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Die fünf Bakufu-Repräsentanten wurden, angeführt von Samurai mit Bannern, die ihre offiziellen Embleme trugen, und umgeben von Leibwachen, in ihren Sänften gemächlich in den Vorhof der Gesandtschaft getragen. Sie kamen eine Stunde zu spät. Sir William stand auf der obersten Stufe der breiten Treppe, die zu dem beeindruckenden Portal emporführte. Neben ihm der französische, der russische und der preußische Gesandte mit ihren Adjutanten, Phillip Tyrer und andere Mitglieder des Gesandtschaftspersonals sowie eine Highlander-Ehrengarde zusammen mit einigen französischen Soldaten, die Seratard ausdrücklich verlangt hatte. Admiral Ketterer und der General waren als Reserve an Bord geblieben.
Die Japaner verneigten sich höflich, Sir William und die anderen lüfteten den Hut. Feierlich geleiteten sie die Japaner in den großen Audienzsaal und suchten dabei ihre Belustigung über deren exotische Kostümierung zu verbergen: kleine, schwarzlackierte Hüte, die quer auf den kahlrasierten Schädeln saßen und kunstvoll unter dem Kinn verknotet waren, breitschultrige Übermäntel, bunte, traditionelle Seidenkimonos, voluminöse Pantalons, Riemensandalen und zwischen den Zehen geteilte Schuhsocken – tabe –, Fächer und die unvermeidlichen beiden Schwerter im Gürtel. »Diese Hüte sind nicht mal groß genug zum Reinpissen«, stellte der Russe fest.
Sir William saß mit den Gesandten in der Mitte einer Reihe von Stühlen, Phillip Tyrer an einem Ende. Die Bakufu nahmen die gegenüberliegende Stuhlreihe ein, die Dolmetscher hockten auf Kissen dazwischen. Nach einer längeren Diskussion einigten sie sich auf jeweils fünf Wachen, die hinter ihren Herren standen und einander argwöhnisch begutachteten.
Dem strengen Protokoll gemäß stellten sich die Gegner selbst vor. Toranaga Yoshi kam als letzter: »Tomo Watanabe, unterer Beamter zweiter Klasse«, sagte er mit vorgetäuschter Bescheidenheit und nahm den untersten Platz am Ende der Reihe ein. Auch seine Kleidung war weniger prächtig als die der anderen, die, genau wie alle Wachen, unter Androhung strenger Strafe den Befehl erhalten hatten, ihn hier als den unbedeutendsten der fünf Beamten zu behandeln.
Mit einem seltsamen Gefühl nahm er Platz. Wie häßlich diese Feinde doch sind, dachte er, wie albern und lächerlich mit ihren hohen Hüten, den exotischen Stiefeln und den schweren schwarzen Kleidern – kein Wunder, daß sie stinken!
Sir William begann sehr behutsam und mit schlichten Worten: »Ein Engländer wurde von Satsuma-Samurai ermordet…«
Um fünf Uhr waren die Europäer mit ihren Nerven fast am Ende, die Japaner dagegen noch immer höflich, lächelnd, nach außen hin unerschütterlich. In immer wieder anderer Form behauptete ihr Sprecher, daß… Verzeihung, Satsuma nicht in ihre Zuständigkeit falle, sie nichts über die Mörder wüßten und auch keine Möglichkeit hätten, sie zu suchen, daß es in der Tat eine bedauerliche Angelegenheit sei, sie aber nicht wüßten, wie man eine Entschädigung erzielen könne, daß unter bestimmten Umständen in der Tat um Entschädigung nachgesucht werden könne, daß aber der Shōgun nicht zu erreichen sei, daß der Shōgun bei seiner Rückkehr in der Tat gern eine Audienz gewähren werde, aber nicht in der voraussehbaren Zukunft, daß sie in der Tat sofort ein genaues Datum erbitten würden, aber nicht in diesem Monat, weil sein gegenwärtiger Aufenthaltsort nicht genau bekannt sei, daß es in der Tat so bald wie möglich sein werde, die nächste Verhandlung und überhaupt alle Verhandlungen aber nicht in Edo stattfinden könnten, in Kanagawa ja, aber Verzeihung, nicht in diesem Monat, vielleicht im nächsten, aber Verzeihung, wir sind nicht befugt…
Jeder Punkt mußte vom Englischen über das Holländische ins japanische übersetzt, dann von ihnen ausgiebig diskutiert werden, damit die Antwort anschließend peinlich genau wieder ins Holländische und Englische übersetzt werden konnte – mitsamt der unvermeidlichen Moralpredigt und überaus höflich vorgetragenen Bitten um Erklärung auch für die belanglosesten Fragen.
Yoshi fand das ganze Verfahren höchst interessant, denn bisher hatte er Gai-Jin noch nie in größerer Zahl gesehen oder an Verhandlungen teilgenommen, bei denen Unebenbürtige erstaunlicherweise über Verfahrensweisen diskutierten, statt zuzuhören und zu gehorchen.
Drei der anderen vier waren echte, wenn auch unwichtige Bakufu-Beamte. Alle hatten, wie es beim Umgang mit Ausländern üblich war, falsche Namen benutzt. Der Hochstapler, der heimlich Englisch sprach, saß neben Yoshi. Sein Name war Misamoto. Yoshi hatte ihm befohlen, sich alles zu merken, ihm verstohlen alles mitzuteilen, was von Belang und nicht richtig übersetzt worden war, ansonsten aber den Mund zu halten. Er war ein Verbrecher, dem die Todesstrafe drohte.
Als Yoshi ihn zwei Tage zuvor holen ließ, hatte sich Misamoto zitternd vor Angst vor ihm zu Boden geworfen.
»Steh auf und setz dich da drüben hin.« Mit dem Fächer deutete Yoshi auf den Rand der Tatami-Plattform, auf der er saß. Misamoto gehorchte eilig. Er war ein kleiner Mann mit Schlitzaugen und langem, grauem Haar, dem der Schweiß übers Gesicht lief. Seine Kleidung war grob und fast völlig zerlumpt, die Hände schwielig, die Haut von der Farbe dunklen Honigs.
»Du wirst mir jetzt die Wahrheit sagen: Deine Vernehmer berichten mir, daß du Englisch sprichst?«
»Ja, Herr.«
»Du bist in Anjiro in Izu geboren und warst in dem Land, das man Amerika nennt?«
»Ja, Herr.«
»Wie lange warst du dort?«
»Fast vier Jahre, Herr.«
»Wo in Amerika?«
»San Francisco, Herr.«
»Was ist San’frensiska?«
»Eine große Stadt, Herr.«
»Nur dort?«
»Ja, Herr.«
Yoshi musterte ihn; er brauchte dringend Informationen. Wie er sah, war dieser Mann verzweifelt bemüht, ihn zufriedenzustellen, hatte zugleich aber Todesangst vor ihm und vor den Wachen, die ihn hereingestoßen und seinen Kopf auf den Boden gedrückt hatten. Also beschloß er, etwas anderes zu versuchen. Er entließ die Wachen, erhob sich, ging zum Fenster und blickte auf die Stadt hinaus. »Erzähl mir mit deinen eigenen Worten, was geschehen ist – aber schnell!«
»Ich lebte als Fischer im Dorf Anjiro in Izu, Herr, wo ich vor dreiunddreißig Jahren geboren wurde, Herr«, begann Misamoto hastig seine Geschichte, die er offenbar schon hundertmal erzählt hatte. »Vor neun Jahren ging ich mit sechs anderen in meinem Boot einige ri vor der Küste fischen, doch wir gerieten unversehens in einen Sturm, der sehr schnell zu einem großen Unwetter anwuchs, und wurden dreißig Tage lang oder mehr nach Osten aufs große Meer hinausgetrieben, Hunderte von ri weit, vielleicht sogar tausend, Sire. Während dieser Zeit wurden drei meiner Freunde über Bord gespült. Dann wurde die See ruhig, aber unsere Segel waren zerfetzt, und wir hatten weder Essen noch Wasser. Wir versuchten alle drei zu angeln, fingen aber nichts und hatten kein Wasser… Einer von uns wurde wahnsinnig, sprang ins Wasser, versuchte auf eine Insel zuzuschwimmen, die er zu sehen glaubte, und ertrank kurz darauf. Wir sahen weder Land noch Schiff, nur Wasser. Dann, eines Tages, glaubte ich, schon tot zu sein, denn ich sah dieses seltsame Schiff, das ohne Segel fuhr und zu brennen schien, aber es war nur ein amerikanischer Schaufelraddampfer, der von Hongkong nach San Francisco fuhr. Sie retteten mich, gaben mir zu essen und behandelten mich wie einen der Ihren – ich war wie erstarrt vor Angst, Herr, aber sie teilten ihr Essen mit mir, gaben mir zu trinken und Kleider…«
»Dieses amerikanische Schiff hat dich zu diesem San-Ort gebracht? Was geschah dann?«
Misamoto berichtete, daß er bei einem Bruder des Schiffskapitäns untergebracht wurde, einem Händler für Schiffszubehör, um die Sprache zu lernen und als Handlanger zu arbeiten, bis die Behörden entschieden, was mit ihm geschehen sollte. Etwa drei Jahre lang lebte er bei dieser Familie und arbeitete dort im Laden wie auch im Hafen. Eines Tages wurde er vor einen wichtigen Beamten namens Natow gebracht, der ihn eingehend befragte und ihm dann mitteilte, er werde mit dem Kriegsschiff Missouri nach Shimoda geschickt, wo er dem Gesandten Townsend Harris als Dolmetscher dienen solle, der sich bereits in Japan befinde, um über einen Vertrag zu verhandeln. Inzwischen trug er westliche Kleidung und hatte sich einiges von der westlichen Lebensart angeeignet.
»Ich habe mit Freuden akzeptiert, Sire, weil ich überzeugt war, hier helfen zu können, vor allem den Bakufu helfen zu können. Am neunten Tag des achten Monats des Jahres 1857 nach ihrer Zeitrechnung, vor fünf Jahren, Sire, drehten wir vor Shimoda in Izu bei; mein Heimatdorf liegt nicht sehr weit nördlich, Sire. Als ich an Land ging, erbat ich Erlaubnis, mich für einen Tag entfernen zu dürfen, und machte mich sofort auf, Herr, um mich im nächsten Wachhaus zu melden und den nächsten Bakufu-Beamten aufzusuchen, denn ich war überzeugt, man werde mich wegen der Kenntnisse, die ich erworben hatte, willkommen heißen… Aber die Schlagbaumwachen wollten nicht…« Misamotos Gesicht verzerrte sich vor Kummer. »Aber sie wollten mir nicht zuhören, Sire, oder begreifen… Sie fesselten mich und schleppten mich nach Edo… das war vor ungefähr fünf Jahren, Herr, und seitdem werde ich wie ein Verbrecher behandelt und eingesperrt, wenn auch nicht im Gefängnis, und immer wieder erkläre und erkläre ich, daß ich kein Spion bin, sondern ein loyaler Mann aus Izu, und was mir zugestoßen ist…«
Voll Abscheu sah Yoshi, daß dem Mann die Tränen übers Gesicht liefen. Er schnitt dem Jammernden das Wort ab. »Hör auf! Ist dir bekannt, daß es gesetzlich verboten ist, Nippon ohne Erlaubnis zu verlassen?«
»Ja, Herr, aber ich dachte…«
»Und ist dir bekannt, daß es dem Gesetzesbrechcr, wer er oder sie auch sein mag, im Rahmen desselben Gesetzes bei Todesstrafe verboten ist zurückzukehren?«
»O ja, Sire, ja, ja, das wußte ich, aber ich dachte, daß das nicht auf mich zutrifft, Sire, ich dachte, man würde mich willkommen heißen und zu schätzen wissen, und außerdem war ich ja auch aufs Meer hinausgetrieben worden. Es war der Sturm, der…«
»Gesetz ist Gesetz. Und dieses Gesetz ist ein gutes Gesetz. Es verhindert Seuchen und Ansteckung. Bist du der Meinung, daß man dich ungerecht behandelt hat?«
»Oh, aber nein, Herr!« versicherte Misamoto hastig, wischte sich die Tränen ab und senkte mit sogar noch größerer Angst den Kopf bis auf die Tatami. »Bitte, entschuldigen Sie, ich erflehe Ihre Verzeihung, bitte, entschuldigen…«
»Beantworte meine Fragen. Wie gut ist dein Englisch?«
»Ich… Ich verstehe und spreche amerikanisches Englisch, Sire.«
»Ist das dasselbe, was die Gai-Jin hier sprechen?«
»Ja, Sire, mehr oder weniger…«
»Als du kamst, um diesen Amerikaner Harris aufzusuchen – warst du da glattrasiert oder unrasiert?«
»Unrasiert, Sire, ich trug einen gestutzten Bart, wie die meisten Seeleute, Sire, und hatte mir die Haare wachsen lassen wie sie, zu einem Zopf geflochten und mit Teer verknotet.«
»Wen hast du außer diesem Gai-Jin Harris kennengelernt?«
»Nur ihn, Sire, nur für eine Stunde oder so, und einen aus seinem Stab, an den Namen kann ich mich nicht erinnern.«
Wieder erwog Yoshi die Gefahren seines Planes: ohne Zustimmung des Rates verkleidet an den Verhandlungen teilzunehmen und diesen Mann als Spion zu benutzen, um den Feind insgeheim zu belauschen. Vielleicht ist Misamoto ja jetzt schon ein Spion – für die Gai-Jin, dachte er grimmig: seine Vernehmer sind davon überzeugt. Mit Sicherheit ist er ein Lügner, seine Geschichte ist viel zu glatt, sein Blick zu verschlagen, und wenn er sich unbeobachtet fühlt, gleicht er einem Fuchs.
»Nun gut. Später möchte ich alles erfahren, was du gelernt hast, alles und… Kannst du lesen und schreiben?«
»Ja, Herr, aber auf Englisch nur ein wenig.«
»Gut. Ich habe Verwendung für dich. Wenn du mir gehorchst und mich zufriedenstellst, werde ich deinen Fall überdenken. Wenn du versagst, und sei es auch nur im geringsten Maße, wirst du dir wünschen, du hättest es nicht getan.«
Also erklärte er ihm, was er wollte, teilte ihm Lehrer zu, und als die Wachen Misamoto gestern vorführten, sauber rasiert, das Haar wie ein Samurai frisiert und in der Kleidung eines Beamten mit zwei Schwertern, obwohl sie blind waren und ohne Klingen, hatte er ihn nicht wiedererkannt. »Gut. Geh auf und ab.«
Als Misamoto gehorchte, war Yoshi tief beeindruckt davon, wie schnell dieser Mann anstelle der korrekten, normalen, unterwürfigen Haltung des Fischers die stolze, aufrechte Haltung gelernt hatte, die ihm von seinem Lehrer gezeigt worden war. Zu schnell, dachte er, nunmehr überzeugt, daß Misamoto mehr – oder weniger – war, als er andere glauben machen wollte.
»Hast du genau verstanden, was deine Aufgabe ist?«
»Ja, Herr. Ich schwöre, daß ich Sie nicht enttäuschen werde, Sire.«
»Das weiß ich. Meine Wachen haben Befehl, dich sofort zu töten, wenn du von meiner Seite weichst oder ungeschickt wirst – oder… unbesonnen.«
»Wir machen eine Pause von zehn Minuten«, sagte Sir William erschöpft. »Teilen Sie ihnen das mit, Johann.«
»Sie wollen wissen, warum.« Johann Favrod, der Schweizer Dolmetscher, gähnte. »Pardon. Sie sind offenbar der Meinung, daß alle Punkte besprochen wurden etc. etc. sie werden Ihre Nachricht weiterleiten etc. etc. und sich in sechzig Tagen, wie bereits vorgeschlagen etc. etc. in Kanagawa abermals mit Ihnen treffen, um Ihnen die Antwort von ganz oben zu überbringen etc. etc.«
»Gebt mir nur einen Tag lang die Flotte, und ich werde diese matyeryebitz und das ganze Problem gelöst haben.«
»Durchaus«, stimmte Sir William zu, um in fließendem Russisch zu ergänzen: »Tut mir leid, mein lieber Graf, aber wir sind hier, um möglichst eine diplomatische Lösung auszuhandeln.« Dann, wieder auf Englisch: »Zeigen Sie ihnen, wo sie warten können, Johann. Gehen wir, Gentlemen?« Er stand auf, verbeugte sich steif und ging in einen Warteraum voraus. Als er an Phillip Tyrer vorbeikam, sagte er: »Sie bleiben bei ihnen. Halten Sie Augen und Ohren offen.«
Alle Gesandten nahmen Kurs auf den Nachttopf, der in der Ecke ihres Vorzimmers stand. »O mein Gott!« seufzte Sir William erleichtert. »Fast wäre meine verdammte Blase geplatzt.«
Lim kam herein, andere Diener mit großen Tabletts im Schlepptau. »Heya, Mass’er. Tee-ah, Sam’wich-ah!« Dann deutete er verächtlich mit dem Daumen auf den anderen Raum. »Alles selbe geben, Affen, heya?«
»Du solltest sie das lieber nicht hören lassen, bei Gott. Vielleicht sprechen einige von ihnen Pidgin.«
Lim starrte ihn an. »Was sagen, Mass’er?«
»Ach, macht nichts.«
Vor sich hinlachend ging Lim hinaus.
»Also, Gentlemen, wie erwartet keinerlei Fortschritt.«
Seratard steckte seine Pfeife an; André Poncin, neben ihm, war eindeutig erfreut über Sir Williams Unbehagen. »Was schlagen Sie vor, Sir William?«
»Was würden Sie raten?«
»Es ist ein britisches Problem und nur zum Teil ein französisches. Wenn es das meine wäre, hätte ich es bereits mit französischem élan gemeistert – am selben Tag, an dem es entstanden ist.«
»Doch dazu, mein Herr, hätten Sie natürlich eine ebenso großartige Flotte gebraucht«, warf von Heimrich kurz und knapp ein.
»Natürlich. Wie Sie wissen, haben wir in Europa viele davon. Und wenn es der kaiserlich französischen Politik entspräche, sich hier in voller Kraft zu entfalten wie unsere britischen Verbündeten, hätten wir ein oder zwei Flotten herbeordert.«
»Tja, nun…« Sir William war müde. »Es ist also abgemacht, daß Sie alle der Meinung sind, man müßte hart mit ihnen umspringen, ja?«
»Hart und unnachgiebig«, betonte Graf Sergejew.
»Ja.«
»Selbstverständlich«, bestätigte Seratard. »Ich dachte, das hätten Sie bereits geplant, Sir William.«
Der Gesandte kaute ein Sandwich und trank seinen Tee. »Nun gut. Ich werde die Verhandlungen jetzt beenden und auf morgen vormittag um zehn vertagen – mit einem Ultimatum: Eine Zusammenkunft mit dem Shōgun innerhalb einer Woche, die Mörder und die Entschädigung; wenn nicht… Natürlich nur, wenn Sie alle einverstanden sind.«
»Ich hätte einen Vorschlag, Sir William«, sagte Seratard. »Angenommen. Sie haben Schwierigkeiten, eine Zusammenkunft mit dem Shōgun zu arrangieren – warum schieben wir das nicht für später auf, bis wir Verstärkung erhalten haben? Und einen triftigen Grund für eine Besprechung mit ihm. Schließlich ist diese Veranstaltung eine Machtdemonstration, um eine Untat zu korrigieren, und keine imperiale Politik, weder von Ihrer noch von unserer Seite.«
»Sehr klug«, kommentierte der Preuße widerwillig.
Sir William erwog die Gründe hinter diesem Vorschlag, fand aber weder einen Fehler noch eine verborgene Gefahr. »Nun gut. Wir werden eine ›baldige Zusammenkunft‹ mit dem Shōgun verlangen. Einverstanden?«
Alle nickten. »Entschuldigen Sie, Sir William«, warf André Poncin liebenswürdig ein, »darf ich vorschlagen, daß ich den Herren Ihre Entscheidung vortrage? Wenn Sie die Sitzung eröffnen und sofort wieder beenden, wäre das doch ein Gesichtsverlust für Sie, nicht wahr?«
»Sehr klug, André«, bestätigte Seratard. Soweit die anderen wußten, war Poncin nur ein Kaufmann mit einiger Kenntnis der japanischen Bräuche und der japanischen Sprache, ein persönlicher Freund und gelegentlicher Dolmetscher. In Wirklichkeit war Poncin ein hochgeschätzter Spion, der alle britischen, deutschen und russischen Bestrebungen in Japan aufdecken und neutralisieren sollte. »Eh, Sir William?«
»Ja«, antwortete Sir William nachdenklich. »Ja, Sie haben recht, André. Vielen Dank. Ich sollte es wirklich nicht selber tun. Lim!«
Unverzüglich ging die Tür auf. »Heya, Mass’er?«
»Hol jungen Mass’er Tyrer, schnell, schnell!« Und dann, zu den anderen: »Tyrer kann das für mich besorgen. Schließlich ist es ein britisches Problem.«
Als Phillip Tyrer in den anderen Konferenzraum zurückkehrte, von dem man auf den Vorhof hinaussehen konnte, ging er so würdevoll wie möglich auf Johann zu. Die Bakufu-Beamten schenkten ihm keine Beachtung, sondern redeten weiter, während Yoshi mit Misamoto – dem einzigen, der nichts sagte – ein wenig abseits stand. »Johann, überbringen Sie ihnen Sir Williams Grüße und sagen Sie ihnen, daß die heutigen unzufriedenstellenden Verhandlungen vertagt werden und sie sich morgen um zehn wieder hier einfinden sollen – zu einem, wie er hofft, zufriedenstellenden Abschluß dieser unbegründeten Affäre: die Mörder, die Entschädigung und die Garantie für eine baldige Zusammenkunft mit dem Shōgun.«
Johann wurde blaß. »Einfach so?«
»Jawohl, genau so.« Auch Tyrer hatte das ewige Hin und Her satt, das ihn immer wieder an John Canterburys gewaltsamen Tod, Malcolm Struans schwere Verletzungen und Angéliques Angst erinnerte. »Sagen Sie’s ihnen!«
Er beobachtete, wie Johann das kurzgefaßte Ultimatum in gutturalem Holländisch überbrachte. Der japanische Dolmetscher errötete und begann mit einer langatmigen Übersetzung, während Tyrer die Beamten unauffällig, aber eingehend beobachtete. Vier von ihnen hörten aufmerksam zu, der fünfte dagegen nicht, ein kleiner Mann mit engstehenden Augen und schwieligen Händen, die ihm bisher nicht aufgefallen waren – die Hände aller anderen waren gepflegt. Wieder flüsterte dieser Mann auf Watanabe, den jüngsten und ansehnlichsten Beamten, ein, wie er es den ganzen Tag schon immer wieder getan hatte.
Ich wünschte, ich könnte verstehen, was sie sagen, dachte Tyrer gereizt, entschlossen, alles zu tun, um möglichst schnell Japanisch zu lernen.
Als der geschockte und verlegene Dolmetscher innehielt, entstand tiefes Schweigen, unterbrochen nur durch scharfes Einsaugen des Atems. Die Gesichter dagegen blieben ausdruckslos. Während der Übersetzung hatte er bemerkt, daß zwei von ihnen Watanabe verstohlene Blicke zuwarfen.
Warum?
Jetzt schienen sie zu warten. Watanabe senkte den Blick, versteckte sich hinter seinem Fächer und murmelte etwas. Sofort erhob sich der Mann mit den engstehenden Augen und äußerte ein paar Worte. Erleichtert standen alle auf und gingen, ohne sich zu verneigen, schweigend hinaus. Watanabe bildete, bis auf den Dolmetscher, den Schluß.
»Diesmal haben sie wohl endlich kapiert, Johann«, sagte Tyrer erleichtert.
»Ja. Und ganz schön verbiestert waren sie.«
»Offenbar genau, was Sir William beabsichtigte.«
Johann trocknete sich die Stirn. Er hatte braune Haare, war mittelgroß schlank und hatte ein hartes, zerfurchtes Gesicht. »Je schneller Sie Dolmetscher werden, desto besser. Es wird Zeit, daß ich zu meinen Bergen und dem Schnee zurückkehre, solange mein Kopf noch auf den Schultern sitzt. Es gibt zu viele von diesen Kretins; sie sind zu unberechenbar.«
»Als Dolmetscher nehmen Sie aber doch sicher eine privilegierte Stellung ein«, sagte Tyrer voll Unbehagen. »Der Mann, der alles zuerst erfährt.«
»Und der Überbringer schlechter Nachrichten! Und es sind allesamt schlechte Nachrichten, mon vieux. Sie hassen uns und können es nicht erwarten, uns endlich wieder rauszuwerfen. Ich habe einen Zweijahresvertrag mit Ihrem Foreign Office, der mit beiderseitigem Einverständnis verlängert werden kann. Dieser Vertrag läuft in zwei Monaten und drei Tagen aus, und mein Englisch geht den Bach runter.« Johann ging zum Sideboard am Fenster hinüber und trank einen großen Schluck von dem Bier, das er sich statt des Tees bestellt hatte. »Keine Verlängerung, so groß die Versuchung auch sein mag.« Unvermittelt begann er zu strahlen. »Musume, das ist das Problem, wenn man hier weg will.«
Tyrer lachte über seine verschmitzte Miene. »Musume? Ihr Mädchen?«
»Sie lernen schnell.«
Im Vorhof bestiegen die Beamten ihre Sänften. Die sechs Gärtner hatten ihre Tätigkeit eingestellt und knieten mit tief gesenktem Kopf regungslos auf dem Boden. Misamoto, der neben Yoshi wartete, war sich ständig der Tatsache bewußt, daß er beim kleinsten Fehler nicht mehr aufrecht stehen würde, und hoffte verzweifelt, die Probe bestanden zu haben. Irgendwie werde ich mich diesem Bastard nützlich machen, dachte er auf Englisch, bis ich wieder ein amerikanisches Schiff besteigen und dem Kapitän schildern kann, wie ich durch dieses widerliche Gesindel aus Harris’ Stab entführt wurde…
Er blickte auf und erstarrte. Yoshi beobachtete ihn aufmerksam. »Herr?«
»Woran hast du gerade gedacht?«
»Daß ich hoffe, von Nutzen gewesen zu sein, Sire. Ich… Achtung, hinter Ihnen, Sire!« flüsterte er.
André Poncin kam die Treppe herunter direkt auf Yoshi zu. Sofort bildeten seine Wachen einen undurchdringlichen Kordon um ihn. Furchtlos grüßte Poncin mit einer höflichen Verbeugung und sagte in annehmbarem, wenn auch stockendem Japanisch: »Entschuldigen bitte, Herr, dürfte ich Nachricht von meinem Master, französisch Oberherr, überbringen?«
»Was für eine Nachricht?«
»Er sagen, Sie bitte vielleicht sehen Inneres von Dampfschiff, Maschine, Kanonen. Bittet demütig, Sie und Beamte einladen.« Poncin wartete, entdeckte aber keinerlei Reaktion, nur einen herrischen Wink mit dem Fächer, offenbar ein Zeichen, daß er sich entfernen solle. »Vielen Dank, Herr, bitte entschuldigen.« Fest überzeugt, recht gehabt zu haben, ging er davon. Auf der ersten Stufe entdeckte er, daß Tyrer ihn vom Fenster des Audienzzimmers aus beobachtete, unterdrückte einen Fluch und winkte. Tyrer winkte zurück.
Als die letzten Samurai den Vorhof verließen, nahmen die Gärtner vorsichtig die Arbeit wieder auf. Einer von ihnen schulterte den Spaten und hinkte davon. Hiraga, ein schmutziges, altes Tuch um den Kopf gewickelt und in einem zerlumpten, dreckigen Kimono, freute sich über den Erfolg seiner Spionage. Jetzt wußte er, wie, wann und wo der Überfall morgen stattfinden mußte.
Wieder in Sicherheit seiner Sänfte auf dem Rückweg zur Burg – mit Misamoto, der auf seinen Befehl ihm gegenüber am anderen Ende saß –, ließ Yoshi seine Gedanken wandern. Er wunderte sich noch immer über die unhöfliche Verabschiedung, war aber nicht wütend wie die anderen, sondern geduldig: Die Rache wird in einer Form erfolgen, die ich selbst wähle.
Eine Einladung, die Maschinen eines Kriegsschiffs zu besichtigen und einen Rundgang zu machen? Eeee, eine Chance, die nicht ungenutzt bleiben darf. Gefährlich, aber ich werde es wagen. Sein Blick richtete sich auf Misamoto, der durch einen Schlitz in den Vorhängen hinausblickte. Bisher ist der Gefangene Misamoto tatsächlich nützlich gewesen. Dumm von den Dolmetschern, nicht präzise zu übersetzen. Dumm von den Russen, uns zu drohen. Dumm von ihnen, so unhöflich zu sein. Dumm von dem chinesischen Diener, uns als Affen zu bezeichnen. Sehr dumm. Nun, ich werde mich um sie alle kümmern, um einige früher als um die anderen.
Aber was ist mit den Führern und ihrer Flotte?
»Misamoto, ich habe beschlossen, dich nicht ins Wachhaus zurückzuschicken. Zwanzig Tage lang wirst du bei meinen Gefolgsleuten untergebracht werden und lernen, dich wie ein Samurai zu verhalten.«
Schon hatte Misamoto den Kopf bis auf den Boden der Sänfte gebeugt. »Vielen Dank, Herr.«
»Wenn du mich zufriedenstellst. Also: Was wird morgen geschehen?«
Misamoto zögerte; er war starr vor Angst. Die oberste Überlebensregel lautete, einem Samurai niemals schlechte Nachrichten zu bringen, nichts zu sagen, nichts freiwillig zu berichten und, falls gezwungen, allen nur das zu sagen, was sie vermutlich hören wollten. Hier war es anders.
Die Antwort liegt auf der Hand, hätte er gern gerufen und fiel wieder in seine Gewohnheit zurück, auf Englisch zu denken, das einzige, was ihn während der Jahre der Haft bei Verstand gehalten hatte. Wenn du wüßtest, wie sie in der Familie, bei der ich war, miteinander umgehen, wie sie mich behandelt haben, als Dienstboten, gewiß, aber dennoch wie einen Mann, besser, als ich es mir je erträumt hätte; daß jeder Mann aufrecht gehen und ein Messer oder eine Schußwaffe tragen kann, bis auf die meisten schwarzen Männer; wie ungeduldig sie darauf bedacht sind, ein Problem möglichst schnell zu lösen, um sogleich das nächste in Angriff zu nehmen – falls nötig, mit der Faust, dem Revolver oder einer Kanonade; daß nach ihrem Gesetz fast alle gleichberechtigt sind und daß es keine stinkenden Daimyos oder Samurais gibt, die jeden umbringen können, wenn sie Lust dazu haben…
Yoshi, der seine Gedanken erriet, sagte leise: »Wenn dir dein Leben lieb ist, antworte mir wahrheitsgemäß – immer!«
»Selbstverständlich, Herr. Immer.« Starr vor Angst gehorchte Misamoto. »Entschuldigung, Herr, aber wenn sie nicht kriegen, was sie wollen, werden sie, glaube ich… werden sie Edo in Schutt und Asche legen.«
Ich stimme dir zu, aber nur, wenn wir dumm sind, dachte Yoshi. »Schaffen sie das, mit ihren Kanonen?«
»Ja, Herr. Nicht die Burg, aber die Stadt würde beschossen werden.«
Und das wäre eine törichte Verschwendung von Toranaga-Ressourcen, dachte Yoshi. Wenn wir wie gewohnt versorgt werden wollen, würden wir sie alle ersetzen müssen, Bauern, Handwerker, Kurtisanen und Kaufleute. »Wie also würdest du ihnen ein bißchen Suppe, aber keinen Fisch geben?«
»Bitte, entschuldigen Sie, ich weiß es nicht, Herr. Ich weiß es nicht.«
»Dann denk nach. Und gib mir deine Antwort bei Tagesanbruch.«
»Aber… Jawohl, Herr.«
Yoshi lehnte sich in die Seidenkissen zurück und konzentrierte sich auf die gestrige Besprechung mit den Ältesten. Da Anjo den Befehl, die Burg zu räumen, schließlich hatte zurückziehen müssen, weil ein Befehl ohne eindeutige Mehrheit ungültig war, hatte er, als offizieller Vormund, die Abreise des Shōgun untersagt.
Ich habe gewonnen, dieses Mal, aber nur, weil Toyama, dieser starrköpfige, alte Narr, darauf bestanden hat, für seinen irrwitzigen Angriffsplan und damit weder für noch gegen mich zu stimmen. Anjo hat recht: Die anderen beiden stimmen gewöhnlich mit ihm und gegen mich. Nicht aus bestimmten Gründen, sondern weil ich der bin, der ich bin – der Toranaga, der anstelle dieses idiotischen Bengels Shōgun sein müßte.
Weil Yoshi sich in der Sänfte sicher fühlte und bis auf Misamoto – der niemals erraten würde, was er wirklich dachte – allein war, ließ er zu, daß seine Gedanken sich auf das Thema Nobusada richteten, so geheim, so schwer zu fassen, so gefährlich und permanent.
Was tun mit ihm?
Ich kann ihn nicht mehr lange zügeln. Er ist infantil und nunmehr in den gefährlichsten Klauen von allen, in denen der Prinzessin Yazu: Spionin des Kaisers und fanatisch gegen das Shōgunat, das ihre Verlobung mit dem geliebten Spielkameraden ihrer Kinderzeit aufgelöst hatte, einem hübschen und äußerst adäquaten Prinzen; gegen das Shōgunat, das sie ins ständige Exil gezwungen hatte, fern von Kyōto, ihrer Familie und all ihren Freunden; und in die Ehe mit einem Schwächling, dessen Erektion so schlaff ist wie ein Banner im Sommer und der möglicherweise niemals Kinder zeugen kann.
Jetzt hat sie sich diesen Staatsbesuch in Kyōto ausgedacht, um vor dem Kaiser Kotau zu machen, ein Meisterstreich, der das labile Gleichgewicht der letzten Jahrhunderte zerstören wird.
Eine Konsultation wird zur nächsten führen, dachte Yoshi, und dann wird der Kaiser herrschen und nicht wir. Das wird Nobusada niemals einsehen; seine Augen sind durch ihre Ränke verblendet.
Was ist zu tun?
Wieder einmal schlugen Yoshis Gedanken den längst ausgetretenen, aber streng geheimgehaltenen Pfad ein: Er ist mein rechtmäßiger Lehnsherr. Wenn ich nicht mein eigenes Leben wegwerfen will, und das will ich momentan nicht, kann ich ihn nicht direkt umbringen; er wird zu gut bewacht. Andere Mittel? Gift. Aber dann würde man mich zu Recht verdächtigen, und selbst wenn ich den Wachen, die mich umgeben, entkommen könnte – ich bin ebenso ein Gefangener wie Misamoto –, würde das Land in einen endlosen Bürgerkrieg gestürzt werden, dessen einzige Gewinner die Gai-Jin sind, und ich hätte, schlimmer noch, den Treueeid gebrochen, den ich dem Shōgun, wer immer er ist, und dem Vermächtnis geschworen habe.
Ich muß an meiner Stelle andere ihn töten lassen. Die Shishi? Ich könnte ihnen helfen, aber den Feinden zu helfen, die meine eigene Vernichtung planen, wäre gefährlich. Eine einzige Möglichkeit bleibt: die Götter.
Er gestattete sich ein Lächeln. »Glück und Unglück«, schrieb Shōgun Toranaga, »sollte man dem Himmel und dem Naturgesetz überlassen – man kann sie nicht durch Gebete oder listige Pläne herbeizwingen.«
Hab Geduld, hörte er Toranaga sagen. Hab Geduld.
O ja, das werde ich.
Yoshi dachte wieder an den Rat. Was soll ich ihnen sagen? Inzwischen werden sie natürlich wissen, daß ich die Gai-Jin getroffen habe. In Zukunft werde ich auf einer unabdingbaren Regel bestehen: Wir dürfen nur intelligente Männer zu diesen Verhandlungen schicken. Was noch? Mit Sicherheit einiges über ihre Soldaten, hünenhaft, mit ihren scharlachroten Uniformer, und kurzen Röcken, den riesigen Federhüten, jeder Mann mit einem Hinterlader bewaffnet, der blitzblank geputzt ist und so sorgsam gepflegt wird wie unsere Klingen.
Soll ich ihnen erzählen, daß diese Feinde Toren sind, die keine Finesse haben und durch ihre Ungeduld und ihren Haß gesteuert werden können? Misamoto hat mir genug erzählt, um daraus zu schließen, daß sie genauso zerstritten und haßerfüllt sind wie unsere Daimyos. Nein, das werde ich für mich behalten. Aber daß unsere Abordnung morgen versagen wird, wenn sie nicht eine Verzögerung erfinden, die die Gai-Jin mit Freuden hinnehmen, das werde ich ihnen erzählen. Was könnte das sein?
»Dieser Botschafter, Misamoto«, erkundigte er sich lässig, »der hochgewachsene Mann mit der großen Nase, warum hat er wie eine Frau gesprochen, Frauenworte benutzt? War er ein Halbmann-Halbfrau?«
»Ich weiß es nicht, Sire. Vielleicht war er das, sie haben viele davon an Bord ihrer Schiffe, Sire, obwohl sie es verbergen.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht, Sire, es ist schwer, sie zu verstehen. Sie reden nicht so offen wie wir über den Beischlaf, über die beste Position, oder ob ein Junge besser ist als eine Frau. Aber über das Sprechen wie eine Frau: In ihrer Sprache sprechen Männer und Frauen alle gleich, ich meine, sie benutzen dieselben Wörter, Sire, anders als wir in Japan. Die paar Matrosen, die ich kennengelernt habe und die einige Worte von unserer Sprache verstanden, Männer, die in Nagasaki waren, sprechen genauso wie die Großnase, weil sie immer nur mit den Huren gesprochen und unsere Wörter von den Huren gelernt haben. Sie wissen nicht, daß unsere Frauen anders sprechen als wir, als die Männer, Sire, andere Wörter benutzen, wie es sich für zivilisierte Menschen gehört.«
Yoshi verbarg seine plötzliche Erregung. Unsere Huren sind ihr einziger, wahrer Kontakt, dachte er. Und sie haben natürlich alle Huren. Also wäre es eine Möglichkeit, sie durch ihre Huren, weiblich oder männlich, zu beherrschen und möglicherweise anzugreifen.
»Ich werde der Flotte nicht befehlen, Edo zu beschießen, nicht ohne offiziellen schriftlichen Befehl der Admiralität oder des Foreign Office«, sagte der Admiral, hochrot im Gesicht. »Meine Anweisungen lauten, genau wie die Ihren, wohlüberlegt vorzugehen. Wir befinden uns NICHT auf einer Strafexpedition.«
»Mann Gottes, wir haben einen Zwischenfall, auf den wir reagieren müssen. Selbstverständlich ist es eine Strafexpedition!« Sir William war nicht weniger verärgert. Inzwischen schlug es acht Glasen, Mitternacht. Sie saßen im Quartier des Admirals an Bord des Flaggschiffs am runden Tisch. Der General, Thomas Ogilvy, war der einzige weitere Gast. Die Kajüte war niedrig und geräumig, mit schweren Balken; durch die Heckfenster sah man die Ankerlichter der anderen Schiffe. »Noch einmal: Ich bin überzeugt, daß sie sich ohne Gewalt nicht rühren werden.«
»Holen Sie sich den Befehl, bei Gott, und ich werde dafür sorgen, daß sie sich rühren.« Der Admiral füllte sein Glas mit Portwein aus der nahezu leeren Kristallkaraffe. »Thomas?«
»Danke.« Der General reichte ihm ebenfalls sein Glas.
Bemüht, sich zu beherrschen, sagte Sir William: »Lord Russell hat bereits Anweisung erteilt, die Bakufu auf Entschädigung zu drängen, fünfundzwanzigtausend Pfund für die Gesandtschaftsmorde an dem Sergeant und dem Corporal letztes Jahr. Wenn er von diesem Zwischenfall hört, wird seine Wut noch steigen. Ich kenne ihn, Sie nicht«, ergänzte er, bewußt übertreibend. »Ich werde seine Zustimmung erst in drei Monaten erhalten. Wir müssen aber jetzt Genugtuung fordern, sonst wird das Morden weitergehen. Ohne Ihre Unterstützung sind mir die Hände gebunden.«
»Sie haben meine volle Unterstützung, bei Gott, solange es nicht zum Krieg kommt. Wenn wir ihre Hauptstadt beschießen, bedeutet das jedoch Krieg. Dafür sind wir nicht ausgerüstet. Thomas? Stimmen Sie mir zu?«
»Ein Dorf wie Hodogaya zu umzingeln«, gab der General nachdenklich zurück, »ein paar hundert Wilde auszulöschen und einen kleinen, eingeborenen Potentaten in Ketten zu legen ist etwas ganz anderes als der Versuch, diese riesige Stadt und die Burg zu belagern.«
Mit einem vernichtenden Blick sagte Sir William: »Und was ist mit Ihrer Behauptung, es gäbe ›keinen vorstellbaren Einsatz, den die Streitkräfte unter meinem Befehl nicht schnellstens durchführen‹ könnten?«
Der General wurde rot. »Was man in der Öffentlichkeit sagt, hat wenig mit der Praxis zu tun, das wissen Sie! Edo, das ist ein ganz anderer Fall.«
»Ganz recht.« Der Admiral leerte sein Glas.
»Und was schlagen Sie vor?« Das Schweigen wuchs. Plötzlich zerbrach der Stiel von Sir Williams Weinglas zwischen seinen Fingern; die anderen zuckten zusammen. »Verdammt!« fluchte er, aber die Scherben schienen seinen Zorn ein wenig zu dämpfen. Nachlässig tupfte er den Wein mit der Serviette auf. »Ich bin hier der Gesandte. Wenn ich es für nötig erachte, einen Befehl zu erteilen, und Sie weigern sich, mir zu gehorchen, wozu Sie natürlich das Recht haben, werde ich selbstverständlich auf Ihre sofortige Ablösung dringen.«
Der Hals des Admirals lief blaurot an. »Ich habe die Fakten der Admiralität bereits vorgelegt. Aber täuschen Sie sich nicht: Ich bin mehr als bereit Vergeltung für den Mord an Mr. Canterbury und den Überfall auf die anderen zu üben. Wenn es Edo sein soll, brauche ich, wie schon gesagt, nur noch einen schriftlichen Befehl. Es hat keine Eile; jetzt oder in drei Monaten – diese Wilden werden alles bezahlen, was wir verlangen, mit dieser Stadt oder einhundert anderen.«
»O ja, das werden sie, bei Gott!« Sir William erhob sich. »Noch eine wichtige Information, bevor Sie gehen: Ich kann Ihnen nicht versprechen, sehr viel länger an diesem Ankerplatz liegenzubleiben. Meine Flotte ist ungeschützt, der Meeresgrund gefährlich flach, das Wetter wird sich verschlechtern, und in Yokohama sind wir viel sicherer.«
»Wie lange noch wäre sicher für Sie?«
»Ein Tag – ich weiß es nicht, ich habe keine Kontrolle über das Wetter, das in diesem Monat, wie Sie wohl wissen, äußerst unzuverlässig ist.«
»Ja, das weiß ich. Seltsam, nicht? Nun, ich muß gehen. Ich brauche Sie beide um zehn Uhr bei den Verhandlungen an Land. Schießen Sie freundlicherweise bei Tagesanbruch, wenn wir die Fahne aufziehen, Salut. Thomas, schicken Sie bitte zweihundert Dragoner an Land, um die Umgebung der Pier zu sichern.«
»Darf ich fragen, warum noch weitere zweihundert Mann?« fragte der General. »Ich habe schon eine Kompanie an Land.«
»Vielleicht möchte ich Geiseln nehmen. Guten Abend.« Damit schloß er leise die Tür.
Die beiden Herren starrten ihm nach. »Meint er das ernst?«
»Keine Ahnung, Thomas. Aber bei dem höchst ehrenwerten, verdammt hitzigen William Aylesbury kann man nie wissen.«
In der tiefen Dunkelheit kam ein weiteres Detachement schwer bewaffneter Samurai aus dem Haupttor der Burg, lief lautlos über die herabgelassene Zugbrücke, dann über die Brücke, die über den breiten Burggraben führte und schlug den Weg zur Gesandtschaft ein. Andere Kompanien stießen zu ihnen. Bald waren über zweitausend Samurai versammelt, während sich weitere tausend bereit hielten, um auf Befehl einzugreifen.
Zusammen mit seiner Wache, einem Offizier und zehn Highlandern stapfte Sir William müde und deprimiert durch die menschenleeren Straßen; seine Gedanken waren auf morgen konzentriert, und er versuchte einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden. Sie bogen um eine Ecke dann um eine weitere. Am Ende dieser Straße lag der offene Platz, der zur Gesandtschaft führte.
»Großer Gott, Sir, sehen Sie da!«
Der Platz war gefüllt mit schweigenden Samurai, die sie regungslos beobachteten. Allesamt schwer bewaffnet. Schwerter, Bogen, Speere, ein paar Musketen. Auf ein leichtes Geräusch hin blickten Sir William und seine Begleiter sich um. Der Weg hinter ihnen war ebenfalls von einer Masse ebenso schweigender Samurai versperrt.
»Himmel!« murmelte der junge Offizier.
»Ja.« Sir William seufzte. Dies war eine mögliche Lösung, aber dann helfe Gott jedem einzelnen von ihnen! Die Flotte würde umgehend reagieren. »Gehen wir weiter. Ihre Männer sollen sich schußbereit machen und die Gewehre entsichern.«
Ohne sich mutig vorzukommen, führte er die Männer weiter. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, außerhalb seines Körpers zu stehen, sich selbst und die anderen zu beobachten, als schwebe er über der Straße. Zwischen den Samurai, von einem Offizier angeführt, öffnete sich ein schmaler Pfad. Als Sir William bis auf drei Meter herangekommen war, verneigte sich der Mann sehr höflich, von gleich zu gleich. Ebenso höflich lüftete Sir William den Hut und ging weiter. Seine Soldaten folgten ihm, die Gewehre in der Hand, den Finger am Abzug.
Den ganzen Weg den Hügel hinauf. Schweigend, beobachtend. Den ganzen Weg bis zum Tor. Doch keine Samurai-Truppen im Vorhof. Vorhof und Gärten wimmelten von Highlandern, bewaffnet und schußbereit, weitere standen auf dem Dach und an den Fenstern. Soldaten öffneten ihm das Tor und verschlossen es hinter ihm.
Im Foyer erwarteten ihn Tyrer und das übrige Gesandtschaftspersonal, manche in Nachtkleidern, manche nur halb bekleidet, und umringten ihn neugierig. »Großer Gott, Sir William!« sagte Tyrer für sie alle. »Wir hatten furchtbare Angst, die würden Sie gefangennehmen.«
»Seit wann sind sie hier?«
»Ungefähr seit Mitternacht, Sir«, antwortete ein Offizier. »Wir hatten Wachen am Fuß des Hügels aufgestellt. Als der Feind kam, haben uns die Männer gewarnt und sich zurückgezogen. Wir sahen keine Möglichkeit, Sie zu warnen oder der Flotte zu signalisieren. Wenn sie bis zum Tagesanbruch warten, können wir das Grundstück halten, bis weitere Truppen eintreffen und die Flotte das Feuer eröffnet.«
»Gut«, antwortete er ruhig. »Wenn dem so ist, schlage ich vor, daß wir alle zu Bett gehen. Stellen Sie ein paar Wachen auf, der Rest der Männer kann sich hinlegen.«
»Sir?« Der Offizier war sprachlos.
»Wenn sie uns umbringen wollten, hätten sie das längst tun können, auch ohne das Schweigen und das ganze Tamtam.« Sir William merkte, daß sie ihn alle anstarrten, und fühlte sich wohler, nicht mehr so tief deprimiert. Er begann die Treppe emporzusteigen. »Gute Nacht.«
»Aber, Sir, meinen Sie nicht…« Seine Worte erstarben.
Sir William seufzte erschöpft. »Wenn Sie die Männer Dienst machen lassen wollen – bitte sehr. Wenn es Sie glücklich macht…«
Ein Sergeant kam ins Foyer geeilt und rief laut: »Sir? Sie ziehen ab! Diese kleinen Giftzwerge verschwinden!«
Sir William warf einen Blick aus dem Fenster am Treppenabsatz und sah, daß die Samurai tatsächlich im Dunkel der Nacht verschwanden.
Zum erstenmal bekam er Angst. Er hatte nicht erwartet, daß sie sich zurückzogen. Innerhalb weniger Sekunden war der Pfad den Hügel hinab geräumt und der Platz menschenleer. Aber er spürte, daß sie sich nicht weit entfernt hatten, daß sich die Feinde in jedem Hauseingang und jeder nahen Nebenstraße drängten und in aller Ruhe abwarteten, bis sie die Falle endlich zuschnappen ließen.
Ein Glück, daß die anderen Gesandten und der größte Teil unserer Männer an Bord und in Sicherheit sind! Gott sei Dank, dachte er und stieg die Treppe mit einem Schritt empor, der fest genug war, um allen, die ihn beobachteten, Mut einzuflößen.