. November in Edo stattfinden würden – und nun dies!« Sir William kippte seinen Drink, verschluckte sich und fluchte fast fünf Minuten lang auf englisch, französisch und russisch, während die anderen ihn voller Bewunderung für die umwerfend deskriptiven Unflätigkeiten anstarrten.

»Ganz recht«, kommentierte der Admiral. »Tyrer, holen Sie Sir William noch einen Gin.«

Tyrer gehorchte. Sir William zückte sein Taschentuch, schneuzte sich, nahm Schnupftabak, nieste und schneuzte sich abermals. »Die Pest über die ganze Bande!«

»Haben Sie einen Vorschlag, Sir William?« erkundigte sich der Admiral, der die Genugtuung kaum verbergen konnte.

»Selbstverständlich werde ich umgehend antworten. Bitte lassen Sie die Flotte morgen nach Edo auslaufen, um alle Hafenanlagen zu beschießen, die ich bestimme.«

Der Admiral zog die Brauen zusammen. »Ich denke, das sollten wir unter vier Augen besprechen, Gentlemen!« Tyrer und Johann wandten sich zum Gehen.

»Nein!« widersprach Sir William gepreßt. »Sie können gehen, Johann; bitte warten Sie draußen. Aber Tyrer gehört zu meinem persönlichen Stab. Er bleibt.«

Der Hals des Admirals lief blaurot an, aber er schwieg, bis sich die Tür geschlossen hatte. »Meine Meinung über die Beschießung ist Ihnen bekannt. Bis der Befehl aus England kommt, werde ich den Befehl dazu nur geben, wenn ich angegriffen werde.«

»Ihre Position macht alle Verhandlungen unmöglich. Die Macht liegt einzig in den Rohren unserer Geschütze.«

»Ganz Ihrer Meinung. Nur den Zeitpunkt halte ich für unpassend.«

»Den Zeitpunkt bestimme ich. Gut. Dann befehlen Sie eben nur eine kleine Kanonade: Zwanzig Schuß auf Ziele meiner Wahl.«

»Verdammt noch mal, nein! Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Sobald der Befehl aus England eintrifft, werde ich, falls nötig, ganz Japan in Trümmer legen – aber erst dann!«

Sir William errötete. »Ihre Weigerung, die Politik Ihrer Majestät zu unterstützen, ist einfach unglaublich!«

»Das wirkliche Problem scheint mir hier persönliche Überheblichkeit zu sein. Was sind schon ein paar Monate mehr? Gar nichts. Reine Vorsicht.«

»Zum Teufel mit der Vorsicht«, entgegnete Sir William zornig. »Selbstverständlich werden wir den Befehl erhalten, so vorzugehen, wie ich – ich wiederhole, ich – es für richtig erachte. Die Dinge verzögern wäre äußerst unvorsichtig. Mit der morgigen Post werde ich verlangen, daß Sie durch einen Offizier ersetzt werden, der die Interessen Ihrer Majestät besser vertritt – und überdies kampferfahrener ist.«

Der Admiral erstickte fast. Nur wenige wußten, daß er in seiner ganzen Laufbahn niemals an einem Kampf zur See oder zu Lande teilgenommen hatte. Als er wieder sprechen konnte, sagte er: »Das, Sir, bleibt Ihnen vorbehalten. Aber bis mein – oder Ihr – Ersatz eintrifft, habe ich den Befehl über die Streitkräfte Ihrer Majestät in Japan. Gute Nacht, Sir.« Die Tür fiel ins Schloß.

»Impertinenter Scheißkerl«, murmelte Sir William. Dann sah er zu seinem Erstaunen, daß Tyrer, wie gelähmt von dem Geplänkel, immer noch hinter ihm stand. »Sie werden natürlich den Mund halten. Hat man Ihnen das beigebracht?«

»Ja, Sir. Hat man.«

»Gut.« Sir William riß seine erregten Gedanken von dem gordischen Knoten aus Bakufu, roju und widerborstigem Admiral los. »Holen Sie sich einen Sherry, Tyrer; Sie sehen aus, als könnten Sie einen gebrauchen. Und da der Admiral meine Einladung zum Dinner ausgeschlagen hat, sollten Sie seinen Platz einnehmen. Spielen Sie Backgammon?«

»Jawohl, Sir. Danke, Sir«, antwortete Tyrer bescheiden.

»Übrigens, da fällt mir ein – was habe ich da gehört? Ihr Lieblings-Samurai hat ein Gerangel mit der britischen Army gehabt?«

Tyrer berichtete ihm die Einzelheiten sowie die Lösung, die er gefunden hatte, nicht aber von der Drohung seines Sensei, er werde sich Schwerter besorgen. »Ich würde ihn wirklich gern behalten, natürlich nur mit Ihrem Einverständnis, aber er ist ein sehr guter Lehrer, und ich bin überzeugt, daß er uns sehr nützlich sein könnte.«

»Das bezweifle ich. Und wichtiger ist außerdem, daß es hier keine Probleme mehr gibt. Unmöglich vorauszusagen, was dieser Bursche noch alles anstellen wird; er könnte die Natter an unserem Busen sein. Morgen wird er von hier verschwinden.«

»Aber Sir, er hat mir schon sehr wertvolle Informationen gegeben.« Verzweifelt sprudelte Tyrer heraus: »Zum Beispiel hat er mir erzählt, daß der Shōgun noch ein Knabe ist, knapp sechzehn, und eine Marionette der Bakufu, daß die wirkliche Macht dem Kaiser gehört – er hat mehrmals den Titel Mikado benutzt –, der in Kyōto lebt.«

»Allmächtiger!« Sir William war fassungslos. »Ist das wahr?«

Es lag Tyrer auf der Zunge, ihm von den Englischkenntnissen zu erzählen, doch es gelang ihm, sich zu zügeln. »Ich weiß es noch nicht, Sir, ich hatte noch keine Zeit, ihn richtig auszufragen, es ist schwierig, er ist schweigsam, aber doch, ja, ich glaube, daß er mir die Wahrheit gesagt hat.«

Sir William starrte ihn an; sein Kopf schwirrte von den Möglichkeiten, die ihm diese Informationen boten. »Was hat er Ihnen noch erzählt?«

»Ich habe gerade erst angefangen, und wie Sie sich vorstellen können, brauche ich viel Zeit dazu.« Tyrers Erregung stieg merklich. »Aber er hat mir von den ronin erzählt. Das Wort bedeutet ›Wellen‹, Sir, und sie werden Ronin genannt, weil sie so frei sind wie die Wellen. Es sind alles Samurai, die aus den verschiedensten Gründen Gesetzlose wurden. Die meisten, wie Nakama, sind Gegner der Bakufu und der Überzeugung, daß diese dem Mikado die Macht entrissen haben.«

»Moment mal, langsam, Tyrer. Langsam. Wir haben viel Zeit. Also, was genau ist ein Ronin?«

Tyrer erklärte es ihm.

»Großer Gott!« Sir William überlegte einen Moment. »Die Ronin sind also Samurai, die entweder zu Gesetzlosen wurden, weil ihr König in Ungnade gefallen ist oder weil sie von ihren Königen wegen wirklicher oder eingebildeter Verbrechen zu Gesetzlosen erklärt wurden, oder sie sind freiwillig Gesetzlose, die sich zusammenrotten, um die zentrale Regierung der Shōgun-Marionette zu stürzen?«

»Ja, Sir. Er behauptet, daß es eine ungesetzmäßige Regierung ist.«

Sir William trank den letzten Schluck Gin aus seinem Glas und nickte vor sich hin, während er all diese Informationen verwundert und beglückt zu verarbeiten suchte. »Dann ist Nakama ein Ronin, also das, was Sie als Dissidenten und ich als Revolutionär bezeichnen?«

»Genau, Sir. Entschuldigen Sie, Sir, darf ich mich setzen?« fragte Tyrer nervös, der so gern die Wahrheit über Nakama hinausgesprudelt hätte, es aber nicht wagte.

»Gewiß, gewiß, Tyrer. Tut mir leid, aber holen Sie sich erst mal noch einen Sherry und bringen Sie mir einen Schluck Gin.« Sir William beobachtete ihn nachdenklich. Er freute sich über den jungen Mann, war aber auch irgendwie beunruhigt. Die vielen Jahre mit Diplomaten, Spionen, Halbwahrheiten, Lügen und krasser Desinformation lösten Warnsignale aus, die ihm anzeigten, daß ihm etwas verheimlicht wurde. Von Tyrer ließ er sich das Glas geben. »Danke. Nehmen Sie den Sessel dort, das ist der bequemste. Cheers! Sie müssen sehr gut Japanisch sprechen, um all das in so kurzer Zeit von ihm erfahren zu haben«, sagte er nebenbei.

»Nein, Sir. Tut mir leid, aber das kann ich noch nicht, obwohl ich ständig lerne. Mit Nakama, na ja, da geht es meistens mit Geduld, Gesten, ein paar englischen Wörtern sowie japanischen Wörtern und Sätzen, die André Poncin mir gegeben hat. Er ist mir wirklich eine wertvolle Hilfe, Sir.«

»Weiß er, was Ihnen dieser Mann mitgeteilt hat?«

»Nein, Sir.«

»Dann sagen Sie ihm auch nichts. Sonst noch was?«

»Nein, Sir. Nur Jamie McFay.« Tyrer kippte seinen Sherry hinunter. »Er wußte schon etwas, und… Na ja, er kann sehr gut reden und hat’s einfach aus mir herausgeholt, das über den Shōgun.«

Sir William seufzte. »O ja, Jamie kann wirklich gut reden. Und weiß weit mehr, als er erkennen läßt.«

Er lehnte sich in dem bequemen Ledersessel zurück, trank einen Schluck, ließ all diese unbezahlbaren neuen Informationen Revue passieren und versuchte, während er überlegte, wie weit er Vabanque spielen und wie weit er Tyrers Informationen trauen durfte, schon die Antwort auf die unhöfliche Depesche von heute abend zu formulieren.

»Dieser Nakama«, sagte er. »Ich bin mit Ihrem Plan einverstanden, Phillip – darf ich Sie Phillip nennen?«

Tyrer errötete vor Freude über dieses unerwartete Kompliment. »Selbstverständlich, Sir. Vielen Dank, Sir.«

»Gut. Danke. Vorerst einmal stimme ich Ihrem Plan zu, aber nehmen Sie sich um Gottes willen vor ihm in acht. Vergessen Sie nie, daß alle Morde, bis auf den armen Canterbury, von Ronin begangen wurden.«

»Ich werde aufpassen, Sir William. Keine Sorge.«

»Holen Sie aus ihm heraus, was Sie können, aber erzählen Sie’s niemandem und geben Sie mir die Informationen jeweils sofort. Seien Sie um Gottes willen vorsichtig, am besten haben Sie stets einen Revolver zur Hand, und wenn er auch nur das kleinste Zeichen von Gewalttätigkeit erkennen läßt, erschießen Sie ihn, oder legen Sie ihn in Eisen.«

Gleich neben der britischen Gesandtschaft lag die amerikanische, dann kamen die holländische, die russische, die deutsche und ganz hinten die französische. In letzterer kleidete sich Angélique an jenem Abend mit Hilfe von Ah Soh in ihrer Suite zum Dinner an. In einer Stunde sollte das Essen beginnen, das Seratard ihr und Malcolm zu Ehren anläßlich ihrer Verlobung gab. Später sollte es Musikdarbietungen geben. »Aber spielen Sie nicht zu lange, André, schützen Sie Müdigkeit vor«, hatte sie ihn ermahnt. »Lassen Sie sich reichlich Zeit für Ihren Auftrag. Männer haben es ja so gut!«

Sie war froh und traurig zugleich darüber, daß sie etwas unternommen hatte. Aber so ist es klüger, dachte sie. In drei Tagen kann ich wieder umziehen. Ein neues Leben, ein neues…

»Was ist, Miss’ee?«

»Nichts, Ah Soh.« Angélique schob die Gedanken an das, was sie demnächst durchmachen mußte, energisch beiseite und versteckte ihre Angst noch tiefer.

Das Struan-Building, ein Stück die Straße hinunter und in bester Lage dicht am Hafen, war ebenso hell erleuchtet wie das von Brock and Sons gleich daneben; in beiden saßen noch zahlreiche Angestellte und Shroffs bei der Arbeit. Malcolm Struan war heute in die Tai-Pan-Suite umgezogen, die weit größer und bequemer war als jene, die er bisher benutzt hatte, und mühte sich nun unter Qualen in seinen Abendanzug. »Was würden Sie mir raten, Jamie? Verdammt, ich weiß nicht, was ich mit Mutter und ihren Briefen machen soll, aber das ist mein Problem, nicht das Ihre. Ihnen macht sie auch die Hölle heiß, nicht wahr?«

Jamie McFay zuckte die Achseln. »Es ist furchtbar schwer für sie. Von ihrem Standpunkt aus gesehen hat sie recht; sie will nur das Beste für Sie. Ich glaube, sie sorgt sich zu Tode um Ihre Gesundheit, nachdem Sie so weit weg von ihr sind und sie nicht hierherkommen kann. Und nichts, was die Firma Struan betrifft, kann von Yokohama aus erledigt werden, alles immer nur in Hongkong. Die China Cloud wird in ein paar Tagen von Shanghai hier einlaufen, macht aber gleich wieder kehrt und fährt nach Hongkong. Werden Sie mit dem Schiff zurückkehren?«

»Nein. Und sprechen Sie dieses Thema bitte nicht mehr an«, verlangte Struan in scharfem Ton. »Ich werd’s Ihnen schon sagen, wann wir, Angélique und ich, abreisen. Ich hoffe nur, daß Mutter nicht auf der China Cloud ist. Das wäre der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt.« Struan bückte sich, um sich die Stiefel anzuziehen, schaffte es aber nicht, weil die Schmerzen zu stark waren. »Entschuldigen Sie, würden Sie mal? Danke.« Dann platzte er heraus: »Es macht mich wahnsinnig, so hilflos zu sein!«

»Kann ich mir vorstellen.« McFay verbarg sein Erstaunen. Er hörte zum erstenmal, daß Struan dieses Wort benutzte. »Mir würde es genauso gehen, nein, nicht genauso, sondern viel schlechter«, ergänzte er gutmütig, weil er ihn mochte, ja, seine tapfere Haltung bewunderte.

»Wenn wir verheiratet sind und die ganze Warterei vorüber ist, wird’s mir bestimmt besser gehen.« Struan richtete sich auf, um den Nachttopf zu benutzen, immer eine schmerzhafte Angelegenheit, und diesmal entdeckte er wieder ein paar Tropfen Blut im Urin. Gestern, als es von neuem begann, hatte er Hoag davon berichtet, doch Hoag hatte erklärt, er brauche sich keine Sorgen zu machen. »Warum ziehen Sie dann ein so besorgtes Gesicht?«

»Tu ich nicht, Malcolm, nur ein wenig beunruhigt. Bei solch bösartigen inneren Verletzungen muß man während des Heilprozesses auf jedes Symptom achten…«

Struan schloß seine Hose, hinkte zum Sessel am Fenster und ließ sich erleichtert nieder. »Jamie? Sie müssen mir einen Gefallen tun.«

»Selbstverständlich. Was Sie wollen.«

»Könnten Sie mir… Nun ja, ich brauche eine Frau. Könnten Sie mir eine aus der Yoshiwara besorgen?«

Jamie war verblüfft. »Ich, äh… Ich glaube schon.« Dann setzte er hinzu: »Ist das ratsam?«

Ein Windstoß rüttelte an den Läden, schüttelte die Bäume und Sträucher, schleuderte ein paar lose Dachziegel zu Boden und scheuchte die Ratten von den nachlässig auf die High Street gekippten Müllbergen und aus dem dreckigen, stinkenden Kanal, der auch als Abwasserkanal diente.

»Nein«, antwortete Malcolm.

Eine halbe Meile vom Struan-Gebäude entfernt, in der Nähe von Drunk Town, lag Hiraga in einem unauffälligen Haus des japanischen Dorfes splitternackt auf dem Bauch und ließ sich massieren. Das Haus war nichts Besonderes, die Fassade ungepflegt, aber drinnen war alles, wie bei vielen Häusern der wohlhabenderen Kaufleute, blitzsauber, blankpoliert, gepflegt und weitläufig. Es war das Haus des shoya, des Dorfältesten.

Die Masseuse war blind. Sie war Anfang Zwanzig, kräftig gebaut, mit sanftem Gesicht und liebem Lächeln. Nach uraltem Brauch hatten die Blinden in Japan wie auch im größten Teil Asiens ein Monopol auf diese Kunst, obwohl es auch solche gab, die sehen konnten. Und ebenfalls nach uraltem Brauch waren die Blinden ausnahmslos sicher und durften nicht berührt werden.

»Sie sind sehr stark, Samurai-sama«, sagte sie, das Schweigen brechend. »Alle, mit denen Sie gekämpft haben, müssen tot sein oder leidend.«

Sekundenlang vermochte Hiraga nicht zu antworten; zu intensiv genoß er das tiefe Sondieren der erfahrenen Finger, die seine verknoteten Muskeln suchten und sie entspannten. »Mag sein.«

»Bitte, dürfte ich Ihnen ein ganz spezielles Öl aus China empfehlen? Es wird Ihre Platzwunden und Prellungen schnell heilen lassen.«

Er lächelte. So etwas wurde häufig benutzt, um ein bißchen zusätzliches Geld zu verdienen. »Nun gut. Nehmen Sie es.«

»Oh, Sie lächeln, Ehrenwerter Samurai! Dies ist kein Trick, um mehr Geld zu verdienen«, versicherte sie sofort, während sie seinen Rücken knetete. »Ich hab das Geheimnis von meiner Großmutter, die ebenfalls blind war.«

»Woher wissen Sie, daß ich lächle?«

Sie lachte, und der Klang erinnerte ihn an eine Lerche, die in der Morgenluft segelt. »Ein Lächeln entsteht in zahlreichen Teilen des Körpers. Meine Finger hören Ihnen zu – Ihren Muskeln und sogar Ihren Gedanken.«

»Und woran denke ich jetzt?«

»An sonno-joi. Aha, ich hatte recht!« Wieder verwirrte ihn ihr Lachen. »Aber nur keine Angst, Sie haben nichts gesagt, die Gastgeber haben nichts gesagt, ich werde nichts sagen, aber meine Finger sagen mir, daß Sie ein ganz besonderer Schwertkämpfer sind, der beste, dem ich jemals dienen durfte. Und da Sie eindeutig kein Bakufu sind, müssen Sie ein Ronin sein, ein freiwilliger Ronin, weil Sie Gast in diesem Hause sind, also ein Shishi, der erste, den wir hier jemals gehabt haben.« Sie verneigte sich. »Es ist uns eine Ehre. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich sonno-joi unterstützen.«

Nachdrücklich preßten sich ihre stahlharten Finger auf ein Nervenzentrum, bis sie spürte, wie der Schmerz ein Zittern durch seinen Körper schickte; es freute sie, ihm besser helfen zu können, als ihm bewußt war. »Tut mir leid, aber dieser Punkt ist sehr wichtig, um Sie zu beleben und Ihre Körpersäfte fließen zu lassen.«

Er stöhnte; dennoch war der Schmerz, der ihn in die Futons drückte, sonderbar angenehm. »Ihre Großmutter war auch Masseuse?«

»Ja. In meiner Familie wird in jeder zweiten Generation mindestens ein Mädchen blind geboren. In diesem Leben war ich an der Reihe.«

»Karma.«

»Ja. Wie es heißt, blenden in China Väter oder Mütter heutzutage eine ihrer Töchter, damit sie später eine lebenslange Anstellung findet.«

Hiraga hatte zwar nichts davon gehört, glaubte es aber und war empört. »Wir sind nicht in China und werden es niemals sein. Aber eines Tages werden wir China erobern und zivilisieren.«

»Eeee, tut mir leid, wenn ich Ihre Harmonie gestört habe, Herr, bitte entschuldigen Sie, es tut mir so leid! Ah, so ist es besser, bitte entschuldigen Sie, es tut mir leid. Sie sagten, Herr… China zivilisieren? Wie Diktator Nakamura es wollte? Ist das möglich?«

»Ja, eines Tages. Es ist unser Schicksal, den Drachenthron zu erobern, wie es Ihr Schicksal ist, zu massieren und zu schweigen.«

Wieder dieses sanfte Lachen. »Ja, Herr.«

Hiraga seufzte, als ihr Finger den Druckpunkt verließ und statt des Schmerzes ein heilsames Glühen hinterließ. Also wissen alle, daß ich ein Shishi bin, dachte er. Wie lange noch, bis ich verraten werde? Warum auch nicht? Zwei Koku sind ein Vermögen.

Diese sichere Zuflucht zu erreichen war nicht einfach gewesen. Als er in das Viertel kam, herrschte dort entsetztes Schweigen, denn er war ein Samurai, ein Samurai ohne Schwerter, der aussah wie ein wilder Mann. Die Straße leerte sich bis auf die Menschen in seiner Nähe, die niederknieten und ergeben ihr Schicksal erwarteten.

»He, Alter, wo ist die nächste ryokan – Herberge?«

»Wir haben keine, Herr, wir brauchen keine, Ehrenwerter Herr«, antwortete der alte Ladenbesitzer leise und plapperte vor lauter Angst weiter: »Wir brauchen keine, denn unsere Yoshiwara ist ganz in der Nähe, größer als in den meisten Städten, mit Dutzenden von Häusern, in denen Sie absteigen können, und mit über hundert Mädchen ohne die Dienerinnen, drei richtige Geishas und sieben Schülerinnen, es geht dort entlang…«

»Das reicht! Wo ist das Haus des Shoya?«

»Dort, Herr.«

»Wo, du Idiot! Steh auf und zeig mir den Weg!«

Noch immer wütend folgte er ihm die Straße entlang, hätte die Augen, deren Blicke ihm aus jeder Öffnung folgten, am liebsten zerschmettert und das Geflüster hinter seinem Rücken erstickt.

»Dort, Herr.«

Hiraga scheuchte ihn davon. Der offene Laden war angefüllt mit Waren aller Art, aber menschenleer, und das Schild davor verkündete, daß dies die Geschäftsniederlassung von Ichi Ryoshi sei, Shoya, Reishändler und Bankier, Yokohama-Agent der Gyokoyama. Die Gyokoyama war ein zaibutsu, ein loser Familienverband von Firmen, unendlich mächtig in Edo und Osaka als Reishändler, Saké- und Bierbrauer und, am wichtigsten, Bankiers.

Er riß sich zusammen. Vorsichtig und höflich klopfte er an, hockte sich nieder und begann zu warten, während er bemüht war, sich die Schmerzen der Schläge, die ihm die zehn Mann der Patrouille zugefügt hatten, nicht anmerken zu lassen. Endlich kam ein Mann mittleren Alters in den offenen Laden heraus, kniete nieder und verneigte sich. Hiraga erwiderte die Verneigung, stellte sich als Nakama Otami vor und erwähnte, daß sein Großvater ebenfalls Shoya sei, verschwieg allerdings wo, gab ihm nur jene Informationen, die ihm beweisen konnten, daß er die Wahrheit sagte, und erkundigte sich höflich, ob der Shoya, da es keine Ryokan gebe, in der er absteigen könne, möglicherweise ein Zimmer für zahlende Gäste frei habe. »Mein Großvater hat ebenfalls die Ehre, mit der Gyokoyama zaibutsu Geschäfte zu machen – seine Dörfer verkaufen all ihre Ernten über Ihre Firma«, hatte er kurz erwähnt. »Ich wäre Ihnen sogar dankbar, wenn Sie meine Promesse an die Herren in Osaka schicken und mir darauf ein wenig Bargeld vorschießen könnten.«

»Edo ist näher als Osaka, Otami-san.«

»Ja, aber Osaka ist besser für mich als Edo«, gab Hiraga zurück, der das Risiko Edo nicht eingehen wollte, weil dort etwas an die Bakufu durchsickern konnte. Er bemerkte den kühlen, furchtlos kalkulierenden Blick und verbarg seinen Haß, aber selbst Daimyos mußten Vorsicht walten lassen, wenn sie es mit der Gyokoyama oder ihren Agenten zu tun hatten, selbst Herr Ogama von Choshu. Es war allgemein bekannt, daß Ogama bis über beide Ohren bei ihnen verschuldet war und schon das Einkommen mehrerer Jahre an sie verpfändet hatte.

»Es ist meiner Firma eine Ehre, alten Kunden gefällig zu sein. Bitte, wie lange wünschen Sie in meinem Haus zu bleiben?«

»Ein paar Tage, wenn es Ihnen recht ist.« Hiraga erzählte ihm von Tyrer und dem Problem mit den Soldaten – aber nur, weil er sicher war, daß die Nachricht ihm bereits vorausgeeilt war.

»Sie können höchstens drei Tage bleiben, Otami-san. Es tut mir leid, doch falls es eine plötzliche Razzia gibt, müssen Sie in der Lage sein, sofort zu verschwinden, bei Tag und bei Nacht.«

»Ich verstehe. Vielen Dank.«

»Bitte entschuldigen Sie, aber ich hätte gern einen Befehl, unterzeichnet von diesem Taira oder besser noch vom Chef der Gai-Jin, in dem er mich anweist, Ihnen mein Haus zu öffnen – nur für den Fall, daß die Bakufu kommen.«

»Ich werde dafür sorgen.« Hiraga, der sich dankend verneigte, versuchte seinen Ärger über die Bedingungen zu verbergen. »Danke.«

Der Shoya befahl einer Dienerin, Tee und Schreibzeug zu bringen, und sah zu, wie Hiraga die Promesse schrieb und bat, den Betrag vom Konto des Shinsaku Otami – das war der geheime Codename seines Vaters – abzubuchen. Er unterzeichnete sie, siegelte sie mit seinem Chop, unterzeichnete und versiegelte die Quittung für Ryoshi, der sich bereit erklärte, ihm die Hälfte des Betrages zum üblichen Zinssatz von zwei Prozent pro Monat für die drei Monate vorzuschießen, die es dauern würde, das Papier nach Osaka zu schicken und die Transaktion auszuführen. »Wollen Sie den Betrag in bar?«

»Nein, danke. Ich habe noch einige Oban.« Er übertrieb, es waren nur noch zwei. »Eröffnen Sie bitte ein Konto für mich, ziehen Sie die Beträge für mein Zimmer und meine Verpflegung ab, ich brauche Kleidung und Schwerter, und bestellen Sie mir bitte eine Masseuse.«

»Selbstverständlich, Otami-san. Wegen der Kleidung wird Ihnen der Diener zeigen, was wir am Lager haben. Wählen Sie nach Belieben. Wegen der Schwerter…«, Ryoshi zuckte die Achseln, »… die einzigen, die ich habe, sind Spielzeug für die Gai-Jin und kaum der Mühe wert, aber Sie können sie sich ja ansehen. Vielleicht könnte ich Ihnen gute Schwerter besorgen, jetzt werde ich Ihnen aber Ihr Zimmer und Ihren eigenen Eingang zeigen – es steht ein Wachtposten dort, Tag und Nacht.«

Hiraga war ihm gefolgt. Ryoshi hatte keine Bemerkung über seine spärliche Bekleidung oder seine Verletzungen gemacht und keine einzige Frage gestellt. »Sie sind willkommen, es ist eine Ehre für mein ärmliches Haus«, hatte er nur gesagt und ihn allein gelassen.

Als er an die Art dachte, wie das gesagt wurde, überlief Hiraga eine Gänsehaut: so höflich und ernst, unterschwellig jedoch so furchtbar tödlich. Widerlich, dachte er, widerlich, daß wir Samurai von korrupten Daimyos, Shōgunen und Bakufu in Armut gehalten und gezwungen werden, bei diesen minderwertigen zaibutsu zu borgen, die doch nur dreckige, geldgierige Kaufleute sind, aber so tun, als verleihe das Geld ihnen Macht über uns. Bei allen Göttern, wenn der Kaiser erst seine Macht wiedererlangt hat, wird es eine Abrechnung geben, dann werden Kaufleute und zaibutsu bezahlen müssen…

Im selben Moment fühlte er, daß ihre Finger innehielten. »Was ist, Herr?« erkundigte sich die Masseuse ängstlich.

»Nichts, gar nichts. Bitte weiter.«

Sie gehorchte, doch nun war ihre Berührung verändert, und im Zimmer herrschte nervöse Spannung.

Es war ein Achtmattenzimmer, die Futons mit Daunen gestopft, die Tatami von bester Qualität, die Shoji kürzlich mit Ölpapier erneuert. In der Tokonama standen eine Öllampe und Blumenarrangements, an der Wand hing ein kleines Gemälde: eine weite Landschaft mit einer winzigen Hütte in einem Bambushain und einer noch viel winzigeren Frau, die einsam an der offenen Tür stand und in die Ferne spähte. Daneben war ein Liebesgedicht gepinselt.

Warten
Dem Regen lauschen
Den Regen antreiben

So einsam, so von Hoffnung auf die Rückkehr ihres Mannes erfüllt.

Hiraga wäre fast eingeschlummert, als die Shoji-Tür aufgeschoben wurde. »Bitte, entschuldigen Sie, Herr.« Der Diener kniete nieder und meldete unsicher: »Es tut mir leid, aber draußen ist eine minderwertige Person. Er behauptet, Sie zu kennen, will Sie unbedingt sprechen. Es tut mir leid, Sie zu stören, aber er ist sehr hartnäckig und…«

»Wer ist es? Wie heißt er?«

»Er… wollte seinen Namen nicht nennen und hat auch nicht namentlich nach Ihnen verlangt, Herr. Er hat nur immer wieder gesagt: ›Sag dem Samurai: Todo ist der Bruder von Joun.‹«

Augenblicklich sprang Hiraga auf, schlüpfte in seine Yokata, bat die Masseuse, am folgenden Tag um die gleiche Zeit wiederzukommen, wählte einen Platz in der Nähe der beiden Schwerter, die er sich ausgeliehen hatte, bis ihm der Shoya bessere besorgen konnte, und kniete, mit dem Gesicht zur Tür, in Verteidigungsposition nieder. »Schick ihn herein und sorg dafür, daß niemand sonst kommt.«

Der schmutzige junge Bauer in dem zerlumpten Kimono ließ sich draußen vor der Tür auf die Knie nieder. »Danke, Herr, danke, daß Sie mich empfangen«, sagte er leise. Dann blickte er auf, grinste breit und zeigte dabei, daß ihm die Vorderzähne fehlten. »Danke, Herr.«

Hiraga funkelte aufgebracht auf ihn hinab; dann hielt er ungläubig den Atem an, »Ori? Aber… Aber das ist unmöglich!« Als er jedoch näher hinsah, entdeckte er, daß die Zähne als Teil seiner Tarnung nur geschwärzt waren. In diesem Licht war die Illusion jedoch perfekt. Eines war trotzdem deutlich zu erkennen: daß Ori kein Samurai mehr war. Er hatte sich den Haarknoten abgeschnitten und die Haare auf dem ganzen Kopf so kurz geschoren, daß sie nicht länger waren als die zwei Wochen alten Stoppeln auf seinem früher kahlen Schädel. »Warum?« fragte Hiraga fassungslos.

Ori grinste und setzte sich zu ihm. »Die Bakufu suchen Ronin, eh?« flüsterte er, weil beide wußten, daß überall fremde Ohren lauschten. »Ich bin immer noch ein Samurai, aber jetzt kann ich jede Sperre passieren, eh?«

Hiraga stieß bewundernd die Luft aus. »Du hast recht. Du bist brillant, sonno-joi ist nicht von der Haartracht abhängig. So einfach – ich wäre niemals darauf gekommen.«

»Ist mir gestern abend eingefallen. Ich habe über dein Problem nachgedacht, Hiraga, und…«

»Vorsicht! Hier bin ich Nakama Otami.«

»Ach so, das ist der Name! Gut.« Ori lächelte. »Ich wußte nicht, welchen ich benutzen sollte, daher der Code.«

»Haben Sie Todo und die anderen gefunden?«

»Nein, sie werden immer noch vermißt. Sind zweifellos tot. Wie wir hörten, ist Joun wie ein gemeiner Verbrecher hingerichtet worden, aber wir wissen noch immer nicht, wie er erwischt wurde.«

»Warum bist du hergekommen, Ori? Es ist gefährlich.«

»So nicht, und nachts auch nicht. Außerdem mußte ich den neuen Ori ausprobieren und dich sprechen.« Irritiert fuhr er sich mit der Hand über den Borstenkopf und kratzte sich. Sein Gesicht war frisch rasiert. »Ein scheußliches Gefühl, irgendwie obszön, aber macht nichts, jetzt kann ich ungefährdet nach Kyōto gehen. In zwei Tagen werde ich aufbrechen.«

Fasziniert starrte Hiraga auf seinen Kopf; er staunte noch immer über die Veränderung. »Wenn irgend etwas Gefahr von dir abwenden kann, dann dies. Aber die Samurai werden dich alle für einen gemeinen Bauern halten. Wie willst du deine Schwerter tragen?«

»Wenn ich Schwerter brauche, werde ich einen Hut tragen. Wenn ich verkleidet gehe, habe ich das hier.« Ori steckte die gesunde Hand in seinen Ärmel und zog eine zweischüssige Derringer hervor.

Wieder leuchteten Hiragas Augen auf. »Eeee, brillant! Woher hast du sie?«

»Von Fujiko. Sie hat sie mir verkauft, zusammen mit einer Schachtel Patronen. Ein Kunde hatte sie ihr geschenkt, als er Yokohama verließ. Stell dir vor! Eine billige Hure, und besitzt einen solchen Schatz!«

Vorsichtig hielt Hiraga die Waffe in der Hand, wog sie, zielte und öffnete die Kammer, um die zwei Bronzepatronen in den Läufen zu mustern. »Wenn du nah genug bist, kannst du damit zwei Männer töten, bevor du selbst getötet wirst.«

»Einer ist genug, um Zeit zu gewinnen, davonzulaufen und ein paar Schwerter zu holen.« Ori sah Hiraga lächelnd an. »Wir haben von den Soldaten gehört. Ich wollte sehen, ob es dir gut geht. Baka! Wir gehen zusammen nach Kyōto und überlassen all das hier den Hunden, bis wir mit Verstärkung wiederkommen.«

Hiraga schüttelte den Kopf, erzählte, was wirklich geschehen war, berichtete von Tyrer und der Feindschaft zwischen Franzosen und Engländern und ergänzte freudig erregt: »Das ist ein Keil, den wir zwischen sie treiben können. Wir bringen sie dazu, sich gegenseitig zu bekämpfen, sich gegenseitig umzubringen, eh? Ich muß hier bleiben, Ori. Dies ist erst der Anfang. Wir müssen alles in Erfahrung bringen, was sie wissen, wir müssen lernen, zu denken wie sie, erst dann können wir sie vernichten.«

Ori runzelte die Stirn, erwog das Für und das Wider: Obwohl er Hiraga noch nicht verziehen hatte, daß er seinetwegen das Gesicht verlor, weil er ihn gezwungen hatte, das Kreuz abzunehmen, mußte er immer noch sonno-joi schützen. »In dem Fall bist du unser Spion; du wirst in jeder Hinsicht sein wie sie und dich wie eine Wanze in ihre Gesellschaft bohren, äußerlich ihr Freund werden, ja sogar Gai-Jin-Kleidung tragen.« Und als Hiraga ihn verständnislos ansah, setzte er noch hinzu: »Warum nicht? Das wäre ein weiterer Schutz für dich und würde es ihnen erleichtern, dich zu akzeptieren, ne?«

»Aber warum sollten sie mich akzeptieren?«

»Sie sollten es nicht tun, aber sie sind dumm. Taira wird unser Stoßkeil sein. Er kann es arrangieren, es befehlen. Er könnte darauf bestehen.«

»Warum sollte er?«

»Im Tausch gegen Fujiko.«

»Was?«

»Raiko hat uns den Schlüssel gegeben: Gai-Jin sind anders. Sie schlafen gern immer mit derselben Frau. Hilf Raiko, ihn in ihrem Netz zu fangen, dann hast du ihn an der Leine, weil du sein unentbehrlicher Vermittler sein wirst. Morgen erklärst du ihm, daß du zwar wütend auf die Soldaten warst, daß es aber nicht seine Schuld ist. Du hättest dich unter großen Schwierigkeiten in die Yoshiwara gestohlen und dafür gesorgt, daß ihm Fujiko morgen abend zur Verfügung stehe, und ›tut mir leid, Taira-sama, aber es wäre einfacher für mich, derartige Dinge zu arrangieren, wenn ich europäische Kleider hätte, damit ich die Sperren passieren kann‹ und so weiter. Laß sie für ihn da sein, oder auch nicht, laß ihn den Angelhaken schlucken, und dreh ihn um. Eh?«

Hiraga lachte leise vor sich hin. »Du solltest lieber hier bleiben, statt nach Kyōto zu gehen. Dein Rat ist viel zu wertvoll für mich.«

»Katsumata muß gewarnt werden. Und nun – die Gai-Jin-Frau?«

»Morgen werde ich genau feststellen, wo sie wohnt.«

»Gut.« Der Wind frischte auf, eine Bö strich durchs Haus, daß das Papier in seinen Rahmen knatterte und die Ölflamme tanzte. Ori beobachtete ihn. »Hast du sie gesehen?«

»Noch nicht. Tairas Diener, diese dreckige Chinesenbande, sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehen kann. Deswegen konnte ich aus ihnen nichts herausholen, aber das größte Haus der Niederlassung gehört dem Mann, den sie heiraten wird.«

»Wohnt sie dort?«

»Ich weiß es nicht, aber…« Hiraga hielt inne, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoß. »Hör zu, wenn ich akzeptiert werde, kann ich überall hingehen, alles über ihre Verteidigungsanlagen in Erfahrung bringen, ich könnte sogar an Bord ihrer Kriegsschiffe gehen und…«

»…eines Nachts«, fiel Ori ihm ins Wort, »könnten wir vielleicht eins kapern oder versenken.«

»Ja.« Beide Männer strahlten bei dem Gedanken, während die Kerze flackerte und seltsame Schatten warf.

»Beim richtigen Wind«, sagte Ori leise, »einem Südwind wie heute abend, und mit fünf bis sechs Shishi würden schon ein paar rechtzeitig vorher in die richtigen Lagerhäuser geschaffte Fässer Öl genügen. Aber selbst das ist nicht notwendig: Wir können Brandsätze machen und in der Yoshiwara Feuer legen. Der Wind würde die Flammen ins Dorf tragen, von da aus würden sie auf die Niederlassung überspringen und sie vernichten. Neh?«

»Und das Schiff?«

»In der allgemeinen Verwirrung rudern wir zu dem ganz großen hinüber. Das könnten wir doch – leicht, neh?«

»Nicht leicht, aber was für ein Coup!«

»Sonno-joi!«