39
Dorf Hamamatsu,
Montag, 10. Dezember
Sumomo erwachte lange vor Tagesanbruch. Sie hatte schlecht geträumt. Sie war nicht mehr mit Koiko und Herrn Yoshi auf der Tokaidō, sondern zurück in Kyōto, gejagt von Bakufu-Soldaten unter der Führung von Abeh und in die Falle eines brennenden Shishi-Hauses: überall Schreie, Blut und Schüsse. In Panik zwängte sie sich hinter Takeda und Katsumata in einen schmalen Tunnel, der zum Kriechen kaum groß genug war und immer enger wurde. Die stauberfüllte Luft reichte kaum zum Atmen. Takedas Füße waren direkt vor ihr. Keuchend kroch er weiter, und gleich hinter ihr war etwas oder jemand. Dann wurde Takeda zu Yoshi, der nach ihr trat, sie aufhielt und dann verschwand – vor ihr lag nichts mehr als ein Sarg aus Erde.
Als ihr Herzschlag sich wieder beruhigte und sie im dämmrigen Licht der Ölflamme etwas sehen konnte, bemerkte sie, daß einer der Wächter sie von seinem Futon aus, der neben dem ihren lag, beobachtete. Am Abend zuvor hatte Koiko mit Abeh gesprochen, und er hatte ihr gesagt, Sumomo solle in diesem Gemeinschaftsraum schlafen, es gebe genug Platz für sie auf einer Seite – ein vollkommen zufriedenstellendes Arrangement. Der Raum wurde von vier Wächtern benutzt; zwei schliefen, zwei taten Dienst. Dort hatte sie ihr Bett aufgeschlagen. Sie hatte lange nicht einschlafen können, da sie aufgewühlt war, denn sie hatte gehört, wie Yoshi zu Koiko gesagt hatte, sie würden die Reise nicht mit ihm fortsetzen, und belauscht, wie Koiko zu Abeh gesagt hatte: »Herr Yoshi hat entschieden, daß meine Reisegesellschaft und ich ab morgen gemächlich folgen sollen.«
»Welche Vorkehrungen möchte er getroffen wissen, Dame?«
»Ich glaube, er sagte, daß Sie und zehn Männer zurückbleiben sollen, um mich nach Edo zu begleiten. Es tut mir leid, ein Problem zu sein.«
»Das ist kein Problem für mich, Dame, solange er sicher ist.«
Sicher und außer Reichweite, hatte Sumomo gedacht, bestürzt über die Änderung des Plans. Zwischen hier und Edo konnte so vieles schiefgehen.
Schließlich war sie eingeschlafen. Und hatte geträumt. Normalerweise träumte sie nicht. Sie pflegte abends als letztes und morgens als erstes immer ein Gebet zu sprechen, Namu Amida Butsu – nur der Name des Buddha Amida –, was ausreichte, wenn es einen Gott gab, zu dem man beten konnte. Gestern nacht hatte sie das vergessen. Jetzt sprach sie im stillen die Worte und schloß die Augen.
Binnen Sekunden war sie wieder in der Shishi-Hütte.
Das war die schlimmste Erfahrung ihres Lebens gewesen, dieser Angriff ohne Vorwarnung, Schüsse durch die Wände, und im selben Augenblick war der Kopf des Jungen neben ihr explodiert; er hatte nicht einmal Zeit gehabt zu schreien, aber andere hatten geschrien teils in Panik, teils in Todesqual, als Kugeln wahllos auf sie geprasselt waren. Katsumata war einen Augenblick wie gelähmt gewesen. Dann hatte er die Verteidigung eingeleitet und befohlen, einige sollten auf der Vorderseite, andere auf der Rückseite ausbrechen. Doch beide Ausfälle waren zurückgeschlagen worden, und sie hatte nicht gewußt, wo sie sich verstecken sollte, hatte nur gewußt, daß alles verloren war. Das Feuer hatte begonnen, mehr Schreie, mehr Blut, das war das Ende, Namu Amida Butsu, Namu Amida Butsu… Dann hatten Hände sie roh gepackt – Takeda hatte wutschäumend einen anderen Mann aus dem Weg gerissen, Katsumata hatte einen weiteren beiseite geworfen –, während ihr Shishi-Retter, dessen Gesicht sie niemals sah, ermordet wurde und ein Feuer ausbrach, das den Fluchtweg versperrte, bis es zu spät war.
Irgendwie war sie aus dieser haßerfüllten Dunkelheit in die frische Luft gelangt. Ihre hektische Flucht hatte kein Ende nehmen wollen, alle hatten nach Luft gerungen, bis Katsumata sie qualvoll zu dieser letzten Zuflucht geführt hatte, Iwakuras Hintertür.
Dort wurde sofort mit den Shishi ein Kriegsrat gehalten. »Ich schlage vor, daß wir uns einstweilen trennen«, hatte Katsumata gesagt. »Im Frühling treffen und sammeln wir uns wieder, im dritten oder vierten Monat. Im Frühling beginnen wir eine neue Angriffswelle.«
»Warum warten?« hatte jemand gefragt.
»Weil wir verraten worden sind, weil es in unserer Mitte oder unter unseren Führern einen Spion gibt. Wir sind verraten worden. Wir müssen uns retten und trennen.«
Und das hatten sie getan. »Sumomo, du wirst zu Koiko gehen…«
Doch vorher war ihre Verwirrung groß gewesen, Weinkrämpfe, Herzrasen; sie war in Panik geraten. »Das wird vergehen, Sumomo«, hatte Katsumata gesagt.
Wieder hatte er recht gehabt. Er hatte ihr ein Mittel gegeben, das sie schlafen ließ und beruhigte. Als sie bei Koiko eintraf, war sie fast wieder wie früher. »Wenn du merkst, daß die Angst wiederkehrt, nimm einen kleinen Schluck von der Medizin«, hatte er gesagt. »In ein oder zwei Wochen bist du wieder ganz bei Kräften. Denk immer daran, daß sonno-joi dich bei Kräften braucht…«
Sie erwachte aus ihrem Traum, und die Angst kam wieder hoch. Noch immer war es dunkel. Ihre Finger tasteten nach dem Bündel neben ihrem Kopf, das die kleine Flasche enthielt. Doch das Bündel war nicht da. Sie hatte es nicht mitgenommen, als sie das Zimmer wechselte. Es macht nichts, dachte sie, ich brauche es nicht, ich kann ohne es auskommen.
Sie wiederholte das mehrmals, warf sich in ihrem Bett herum, und ihre Decken waren feucht und klamm. Dann bemerkte sie, daß der Wächter sie noch immer beobachtete.
»Schlechte Träume, neh?« flüsterte er mit freundlicher Stimme.
Sie nickte schweigend.
»Ich könnte dir gute Träume geben.« Er schlug seine Decke einladend zur Seite. Sie schüttelte den Kopf. Er zuckte die Achseln, drehte sich um und vergaß sie, fand es dumm, daß sie diese Lust zurückwies. Sie war nicht gekränkt, sondern kehrte ihm leicht amüsiert ebenfalls den Rücken. Ihre Hand tastete nach dem Obi-Messer an ihrer Taille. Diese Berührung gab ihr den Frieden, den sie brauchte. Endlich Namu Amida Butsu.
Sie schloß die Augen und schlief traumlos.
Koiko lag auf angenehme Weise wach. Bald würde es dämmern. Neben ihr schlief Yoshi friedlich. Es war schön, so dazuliegen, sich treiben zu lassen und zu wissen, daß sie nicht einen weiteren unbequemen Tag in der Sänfte aushalten mußte, wo sie wegen der unziemlichen Hast von einer Seite auf die andere geworfen wurde. Und auch, weil ihre Nacht ruhig gewesen war. Yoshi hatte fest geschlafen. Gelegentlich entfuhr ihm ein leiser Schnarchton, doch das störte sie nicht. »Trainiere deine Ohren, Koiko«, hatte die zahnlose pensionierte Kurtisane ihr eingeschärft, damals, als sie noch maiko war. »Du wirst dein Arbeitsleben mit alten Männern zubringen. Alle Männer schnarchen, aber alte Männer schnarchen besonders laut, doch sie zahlen auch besonders gut – die jungen nehmen deine Blumen und schnarchen trotzdem.«
Von allen Männern, mit denen sie geschlafen hatte, war Yoshi im Schlaf der ruhigste. Im Wachzustand war er am schwersten zu dominieren und zufriedenzustellen. Nicht körperlich; körperlich war er stark und geübt, und sosehr sie auch darin trainiert war, bei der Umarmung teilnahmslos zu bleiben, führte er sie doch an den meisten Abenden ebenfalls auf den Gipfelpunkt der Lust.
Katsumata aber war ein Zauberer. Er liebkoste ihre Phantasie und ihre Gedanken und stimulierte sie mehr, als sie es sich je hätte träumen lassen. Er war entzückt, wenn sie eine neue Fertigkeit meisterte – etwa ihre Ohren darin übte, unausgesprochene Worte zu hören: »Dort liegt das goldene Wissen, das, was sich in dem geheimsten Herzen im Inneren des geheimen Herzens befindet. Denk daran, wir alle hier, Männer und Frauen, haben drei Herzen: eines, das alle Welt sehen kann, eines für die Familie, eines allein für uns selbst. Gewisse Männer haben sechs Herzen. Yoshi ist einer von ihnen. Er ist dein Ziel, derjenige, über den du die Oberhand gewinnen mußt.«
Sie kicherte vor sich hin, als sie sich daran erinnerte, daß sie gesagt hatte, Herr Yoshi sei für sie völlig unerreichbar. Katsumata hatte sein typisches Lächeln aufgesetzt und ihr gesagt, sie solle Geduld haben. »Du hast Zeit genug. Du bist achtzehn, es gibt nicht mehr viel, was ich dir beibringen kann. Du mußt anfangen, dich selbst weiterzubringen. Folge wie jede ernsthafte Schülerin dem für alle Schüler wichtigsten Gesetz: Belohne deinen Lehrer dadurch, daß du es dir zur Pflicht machst, ihn zu übertreffen! Sei geduldig, Koiko, zur rechten Zeit werden deine Mama-san und ich dafür sorgen, daß Herr Yoshi dich bemerkt.«
Und das hatten sie getan. Binnen eines Jahres. Die erste Einladung in die Burg vor sechs Monaten und fünf Tagen. Rasendes Herzklopfen und Angst, sie würde versagen, aber keine wirkliche Angst. Sie war vorbereitet und hatte ihre Pflicht gegenüber ihrem Lehrmeister erfüllt.
Aber leite ich Yoshi genügend? Ich weiß, daß er mich und meine Gesellschaft und meinen Geist genießt. Doch wohin soll ich ihn leiten? Katsumata hat das nie gesagt, sondern nur gemeint, es würde sich zeigen. »Sonno-joi faßt es zusammen. Binde Herrn Yoshi an dich. Hilf ihm, sich zu ändern. Nach und nach wirst du ihm helfen, noch mehr auf unsere Seite zu treten. Vergiß nie, er ist kein Feind, im Gegenteil, er ist wichtig für uns, er wird den neuen Bakufu aus loyalen Samurai vorstehen, als taikō – ein Shōgun oder ein Shōgunat wird nicht mehr erforderlich sein –, und unser neuer und ständiger Samurai-Rat wird ihm helfen…«
Ich frage mich, wie es in dem neuen Zeitalter sein wird, wenn wir es noch erleben, dachte sie. Und was ist nun mit Sumomo?
Es war vollkommen unnötig gewesen, sie in ein anderes Zimmer zu schicken – als ob es eine Rolle spielte, wenn sie nebenan war, sie würde ihre Schreie oder ihre heftigen Bewegungen ignorieren. Das war nicht der Grund. Als Yoshi Koiko leise sagte, sie werde die Reise nicht mit ihm fortsetzen, glaubte sie im äußeren Zimmer eine Bewegung zu hören, als sei Sumomo näher gerückt und versuche tatsächlich, ihr Gespräch zu belauschen – ein erstaunliches Eindringen in ihre Intimität, das von schlechten Manieren zeugte.
Nur eine gemeine Wichtigtuerin würde so etwas tun, hatte sie gedacht, oder eine Spionin. Ah! Spielt Katsumata eines seiner komplizierten Spielchen innerhalb des Spiels und benutzt mich, um eine Spionin einzuschleusen, die meinen Tora-chan und mich beobachtet? Ich werde mich morgen um sie kümmern. Inzwischen kann sie anderswo schlafen.
Nachdem sie dies arrangiert und Sumomo nur gesagt hatte, Herr Yoshi ziehe es vor, allein zu sein, kam sie zurück und durchsuchte rasch Sumomos Bündel. Warum, wußte sie nicht, denn sie war nicht sicher, ob das Mädchen wirklich versucht hatte, sie auszuspionieren.
Sie fand nichts Ungewöhnliches. Ein paar Kleidungsstücke, eine Flasche mit irgendeiner Medizin, sonst nichts. Der sauber gefaltete Tageskimono war gewöhnlich und verdiente nur einen beiläufigen Blick. Erleichtert hatte sie das Bündel wieder zusammengebunden. Und was die Flasche anging… das konnte doch wohl kein Gift sein?
Ehe sie sich wieder zu Yoshi begab, hatte sie beschlossen, das festzustellen. Sumomo würde etwas davon einnehmen müssen. Es war nie falsch, sich gegen eine potentielle Gefahr zu wappnen. Hatte nicht Yoshi gesagt: »Das hat Utani getötet. Er hat keine angemessenen Wachen aufgestellt.«
Es tut mir leid, aber was Utani tötete, war die Nachricht von dem Stelldichein, die meiner Dienerin aus der Samurai-Kaserne zugeflüstert wurde und die ich ihr weiterzugeben gestattete, an Meikin, die es Hiraga erzählte. Wie es Hiraga wohl geht? Als Kunde war er bei den beiden Malen, als ich sechzehn war, nicht besser und nicht schlechter als die gesichtslosen anderen, aber als Shishi ist er der beste. Merkwürdig…
Yoshi schnaufte im Schlaf auf, erwachte aber nicht. Ihre Hand berührte ihn leicht. Schlafe, mein Lieber, du gefällst mir mehr, als ich mir selbst einzugestehen wage, dachte sie und sann weiter über die Vergangenheit nach.
Seltsam, daß ich mich unter all den anderen nur an zwei Gesichter erinnere: Katsumata und Hiraga. Seltsam, daß ich darauf vorbereitet wurde, Herrn Toranaga Yoshis Dame zu sein – für eine Weile. Welch großes Glück ich habe. Ein Jahr, vielleicht zwei, nicht mehr als drei, und dann werde ich heiraten. Tora-chan wird ihn für mich auswählen. Wer immer er ist, er wird ein Samurai sein. Eeee, wie viele Söhne werde ich wohl haben? Die alte Wahrsagerin meinte, drei Söhne und zwei Töchter, der chinesische Mönch sprach von zwei Söhnen und zwei Töchtern.
Sie lächelte vor sich hin. Oh, wie weise werde ich den Haushalt meines Gatten führen, wie gut werde ich zu meinen Söhnen sein, wie streng zu meinen Töchtern, doch keine Angst, ich werde sie gut verheiraten…
Sie erwachte ein paar Sekunden vor Yoshi. Er war sofort auf den Beinen, vollständig bereit für den Tag. Sie hielt ihm die wattierte Yokata hin. Dann zog sie ihren Kimono eng um sich und öffnete ihm erst die eine, dann die andere Shoji-Tür, kniete nieder und half ihm in die Strohsandalen. Der Wachtposten wollte sich schon verneigen, besann sich aber noch rechtzeitig und schaute weg, als Yoshi sich zum Bereich der Außentoilette begab.
Sumomo kniete in der Nähe der Tür und wartete geduldig. Neben ihr harrte eine Dienerin mit einem Kohlebecken, heißem Tee und Frühstückstabletts.
»Guten Morgen, Herrin. Es ist kalt heute morgen. Darf ich Ihnen Tee machen?«
»Ja, bitte, Sumomo, ganz schnell. Machen Sie die Tür zu, es ist eiskalt.« Koiko eilte in ihre inneren Räume zurück und rief: »Wir brechen um die Mitte des Vormittags auf, Sumomo. Wir können unsere Reisekleider dann anlegen.«
»Ja, Herrin.« Sumomo stand noch an der äußeren Tür und versuchte, ihren Schock zu verbergen. Sie hatte sofort gesehen, daß ihr Bündel bewegt worden war; der Knoten, mit dem sie das quadratische Seidentuch verschlossen hatte, war nicht genauso gebunden, wie sie das zu tun pflegte. Ihr Tageskimono lag noch zusammengefaltet daneben, aber auch er war bewegt worden.
Sie hielt den Atem an und wartete, bis die Dienerin gegangen war. Dann faltete sie den Kimono auseinander. Als ihre Finger die versteckten Shuriken in der geheimen Ärmeltasche fühlten, setzte ihr Herzschlag wieder ein.
Aber warte, dachte sie, und das Blut schoß ihr ins Gesicht, daß sie noch da sind, bedeutet nicht, daß sie nicht entdeckt worden sind. Keine Panik! Denk nach! Wer sollte hier mein Bündel durchsuchen und warum? Ein Dieb? Niemals. Abeh? Ein Wachmann? Koiko? Yoshi? Wenn es einer von ihnen wäre, dann wäre ich bereits tot oder zumindest gefesselt, und man würde mir Fragen stellen und…
»Sumomo, ist der Tee fertig?«
»Ja, Herrin, ich komme…«
Rasch zog sie den Kimono über ihre Schlaf-Yokata – sie hatte sich bereits in der Frühe gewaschen und sich die Zähne und das Haar gebürstet, das sie noch in einem konventionellen Zopf trug –, band ihren Obi und steckte das Messer in seine Scheide in den Gürtel. Dabei rasten ihre Gedanken: Vielleicht war der Sucher nicht sorgfältig gewesen. Er konnte die Shuriken leicht übersehen haben, wenn er sie nicht erwartete. Vielleicht war er nicht geübt. Koiko? Warum sollte sie jetzt meine Besitztümer durchsuchen? Natürlich war das von den anderen Dienerinnen besorgt worden, als sie in Koikos Haus gekommen war – die Shuriken hatte sie am Leib getragen.
Während sie hektisch nachdachte, stellte sie den Reisschleim warm, bereitete den Tee und trug eine Tasse in die Badestube, wo Koiko sich soeben mit heißem, mit Blütenextrakt parfümiertem Wasser gewaschen hatte. Das Wasser wurde in der Morgendämmerung durch eine kleine Falltür geliefert, damit es nicht die Tatamis bespritzte und keiner der Gäste gestört wurde. Die Behälter für die Nacht wurden auf dieselbe Weise entfernt.
»Ich werde meinen braunen Kimono mit den Karpfen anziehen«, sagte Koiko und trank dankbar von dem Tee; sie hatte eine Gänsehaut von der Kälte, so sehr sie sich auch bemühte, so zu tun, als spüre sie sie nicht, »und den goldfarbenen Obi.«
Sumomo gehorchte eilends, noch immer mit unruhigem Herzen, holte die Kleidungsstücke und half Koiko beim Anziehen.
Als der Obi zu ihrer Zufriedenheit gebunden war, kniete Koiko auf einem der Futons nieder. Sumomo kniete hinter ihr, um ihr das glänzende, taillenlange Haar zu bürsten. »Das ist gut, Sumomo, Sie machen Fortschritte, aber bitte bürsten Sie mit längeren und weicheren Strichen.«
Von draußen die Geräusche der erwachenden Herberge. Dienerinnen und Soldaten und andere riefen einander zu, man hörte Abehs Stimme und dann die von Yoshi. Die beiden Frauen lauschten, konnten aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Die Stimmen entfernten sich.
»Noch zwanzig Striche, dann möchte ich essen und noch eine Tasse Tee trinken. Sind Sie hungrig?«
»Nein, Herrin, danke, ich habe schon gegessen.«
»Haben Sie nicht gut geschlafen?« sagte Koiko, der eine gewisse Nervosität auffiel.
»Nein, Dame Koiko. Es tut mir leid, Ihnen gegenüber meine Probleme zu erwähnen, aber ich habe manchmal Schwierigkeiten einzuschlafen, und wenn ich schlafe, habe ich schlechte Träume«, sagte Sumomo geistesgegenwärtig. »Der Arzt hat mir Medizin zur Beruhigung gegeben. Ich habe gestern abend, als ich das Zimmer wechselte, vergessen, sie mitzunehmen.«
»Ach, ja?« Koiko verbarg ihre Erleichterung. »Vielleicht sollten Sie jetzt etwas davon einnehmen.«
»Ach, das hat Zeit bis…«
»Bitte, ich bestehe darauf. Es ist wichtig, daß Sie ruhig sind.«
Gehorsam und dankbar suchte Sumomo die Flasche. Sie war nicht angerührt worden. Sie nahm einen Schluck und verkorkte sie wieder. Die innere Wärme machte sich fast sofort bemerkbar. »Danke, Herrin«, sagte sie und bürstete dann weiter.
Nach dem heißen Reisschleim, eingelegten Gemüsen, etwas kaltem Aal mit süß-saurer Sauce und Reiskuchen sagte Koiko: »Bitte setzen Sie sich, Sumomo, und gießen Sie sich Tee ein.«
»Danke. Herrin.«
»Herr Yoshi hat entschieden, daß ich ihn nicht mehr begleiten, sondern ihm in einer Sänfte in gemächlicherem Tempo folgen soll.«
»Einige der Wächter erwähnten das, während ich auf Sie wartete. Alles wird bereit sein, wann immer Sie aufbrechen möchten.«
»Gut.« Jetzt, da Koiko die Wahrheit über die Flasche erfahren hatte, fühlte sie sich wesentlich wohler, aber das änderte nichts an ihrer Entschlossenheit, vorsichtig zu sein – ihre Pflicht Katsumata gegenüber hatte sie bereits erfüllt. »Jetzt sind Sie sicher aus Kyōto heraus«, sagte sie leise, und Sumomos Magen verkrampfte sich. Ohne die Medizin wäre sie in Panik geraten. »Es ist Zeit, uns zu trennen, Sumomo. Heute. Haben Sie Geld?«
»Nein, Herrin.« Sumomo wollte sachlich klingen. »Aber wäre es mög…«
»Keine Sorge, ich kann Ihnen etwas geben«, sage Koiko, die das Erröten mißverstand, mit einem Lächeln. Dann fuhr sie energisch fort: »Und Ihre Papiere, sind die in Ordnung?«
»Ja, aber darf ich viel…«
»Es ist für uns beide am besten. Ich habe alle Möglichkeiten bedacht. Es ist am besten, wenn ich allein Weiterreise. Sie können hierbleiben oder nach Hause nach Satsuma zurückkehren, ganz wie Sie möchten.«
»Aber bitte, darf ich nicht bei Ihnen bleiben?«
»Es ist weise, wenn Sie jetzt Ihre eigenen Wege gehen – Sie begreifen natürlich, daß es eine große Gefälligkeit Ihrem Vormund gegenüber war, daß ich Sie aufnahm. Jetzt sind Sie in Sicherheit«, sagte sie freundlich.
»Aber… aber was wollen Sie tun, Sie haben keine Zofe. Ich möchte Ihnen dienen und…«
»Ja, und Sie waren sehr gut, aber ich kann leicht jemanden einstellen. Bitte, machen Sie sich darüber keine Sorgen. Nun, werden Sie nach Kyōto zurückkehren?« Als Sumomo nicht antwortete, sondern nur benommen vor sich hinstarrte, sagte sie freundlich: »Was, hat Ihr Vormund gesagt, sollen Sie tun, wenn Sie mich verlassen?«
»Er… er hat nichts davon gesagt.«
Koiko runzelte die Stirn. »Aber Sie haben doch gewiß einen Plan.«
»O ja, Herrin«, sagte Sumomo rasch. Ihr Mund ging mit ihr durch. »Er hat mir gesagt, ich soll bis Edo bei Ihnen bleiben. Dann, wenn es Ihnen gefiele, sollte ich gehen.«
»Wohin?«
»Zu… zu Oda-sama.«
»Er ist in Edo?« fragte sie überrascht.
»Ich glaube, ja. Darf ich Sie etwas…«
»Sie glauben? Sie sind nicht sicher, Sumomo?« Koikos Stirnrunzeln vertiefte sich. »Haben Sie eine andere Familie, zu der Sie gehen können, wenn er nicht da ist?«
»Nun, ja, es gibt eine Herberge, die werden wissen, wo er ist, oder dort wird eine Botschaft für mich liegen, aber ich schwöre, ich werde auf der Reise keine Last für Sie sein, überhaupt nicht, Sie lehren mich so vieles…«
Je länger Koiko dem hastigen Gerede des Mädchens zuhörte – wie dumm von ihr, dachte sie, da ich mich doch offensichtlich entschieden habe –, desto weniger gefiel ihr, was sie hörte, und auch Sumomos Erregung, die Art, wie sie sprach und dabei den Blick senkte, machte sie mißtrauisch.
Sie verschloß die Ohren vor verschiedenen Argumenten und benutzte die Zeit, um ihre eigenen Gedanken zu sammeln. Sie wurden immer beunruhigender. »Wird Ihr Vormund auch in Edo sein?«
»Ich weiß es nicht, tut mir leid. Bitte, lassen Sie mich etwas…«
»Dieser Oda-sama ist aus Satsuma – gehört er zur dortigen Satsuma-Garnison?«
»Ich… ich glaube nicht.« Sumomo verfluchte sich. Ich hätte sagen sollen, daß ich es nicht weiß. »Die Sats…«
»Was macht er dann in Edo?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sumomo matt. Ihr Geist arbeitete nicht schnell genug, und ihre Bestürzung wuchs. »Ich habe ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen, das heißt… man sagte mir, er würde in Edo sein.«
Koiko schaute sie durchdringend an. Ihr Ton wurde scharf. »Ihr Vormund sagte, dieser Oda-sama sei Shishi, also…« Ihre Stimme verklang, als sie beim lauten Aussprechen des Wortes die Ungeheuerlichkeit dessen begriff, was sie getan und riskiert hatte, als sie einwilligte, dieses Mädchen aufzunehmen. Die Erkenntnis überwältigte sie. »Die Shishi glauben, daß Herr Yoshi ihr größter Feind ist«, stöhnte sie, »und wenn er der Feind ist, dann…«
»Nein, Dame, das ist er nicht, nicht er, nur das Shōgunat, die Bakufu sind Feinde, er steht über all dem, er ist kein Feind«, sagte Sumomo heftig, und die Lüge fiel ihr leicht. Ehe sie sich beherrschen konnte, fügte sie noch hinzu: »Katsum… mein Vormund hat das uns allen eingeprägt.«
»Euch allen?« Koikos Gesicht wurde kalkweiß. »Namu Amida Butsu! Sie sind eine von seinen Gefolgsleuten?« Katsumata hatte ihr gesagt, einige wenige sorgfältig ausgewählte junge Frauen würden von ihm als Mitglieder seiner Kriegerbande ausgebildet. »Er… er hat auch Sie ausgebildet?«
»Ich bin nur eine bescheidene Loyalistin«, sagte Sumomo, um Beherrschung ringend, weil sie arglos erscheinen wollte.
Koiko sah sich ungläubig um. Ihre Gedanken waren wie gelähmt, und die heile Welt, in der sie gelebt hatte, zerfiel in tausend Scherben. »Sie sind eine von ihnen, geben Sie es zu!«
Sumomo erwiderte ihren Blick. Sie wußte nicht, wie sie sich aus dem Graben befreien sollte, der sich plötzlich zwischen ihnen aufgetan hatte. »Dame, bitte, lassen Sie uns klar denken. Ich… ich bin keine Bedrohung für Sie, und Sie sind keine Bedrohung für mich. Lassen wir es dabei. Ich habe geschworen, Sie zu beschützen, und das werde ich auch tun, und Herrn Yoshi auch, wenn das nötig sein sollte. Lassen Sie mich mit Ihnen reisen. Ich schwöre Ihnen, ich werde in dem Augenblick gehen, in dem wir Edo erreichen. Bitte!« Ihre Augen wollten Koiko zur Einwilligung zwingen. »Sie werden die Freundlichkeit nie bereuen. Bitte. Mein Vormund hat einen Lebenswunsch geäußert. Bitte, ich werde Ihnen dienen…«
Koiko hörte die Worte kaum. Sie sah Sumomo an, wie eine Maus eine angreifende Kobra anstarren würde. Sie konnte nur daran denken, wie sie entkommen, wie sie all das zu einem Traum machen könnte. Ist es ein Traum? Sei vernünftig, dein Leben liegt in der Waagschale, mehr als dein Leben, du mußt deinen Verstand zusammennehmen.
»Geben Sie mir Ihr Messer.«
Sumomo zögerte nicht. Ihre Hand fuhr in ihren Obi, und sie reichte Koiko das Messer in der Scheide. Koiko zog es heraus, als stünde die Klinge in Flammen. Da sie nicht wußte, was sie sonst damit tun sollte, denn sie hatte noch nie ein Messer in der Hand gehabt – in der Schwimmenden Welt waren alle Waffen verboten –, schob sie es in den eigenen Obi. »Was wollen Sie von uns? Warum sind Sie hier?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.
»Nur, um mit Ihnen zu reisen, Dame«, sagte Sumomo wie ein Kind. Sie merkte nicht, daß ihr Gesicht nackt war. »Nur, um mit Ihnen zu reisen, es gibt keinen anderen Grund.«
»Gehörten Sie zu der Mörderbande, die Shōgun Nobusada angegriffen haben?«
»Natürlich nicht, ich bin nur eine einfache Loyalistin, eine Freun…«
»Aber Sie waren die Spionin, die verraten hat, daß mein Herr sich außerhalb der Kasernen mit Ogama treffen wollte – Sie waren das!«
»Nein, Dame, ich schwöre es. Ich habe Ihnen gesagt, daß er nicht der Feind ist. Das war ein verrückter Einzelgänger, keiner von uns. Ich sage noch immer…«
»Sie müssen gehen, Sie müssen«, sagte Koiko sehr leise. »Bitte, gehen Sie. Bitte, gehen Sie jetzt, bitte. Schnell.«
»Es gibt keinen Grund zu Sorge oder Angst. Keinen.«
»O doch, ich habe Angst, schreckliche Angst, jemand könnte Sie denunzieren. Dann würde Yoshi…« Die Worte schienen in der Luft zwischen ihnen zu hängen. Sie schauten sich an. Sumomo wollte ihr ihren Willen aufzwingen, und Koiko war hilflos und ermattete unter ihrer Stärke. Beide schienen gealtert zu sein. Es zerriß Koiko das Herz, daß sie so naiv hatte sein können und daß ihr Idol sie so böse mißbraucht hatte, und Sumomo war wütend, weil sie nicht sofort zugestimmt hatte, als diese zudringliche Hure ihr vorgeschlagen hatte zu gehen. Närrin, Närrin, dachten beide.
Die Shoji-Tür öffnete sich, Yoshi trat herein und wollte ins innere Zimmer gehen. Beide Frauen erwachten aus ihrer Trance und verneigten sich hastig. Er blieb unvermittelt stehen. Alle seine Sinne witterten Gefahr.
»Was ist los?« fragte er scharf. Ihm war ihre Angst aufgefallen, ehe sie die Köpfe neigten.
»Ni… nichts, Herr«, sagte Koiko und nahm sich zusammen, während Sumomo zum Kohlenbecken eilte, um frischen Tee zu holen. »Möchtest du vielleicht Tee, ein Frühstück?«
Seine Augen wanderten von einer zu anderen. »Was ist los?« fragte er langsam, und seine Worte waren wie eisige Nadeln.
Sumomo kniete demütig nieder: »Es… es tut uns so leid, daß wir nicht mit Ihnen gehen, Herr, das war es nur… daß die Dame Koiko so traurig ist. Darf ich Tee servieren, Herr?«
Das Schweigen wurde drückend. Er ballte die Fäuste. Sein Gesicht war streng, die nackten Beine standen fest auf dem Boden. »Koiko! Sag es mir auf der Stelle!«
Koikos Lippen begannen sich zu bewegen, aber die Worte wollten nicht kommen. Sumomos Herz blieb stehen, dann dröhnte es in ihren Ohren, als Koiko mühsam aufstand, in Tränen ausbrach und stammelte: »Siehst du, Tora-chan, sie… es stimmt, aber sie ist nicht ganz das, was…«
Sofort war Sumomo auf den Füßen. Ihre rechte Hand fuhr in ihren Ärmel, und sie förderte ein Shuriken zutage. Yoshi biß die Zähne zusammen, als er es sah. Ihr Arm fuhr nach hinten, um auszuholen – er war unbewaffnet, ein ungeschütztes Ziel, seine Schwerter befanden sich im inneren Zimmer. Sofort duckte er sich nach links und hoffte, die Finte würde sie verwirren; er schickte sich an, sich auf sie zu stürzen, und wandte keinen Blick von ihrer Hand. Unbeirrt zielte sie auf seine Brust und warf mit aller Kraft.
Die gezackte Stahlscheibe wirbelte durch den Raum. Hektisch bäumte Yoshi sich auf und fuhr herum. Einer der Zacken traf den Rand seines Kimonos und riß den Stoff auf, berührte aber kein Fleisch, verschwand dann durch die Shoji-Bespannung und prallte an einen Pfosten im inneren Raum, während er, von der Anstrengung aus dem Gleichgewicht gebracht, gegen eine Wand taumelte und zu Boden stürzte.
Für einen Augenblick schien alles wie ein langsamer Traum abzulaufen…
Sumomo griff unendlich langsam in ihren Ärmel nach dem nächsten Shuriken; sie sah nur den großen Feind hilflos am Boden liegen und seine dämliche Hure, die diesen unnötigen Schluß ausgelöst hatte, angstvoll starren – sie selbst aber empfand keine Angst, nur freudige Erregung, sicher, daß dies ihr Zenit war, der Augenblick, für den sie geboren und ihr ganzes Leben lang ausgebildet worden war, sicher, daß sie, unbesiegbare Meisterin der Shishi, jetzt siegen, sterben und als Legende für alle Zeit fortleben würde.
Koiko stand da wie gelähmt, ihre Augen blind. Sie war entsetzt, daß sie von ihrem gottähnlichen Guru getäuscht worden war, der sie betrogen und ihr nichts als Lügen erzählt hatte, und das Mädchen war auch ein Betrug, und ihretwegen war es zu dieser ungeheuerlichen Verschwörung gekommen. Ihr Herr würde sterben, und selbst wenn er nicht starb, war sie bloßgestellt und würde sterben, entweder von seiner Hand oder durch die Wachen. Alles in diesem Leben war vergeudet, sie würde nie ihren Samurai heiraten, niemals Söhne haben, niemals in diesem Leben. Es war besser, es rasch von eigener Hand zu beenden, ehe andere das auf üble Weise tun konnten, aber wie, wie nur… und dann fiel ihr Sumomos Messer ein…
Yoshi drehte sich auf dem Boden herum, um den nächsten Wurf zu sehen, zog die Füße unter sich für den Sprung, den er tun mußte, wenn er nicht sterben wollte. Alles dauerte so lange, sein Kopf drohte zu platzen, weil er eine Viper an seiner Brust genährt hatte, und dann sah er Sumomos Hand mit dem zweiten Shuriken – wie viele hat sie? –, und ihre Lippen entblößten die sehr weißen Zähne…
Der Augenblick der Erstarrung endete.
Sumomo zögerte, überglücklich, nun endlich zu töten, doch der Augenblick dauerte zu lange, sie sah Koiko aus ihrer Trance erwachen, und sie sah das Messer in ihrer Hand. Instinktiv verschob sie ihr Ziel, schwankte, fing sich wieder, zielte erneut auf Yoshi und wollte werfen, aber in diesem Augenblick sprang Koiko vor und stürzte ihr entgegen.
Das kreiselnde Shuriken drang in Koikos Brust ein, sie stieß einen Schrei aus, und das gab Yoshi Zeit, vom Boden aus auf Sumomo loszugehen. Er packte einen ihrer Fußknöchel und riß sie zu Boden. Er griff nach ihrer Kehle, aber sie war wie ein Aal und entwand sich ihm, geübt in Kriegskünsten, und ihre Hand tastete nach dem letzten Shuriken. Ehe sie es erreichen konnte, packten seine eisernen Finger einen Teil ihre Kimonos, rissen den halben Ärmel ab. Wieder wand sie sich aus seinem Griff und stand binnen Sekunden auf den Füßen, doch nun war auch er aufgestanden.
Sofort stieß sie einen markerschütternden Kriegsschrei aus, ballte die Hand zur Faust und warf erneut. Er war erstarrt – doch ihre Hand war leer, der Wurf nur eine Finte, das letzte Shuriken steckte noch immer in ihrem zerrissenen Ärmel. Als sie danach griff, wurde hinter ihr die Shoji-Tür von einem Wächter heftig aufgeschoben. »Schnell«, schrie sie, auf Koiko zeigend, die sich stöhnend auf dem Boden wand, und lenkte ihn so ab. Als er vorwärts stürzte, riß sie sein Langschwert aus der Scheide, hob es, hackte auf ihn ein, verwundete ihn und wandte sich mit derselben Bewegung Yoshi zu. Der aber war einen Schritt zurückgetreten und über Koikos sich windenden Körper hinweggesprungen. Er brach durch den geschlossenen Shoji in den inneren Raum zu seinen Schwertern, Sumomo auf seinen Fersen.
Zischend fuhr sein Schwert aus der Scheide. Er wirbelte herum, parierte heftig den ersten Schlag und drehte sich in dem engen Raum. Furchtlos griff Sumomo ihn an und wurde erneut pariert, während Yoshi sie abschätzte und sie ihn. Ein weiterer Austausch von Schlägen. Sie war eine ebenso vollendete Schwertkämpferin wie er.
Jetzt griff er an und wurde pariert, sie hielten inne und umkreisten sich, dann brach sie rückwärts durch den Shoji, um mehr Raum zu gewinnen, er blieb ihr dicht auf den Fersen, und sie umkreisten sich und suchten einen freien Raum. Draußen ertönten Schreie. Wachen liefen zusammen. Der verwundete Samurai blockierte die halbe Tür. Sumomo wußte, daß sie wenig Zeit hatte, und sprang vorwärts, fuhr dann herum, um die Tür im Rücken zu haben, und sie hackten aufeinander ein, Schlag und Parade, Schlag und Parade. Yoshi drehte sich und zwang auch sie, eine Kehrtwendung zu machen, verlor aber dadurch die Initiative.
Er sah Abeh, der mit erhobenem Schwert von hinten auf sie zueilte, und schrie: »Nein! Überlaß sie mir!«
Gehorsam trat Abeh nach hinten. Ein weiteres wildes Gefecht, bei dem Yoshi gerade noch rechtzeitig das Gleichgewicht wiederfand. Sie waren einander ebenbürtig. Yoshi hatte zwar wesentlich mehr Kraft, war aber nicht so durchtrainiert.
Jetzt verkeilten sich ihre Schwerter. Rasch riß sie sich los, da sie wußte, daß er sie aus so kurzem Abstand besiegen würde. Sie trat zurück, machte eine Finte, stieß dann blindlings und blitzschnell zu und traf mit der Klinge seine Schulter. Ein weniger geschickter Kämpfer wäre dadurch außer Gefecht gesetzt worden, aber er hatte den Schlag kommen sehen und nur eine geringfügige Verletzung erlitten. Trotzdem schrie er laut auf, senkte den Arm und tat so, als sei er schwer verwundet. Sorglos drang sie nun auf ihn ein, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Aber er war nicht mehr genau da, wo sie ihn erwartet hatte. Sein Schwert fuhr wild von unten nach oben, überraschte sie, und der Schlag durchtrennte ihr linkes Handgelenk. Die Hand mit dem Schwert, dessen Griff die Finger noch immer umklammerten, flog davon.
Erstaunt starrte sie auf ihren Armstumpf, aus dem ein Strom von Blut sprudelte. Sie hatte keine Schmerzen. Mit der anderen Hand griff sie nach dem Stumpf, um den Blutstrom zu stillen. Wachen stürzten vor und wollten sie ergreifen, aber wieder verscheuchte Yoshi sie zornig. Keuchend rang er nach Luft und beobachtete sie aufmerksam. »Wer sind Sie?«
»Sumomo Fujahito… Shishi«, ächzte sie. Ihr Mut und ihre Stärke verebbten rasch. Mit letzter Kraft wimmerte sie: »Sonno-joiiii.« Dann ließ sie ihr Handgelenk los, tastete nach dem letzten Shuriken, fand es, drückte eine der vergifteten Zacken in ihren Arm und stolperte vorwärts, um es ihm in den Leib zu rammen. Aber er war vorbereitet.
Der mächtige Schlag traf sie genau da, wo der Halsansatz in den Körper überging, durchschnitt ihren Hals und kam unter dem Arm wieder heraus. Die Umstehenden sogen wie ein Mann die Luft ein, überzeugt, einem Geschehen beigewohnt zu haben, das jahrhundertelang von Mund zu Mund gehen würde und bewies, daß dieser Mann ein würdiger Abkömmling des großen Shōgun und Träger seines Namens war. Doch alle waren auch erschüttert beim Anblick von so viel Blut.
Abeh fand als erster die Stimme wieder. »Was ist passiert, Herr?«
»Ich habe gesiegt«, sagte Yoshi grimmig und untersuchte seine Schulter. Blut befleckte seinen Kimono, seine Seite schmerzte, und sein Herz schlug noch immer heftig. »Holt einen Arzt… dann brechen wir auf.«
Eilig rannten Männer davon, um seinem Wunsch zu entsprechen. Abeh riß seine Blicke von Sumomos Leichnam. Koiko stöhnte und wand sich mitleiderregend; ihre Nägel krallten sich in die Tatami und zerfetzten sie. Er ging auf sie zu und hielt inne, als Yoshi sagte: »Achtung, Narr! Sie gehörte mit zur Verschwörung!« Vorsichtig stieß Abeh mit dem Fuß Sumomos Messer beiseite. »Dreht sie um!« Er gehorchte und drehte sie mit dem Fuß um.
Nur sehr wenig Blut war zu sehen. Das Shuriken hatte ihr den Kimono ins Fleisch genagelt, und darin versickerte die Blutung; mehr als die Hälfte des runden Stahls steckte in ihrer Brust. Abgesehen von der Qual, die in Wellen ihr Gesicht verzerrte, war sie so atemberaubend schön wie immer.
Yoshi war von Haß erfüllt.
Nie war er dem Tod so nahe gewesen. Der andere Angriff war nichts gewesen im Vergleich zu diesem. Wie es ihm gelungen war, dem Anschlag und der hinterhältigen Attacke standzuhalten, verstand er nicht. Ein halbes Dutzend Male hatte er gedacht, daß er geschlagen war, und der Schrecken am Rande des Todes war anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Dieser Schrecken würde jeden entmannen, dachte er, und aus Zorn über ihren Verrat wollte er Koiko in Stücke hacken oder sie ihrer Todesqual überlassen.
Ihre Hände krallten sich ohnmächtig in ihre Brust, wo das Zentrum des ungeheuren Schmerzes war, und versuchten, das Ding herauszureißen, das ihn verursachte. Aber sie konnte es nicht. Ein Schauder ließ sie erzittern. Ihre Augen öffneten sich, und sie sah Yoshi dastehen. Ihre Hände ließen ihre Brust los und fuhren zu ihrem Gesicht, versuchten ihr Haar zu glätten, fielen zurück. »Hilf, Tora-chan«, schluchzte sie gurgelnd, »bitte, hilf mir… es tut weh…«
»Wer hat dich geschickt? Und sie? Wer?«
»Hilf mir, o bitte, es tut weh, es tut weh, ich wollte retten… retten…« Ihre Worte verklangen, und sie sah sich wieder mit dem Messer in der Hand, als er wehrlos war, wie sie heroisch ihre Pflicht tat, herbeistürzte, um ihn zu beschützen, um ihm das Messer zu geben, das sie selbst nicht benutzen konnte, um die Verräterin daran zu hindern, ihn mit dem fliegenden Stahl zu verwunden, wie sie selbst sich als Zielscheibe in seinen Weg geworfen hatte, um sein Leben zu retten, damit er sie belohnen und ihr verzeihen würde, sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, hatte ihm nur gedient, ihn erfreut, ihn angebetet …
»Was sollen wir mit ihr machen?« fragte Abeh unbehaglich. Wie alle anderen war er sicher, daß das Shuriken vergiftet war und daß sie sterben würde. Einige Gifte waren grausamer als andere.
Sie auf den Misthaufen werfen, dachte Yoshi sofort, dessen Magen mit bittersüßer Galle gefüllt war, und sie ihrem Schmerz und den Hunden überlassen. Er machte jetzt ein gequältes Gesicht, da er sah, daß sie noch immer schön war, sogar begehrenswert. Nur ihr leises Stöhnen erinnerte ihn daran, daß eine Zeit zu Ende war.
Jetzt und für alle Zeit würde er allein sein. Sie hatte sein Vertrauen zerstört. Wenn diese Frau, die er so mit Zuneigung überschüttet hatte, ihn verraten konnte, dann konnte das jeder tun. Nie wieder konnte er einer Frau vertrauen oder so viel mit ihr teilen. Nie wieder. Sie hatte diesen Teil von ihm für immer zerstört. Sein Gesicht verschloß sich. »Werft…«
Und dann erinnerte er sich an ihre albernen Gedichte und ihre glücklichen Gedichte, an all das Lachen und die Lust, die sie ihm gegeben hatte. Und plötzlich erfüllte ihn ungeheure Traurigkeit über die Grausamkeit des Lebens. Er hatte das Schwert noch in der Hand. Ihr Hals war so schlank. Der Schlag war gnädig.
»Sonno-joi, eh?« murmelte er, blind über ihren Verlust.
Verfluchte Shishi, ihre Schuld, daß sie tot ist. Wer hat Sumomo geschickt? Katsumata! Er muß es sein, der gleiche Schwertstreich, die gleiche Arglist! Zweimal haben seine Mordbuben mich fast getötet, ein drittes Mal wird es nicht geben. Ich werde sie auslöschen. Bis ich tot bin, ist Katsumata der Feind, sind alle Shishi Feinde. Verfluchte Shishi – und verfluchte Gai-Jin!
Eigentlich ist es die Schuld der Gai-Jin. Sie sind eine Plage. Wenn sie nicht wären, wäre all das nicht passiert, es gäbe keine stinkenden Verträge, keine Shishi, kein sonno-joi und kein verdammtes Yokohama.