36
Mittwoch, 5. Dezember
Im Vorübergehen erblickte Hiraga sein Spiegelbild im Fenster eines Fleischerladens und erkannte sich im ersten Moment nicht. Ungläubig starrte er auf sein verdunkeltes Bild – und seine neue Verkleidung. Zylinder, hoher Kragen und Krawatte, breitschultriger, taillierter Gehrock aus feinem Wollstoff, Weste aus blauer Seide, am Knopf eine Stahlkette, die zu einer Taschenuhr führte, enge Hosen und Lederstiefel. Lauter Geschenke der Regierung Ihrer Majestät, bis auf die Uhr, die er von Tyrer bekommen hatte – für erwiesene Dienste. Er nahm den Hut ab und betrachtete sich von verschiedenen Seiten. Jetzt bedeckten Haare sein Haupt, zwar nirgends auch nur annähernd so lang wie die von Phillip Tyrer, aber sicher lang genug, um als europäisch angesehen zu werden. Sauber rasiert. Die Qualität und der niedrige Preis britischer Rasiermesser hatten ihn stark beeindruckt, ein weiteres verblüffendes Beispiel für die Leistungsfähigkeit von Manufakturen.
Er lächelte sich zu, erfreut über seine Maskerade, zog die Uhr heraus, bewunderte sie und las die Zeit ab, elf Uhr sechzehn. Als ob sechzehn Minuten eine Rolle spielten, dachte er verächtlich, wenn auch zufrieden, daß er so schnell gelernt hatte, die Gai-Jin-Zeit einzuhalten. Ich habe viel gelernt. Noch nicht genug, aber ein Anfang.
»Möchten Sie schöne gefrorene Hammelkeule aus Australien kaufen, aus dem Eisraum des Postdampfes, Herr, oder wie wär’s mit ein bißchen schönem fettem Schinken, in Hongkong geräuchert?« Der Fleischer war dickbäuchig, kahl, hatte Arme wie Kanonenrohre und eine blutfleckige Schürze.
»Oh!« Dann bemerkte Hiraga das Fleisch und Wild und die Innereien, die auf der anderen Seite der Fenster hingen, mit ihren Schwärmen von Fliegen. »Nein, nein, danke. Ich nur schauen. Guten Tag, Sir«, sagte er und verbarg seinen Abscheu. Schwungvoll wie Tyrer setzte er sich den Hut schräg wieder auf den Kopf und ging weiter die High Street hinab in Richtung Drunk Town und Dorf. Höflich zog er den Hut vor anderen Fußgängern oder Reitern, die seinen Gruß erwiderten. Das gefiel ihm noch besser, denn es bedeutete, daß er nach ihren Maßstäben akzeptiert wurde, die sich so sehr von japanischen Bräuchen unterschieden – von zivilisierten Maßstäben.
Narren. Bloß weil ich ihre Kleidung benutze und anfange, mich wie sie zu gebärden, denken sie, ich hätte mich verändert. Aber sie sind noch immer der Feind, sogar Taira. Dumm von Taira, seine Meinung über Fujiko zu ändern, was ist mit ihm los? Das paßt überhaupt nicht in meinen Plan.
Hiraga sah Struan mit Jamie McFay aus seinem Gebäude hinken, zwischen ihnen Oris Frau, mit der sie sich angeregt unterhielten. Das erinnerte ihn an sein Zusammentreffen mit dem Zweiten Mann vom Noble House. Sein Kopf schwirrte noch immer von westlichen Tatsachen und Zahlen, und er fühlte sich noch immer mitgenommen von seinen Versuchen, McFays lästigen Fragen über Shroffs und Reishändler wie die Gyokoyama auszuweichen. »Jami-san, vielleicht möglich, Sie treffen einen dieser Männer, wenn geheim«, hatte er ihm in dem verzweifelten Bedürfnis zu entkommen gesagt. »Ich dolmetschen, wenn geheimhalten.«
Der Shoya wartete auf ihn. Hiraga spürte die Gier des Mannes, das zu erfahren, was er erfahren hatte, und spielte mit ihm. Er nahm das Angebot einer Massage an. Dann, entspannt und in einer sauberen Yokata, bei einem köstlichen Essen aus Reis, getrocknetem Tintenfisch, in hauchdünne Scheiben geschnittenem Seebarsch mit Soja, daikung – Meerrettich – und Saké, sagte er, er habe Gespräche mit wichtigen Gai-Jin geführt, und sie hätten seine Fragen beantwortet. Er schlürfte seinen Saké und gab nichts freiwillig preis. Wichtige Informationen erforderten Ermutigung. Gegenseitigkeit. »Was gibt es für Neuigkeiten aus Kyōto?«
»Das ist alles sehr seltsam«, sagte der Shoya, froh darüber, daß ihm die Eröffnung überlassen war. »Meine Meister haben mich informiert, daß der Shōgun und Prinzessin Yazu sicher eingetroffen sind und sich im Palast befinden. Drei weitere Hinterhalte von Shishi… nein, Verzeihung, noch keine Einzelheiten über die Zahl der Getöteten. Herr Ogama und Herr Yoshi kamen kaum aus ihren Mauern heraus… Aber Shōgunats-Samurai bewachen nun die Tore, wie in der Vergangenheit.«
Hiragas Augen weiteten sich. »Tatsächlich?«
»Ja, Otami-sama.« Der Shoya war entzückt, daß der Köder angenommen worden war. »Seltsamerweise sind in geringer Entfernung von allen Toren geheime Posten von Ogama-Samurai, und von Zeit zu Zeit halten die feindlichen Hauptleute geheime Besprechungen ab.«
Hiraga grunzte. »Eigenartig.«
Der Shoya nickte, und als guter Fischer, der er war, zog er fest an. »Und, o ja, nicht, daß es für Sie vielleicht von Bedeutung sein könnte, aber meine Oberherren glauben, daß die beiden früher erwähnten Shishi Katsumata und der Shishi Takeda aus Choshu, in Kyōto entfliehen konnten und auf der Tokaidō reisen.«
»Nach Edo?«
»Das haben meine Herren mir gesagt. Natürlich ist diese Nachricht ohne Wert.« Der Shoya schlürfte etwas Saké und verbarg seine Freude über Hiragas verzweifelten Versuch, sein verzehrendes Interesse zu verbergen.
»Alles, was mit den Shishi zu tun hat, könnte von Bedeutung sein.«
»Ah, in dem Fall… obwohl es nicht weise ist, Gerüchte weiterzugeben«, sagte der Shoya, Verlegenheit vorschützend, und dachte, die Zeit sei reif, den Fisch an Land zu ziehen, »sie berichten, es gäbe in den Herbergen von Kyōto eine Geschichte darüber, daß eine dritte Person dem ersten Hinterhalt entkommen ist. Eine Frau, eine Samurai-Frau, geschickt in der Kunst der Shuriken… Was ist, Otami-sama?«
»Nichts, nichts.« Hiraga rang um Fassung. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf. Nur eine einzige weibliche Samurai in Katsumatas Schule hatte je diese Fertigkeit erworben. »Wie sagten Sie, Shoya? Eine Frau von Samurai-Abstammung entkam?«
»Es ist nur ein Gerücht, Otami-sama. Nichts weiter als Narrheit. Saké?«
»Danke. Gab es sonst noch etwas über diese Frau?«
»Nein. Ein so albernes Gerücht ist kaum wert, daß man darüber berichtet.«
»Vielleicht könnten Sie herausfinden, ob… ob an solchem Unsinn etwas Wahres ist. Das würde ich gern wissen. Bitte.«
»In dem Fall… vielleicht kann ich per Brieftaube nachfragen«, sagte der Shoya, dem das große Zugeständnis des ›Bitte‹ nicht entgangen war, mit liebenswürdiger und einer Spur demütiger Stimme. »Die Gyokoyama fühlt sich geehrt, wenn sie Ihnen und Ihrer Familie irgendeinen Dienst erweisen kann.«
»Danke.« Hiraga trank seinen Saké aus. Sumomo war mit Katsumata in Kyōto gewesen… Wo ist sie jetzt, warum ist sie nicht weitergereist nach Shimonoseki, wie ich es angeordnet hatte, was hat sie getan, wo ist sie jetzt, wenn sie entkommen ist?
Er mußte sich Mühe geben, sich konzentrieren, und nahm ein Bündel Notizen heraus und begann zu erklären, wobei er teilweise wie ein Papagei wiederholte, was ›Taira‹ und ›Makfey‹ ihm stundenlang gesagt hatten. Der Shoya hörte aufmerksam zu, dankbar, daß seine Frau sie heimlich belauschte und alles niederschrieb.
Als Hiraga fertig war mit seiner Leier über Anleihen, Finanz- und Bankgeschäfte – das meiste dessen, was man ihm gesagt hatte, verstand er nicht –, meinte der Shoya, beeindruckt von Hiragas Gedächtnis für das, was ihm so vollkommen fremd war: »Bemerkenswert Otami-sama.«
»Noch eine wichtige Angelegenheit.« Hiraga holte tief Luft. »Makfay hat gesagt, daß die Gai-Jin eine Art Markt haben, Shoya, einen Aktienmarkt, wo die einzigen Güter, die gehandelt, also gekauft oder verkauft werden, kleine bedruckte Papiere namens Aktien oder Anteile sind, die irgendwie Geld darstellen, große Summen Geldes, und jede Aktie ist ein Teil einer Compagnie.«
Er trank etwas Tee. Als er das Unverständnis des Shoya sah, atmete er wieder tief ein. »Sagen wir, Daimyo Ogama würde ganz Choshu, alles Land und alle Produkte des Landes, einer Compagnie geben, der Choshu-Compagnie, und bestimmen, daß die Compagnie aufgeteilt würde in zehntausend gleiche Teile, zehntausend Anteile, verstehen Sie?«
»Ich… ich glaube ja, fahren Sie bitte fort.«
»Dann beträgt das Aktienkapital einer Choshu-Compagnie zehntausend Anteile. Als nächstes bietet der Daimyo im Namen der Compagnie alle oder jede beliebige Zahl von Anteilen jedem an, der Geld hat. Für sein Geld bekommt der Mann oder die Frau dieses Stück Papier, auf dem steht, wie viele Anteile an der Choshu-Compagnie er oder sie gekauft hat. Diese Person besitzt dann diesen Teil der Compagnie und daher den gleichen Anteil an ihrem Reichtum. Das Geld, das sie und andere in die Compagnie einzahlen, wird dann deren Kapital. Ich glaube, dieser Makfey-Gai-Jin hat gesagt, daß das Geld umlaufen und den Reichtum der Compagnie vergrößern soll, um Gehälter zu bezahlen oder Land zu beanspruchen, oder Waffen oder Saatgut zu kaufen, oder Fischerboote zu verbessern, um alles zu bezahlen, was notwendig ist, um Choshu zu vergrößern und gedeihen zu lassen und den Wert der Choshu-Compagnie zu erhöhen.
Makfey hat das erklärt… Er sagte, Shoya, daß auf jedem Markt die Preise wechseln, in Zeiten von Hungersnot oft täglich, nicht? Genauso ist es auf diesem täglichen Aktienmarkt mit Hunderten von verschiedenen Compagnien, Käufern und Verkäufern. Wenn die Ernte in Choshu groß ist, dann ist der Wert jedes Anteils an der Choshu-Compagnie hoch, wenn Hungersnot ist, dann ist er niedrig. Der Wert jedes Anteils verändert sich also. Verstehen Sie?«
»Ich glaube schon«, sagte der Shoya langsam, der in Wirklichkeit sehr gut verstand und dem viele weitere Fragen durch den Kopf schwirrten.
»Gut.« Hiraga war müde, aber fasziniert von diesen neuen Ideen, obwohl sie ihn manchmal verwirrten. Nie, niemals hatte er auf einem Markt oder in einem Gasthaus gehandelt, nur immer bezahlt, was verlangt wurde. Nie in seinem Leben hatte er über den Preis von irgend etwas oder die Höhe einer Rechnung diskutiert – bis er Ronin geworden war. Rechnungen wurden, wenn man Samurai war, immer an denjenigen geschickt, der ein Gehalt erhielt, und wenn man nicht verheiratet war, war das normalerweise die Mutter. Einkaufen und der Umgang mit Geld waren die Angelegenheit der Frauen, niemals der Männer.
Man aß, was sie – Mutter, Tante, Großmutter, Schwester oder Ehefrau – von diesem Gehalt kaufte, und auf dieselbe Weise kleidete oder bewaffnete man sich. Ohne Gehalt verhungerte man mitsamt seiner Familie, oder man wurde Ronin, oder man gab freiwillig seine Stellung als Samurai auf und wurde Bauer, Arbeiter oder, was wesentlich schlimmer war, Kaufmann. »Shoya«, sagte er stirnrunzelnd. »Die Preise auf einem Nahrungs- oder Fischmarkt wechseln. Aber wer entscheidet über die Preise?«
Die Zunft der Fischer oder Bauern, hätte der Shoya sagen können, oder eher die Kaufleute, denen die Produkte wirklich gehören, weil sie ihnen Geld geliehen haben, um Netze oder Saatgut zu kaufen. Aber er war viel zu vorsichtig; er brauchte den größten Teil seiner Energie, um angesichts so vieler unbezahlbarer Informationen, so unvollständig sie auch sein mochten, äußerlich ruhig zu bleiben. »Wenn es viele Fische gibt, sind sie billiger, als wenn es nur wenige gibt. Das hängt vom Fang ab.«
Hiraga nickte. Offensichtlich wich der Shoya aus, verbarg die Wahrheit oder verdrehte sie. Doch das ist nur normal bei Kaufleuten und Shroffs, dachte er und beschloß plötzlich, das letzte Stück der Compagnie-Geschichte für später aufzubewahren, das ihn aus einem ihm selbst unerklärlichen Grund mehr faszinierte als das übrige: Wenn man derjenige war, der die Compagnie bildete, so entschied man selbst, wie viele Anteile man sich selbst vorbehielt, ohne Bezahlung, und wenn die Zahl einundfünfzig oder mehr von jeweils hundert betrug, dann behielt man die Macht über die Compagnie.
Sein Kopf platzte beinahe, als er das plötzlich begriff: Ohne Unkosten wurde man der Shōgun der Compagnie, und je größer die Compagnie, desto größer der Shōgun… ohne Unkosten!
Wenn sonno-joi Tatsache ist, dachte er, schwach vor Erregung, dann werden wir – der Rat der Samurai – dem Kaiser empfehlen, daß nur unser Rat eine Compagnie bilden darf, und dann kontrollieren wir endlich all die Parasiten, die Kaufleute und Geldverleiher!
»Otami-sama«, sagte der Shoya gerade, der keine Veränderung an Hiraga bemerkt hatte, weil sein eigener Kopf von den großartigen Informationen schwirrte, die er gesammelt hatte, »meine Oberherren werden sehr dankbar sein, und ich bin es auch. Wenn es uns gelungen ist, all Ihre brillanten Gedanken und Ideen zu sortieren, könnte ich dann vielleicht eine Gelegenheit bekommen, ein paar unbedeutende Fragen zu stellen?«
»Gewiß«, sagte Hiraga, jubelnd über die rosige Zukunft. Je mehr Fragen, desto besser. »Vielleicht dann, wenn Sie mehr über Ogama und Yoshi oder die Shishi, oder diese Frau hören?«
»Ich werde mein Bestes tun«, sagte der Shoya, der wußte, daß dies ein Handel war. Dann fiel ihm ein fehlendes, wesentliches Stück des Puzzles ein. »Bitte, darf ich fragen, was ist diese Compagnie? Was ist sie, wie sieht sie aus?«
»Ich weiß nicht«, sagte Hiraga, gleichermaßen verwirrt.
»Gut, daß Sie pünktlich sind, Mr. Struan«, sagte Admiral Ketterer bärbeißig, »das ist ja bei, äh, Kaufleuten nicht die Regel.« Er hatte ›Händler‹ sagen wollen, entschied aber, daß noch reichlich Zeit war, seine Breitseite abzufeuern. »Nehmen Sie Platz. Sherry?«
»Gerne, Admiral, danke.«
Die Ordonnanz schenkte ein Glas ein, füllte den Portwein des Admirals auf und ging. Sie hoben ihre Gläser. Der Schreibtisch war frei von Papieren bis auf ein offizielles Dokument, einen geöffneten Umschlag und einen Brief in der Schrift seiner Mutter. »Was kann ich für Sie tun?« fragte Malcolm.
»Sie wissen, daß einige meiner Matrosen von chinesischen Piraten getötet wurden, die während unseres Engagements in der Mirs Bay von der Küste aus britische Kanonen abfeuerten. Britische Kanonen, Sir.«
»Ich habe die Zeitungsberichte gelesen, aber ich weiß nicht mit Sicherheit, ob es sich um britische Fabrikate handelte.«
»Ich schon. Habe mich persönlich vergewissert.« Säuerlich nahm der Admiral das Dokument zur Hand. »Die ersten Untersuchungen des Gouverneurs kommen zu der Annahme, daß die Schuldigen vermutlich entweder Struan’s oder Brock’s waren.«
Malcolm erwiderte den Blick des älteren, rotgesichtigen Mannes ohne Angst. »Er kann annehmen, was er will, Admiral Ketterer, aber jede förmliche Anschuldigung muß auf Beweise gestützt sein, sonst wären wir sehr böse, und Brock’s sicher auch. Ich weiß von keinem solchen Handel, und wie dem auch sein mag, Verkäufe von Kriegsgerät sind vom Parlament nicht verboten. Kommt Norbert Greyforth auch?« Jamie hatte ihn gewarnt und gesagt, auch Greyforth sei vom Admiral um halb elf bestellt gewesen, aber erst um elf Uhr erschienen, und das Treffen habe kaum drei Minuten gedauert.
Ketterers Hals rötete sich, als er sich an Greyforths aufrührerische Antwort erinnerte. »Nein. Nein, dieser unverschämte Kerl weigerte sich, die Angelegenheit zu diskutieren. Tun Sie das auch?«
»Ich weiß nicht, was Sie zu diskutieren wünschen, Admiral.«
»Das Thema der Einfuhr und des Verkaufs von Kanonen und Kriegsgerät an die hiesigen Eingeborenen. Und von Kriegsschiffen. Und Opium.«
Vorsichtig sagte Malcolm: »Die Struans sind Chinahändler, und wir handeln dem britischen Gesetz gemäß. Keiner dieser Artikel ist von Gesetzes wegen verboten.«
»Opium wird es bald sein«, versetzte der Admiral unwirsch.
»Wenn es das ist, dann hört dieser Handel auf.«
»Er verstößt schon jetzt gegen chinesisches Gesetz und gegen die hiesigen Gesetze!«
»Struan’s handelt hier nicht, ich wiederhole, nicht mit Opium, obwohl das nicht, ich wiederhole, nicht gegen britische Gesetze verstößt.«
»Aber Sie geben zu, daß der Handel verderblich und unmoralisch ist.«
»Ja, aber gegenwärtig von der Regierung Ihrer Majestät gebilligt und leider die einzige Ware, die wir gegen Chinas Tee eintauschen können, der dem Parlament hohe Steuern einbringt.«
»Ich bin mir des Chinaproblems durchaus bewußt. Ich hätte gern, daß Sie und Ihre Firma das Gesetz vorwegnehmen und freiwillig zustimmen, niemals Opium nach Japan zu importieren.«
»Wir handeln hier nicht damit.«
»Gut. Wenn ich irgendwelche Schiffe finde, die Opium transportieren, habe ich die Absicht, die Fracht und das Schiff zu beschlagnahmen.«
»Ich würde sagen, daß Sie das auf Ihre eigene Gefahr hin tun, Admiral. Hat Sir William zugestimmt oder Ihre Absicht gebilligt?«
»Noch nicht. Ich möchte, daß Sie und die anderen Handels… die anderen Händler das freiwillig tun. Dasselbe gilt für Hinterladergewehre, Patronen, Kanonen und Kriegsschiffe.«
»Hat Greyforth einem so erstaunlichen Vorschlag zugestimmt?«
Der Hals wurde purpurrot. »Nein.«
Malcolm dachte einen Augenblick nach. »Wir haben in ein paar Tagen eine Zusammenkunft mit Sir William vereinbart«, sagte er dann. »Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Sie als mein persönlicher Gast daran teilnehmen würden. Alle Händler würden Sie ausreden lassen.«
»Meine Ansichten sind bereits wohlbekannt. Ausgerechnet Sie als Händler sollten doch wissen, auf welcher Seite Ihr Brot gebuttert ist und daß Sie ohne die Flotte, die Sie und Ihre Handelsrouten beschützt, hilflos sind. Wenn Sie Eingeborene mit Kanonen beliefern, so bedrohen Sie die Royal Navy, helfen Sie mit, Ihre eigenen Schiffe zu versenken, und ermorden obendrein sich und Ihre eigenen Landsleute.«
»Wenn Sie das Beispiel Indiens nehmen oder irgendein and…«
»Das sage ich ja, Mr. Struan!« schleuderte der Admiral ihm entgegen. »Ohne Eingeborene, die unser Kriegsgerät besitzen, wäre die Meuterei nie passiert, Revolten überall würden schneller beherrscht, Wilde in aller Welt könnten leichter und angemessener erzogen werden, der nützliche Handel würde friedlich vollzogen, und die Weltordnung würde mit dem Wohlwollen der Pax Britannica blühen. Und elende, Unzucht treibende Piraten hätten nicht die Mittel, auf mein Flaggschiff zu feuern, bei Gott! Und ohne Herrschaft der Royal Navy auf den Meeren gibt es keine Pax Britannica, kein britisches Empire, keinen Handel, und wir fallen ins finstere Mittelalter zurück!«
»Unter uns, Sie haben ganz recht, Admiral«, sagte Malcolm unterwürfig und mit gespielter Überzeugung und befolgte Onkel Chens Rat: »Wenn ein Mandarin wütend auf dich ist, aus welchem Grund auch immer, so stimme rasch zu, daß er ›unter uns‹ ganz recht hat; du kannst ihn später immer noch ermorden, wenn er schläft.«
Im Laufe der Jahre hatte er oft miterlebt, wie sein Vater und seine Mutter sich wegen dieses Themas zankten: Der Vater war für freien Handel, die Mutter für Moral; der Vater tobte über das unlösbare Opiumdreieck, die Mutter war heftig gegen Opium – und Waffenverkäufe. Beide beanspruchten die Wahrheit für sich, beide waren unnachgiebig, und der Streit endete immer damit, daß sein Vater sich bis zur Bewußtlosigkeit betrank und seine Mutter dieses starre, aufreizende Lächeln zeigte, das durch nichts zu beseitigen war, und die abschließende Gehässigkeit seines Vaters lautete stets: »Mein alter Herr – und dein Märchenprinz –, der große, grünäugige Teufel Dirk persönlich hat mit dem Handel begonnen, und uns ist es dabei gutgegangen, also helfe uns Gott!«
Oft hatte er darüber nachgedacht – aber nie zu fragen gewagt –, ob sie wirklich den Vater geliebt hatte und sich mit dem Sohn nur zufriedengegeben hatte, weil der Vater nicht wollte. Er wußte, daß er nie danach fragen würde, und wenn doch, würde sie nur ihr starres Lächeln aufsetzen und sagen: »Sei nicht albern, Malcolm.«
»Unter uns, Sie haben recht, Admiral«, wiederholte er.
Ketterer verschluckte sich an seinem Portwein und goß sich nach. »Tja, das ist wenigstens etwas, bei Gott!« Er blickte auf. »Dann werden Sie also dafür sorgen, daß Struan’s sich hier nicht auf Waffenverkäufe einläßt?«
»Ich werde gewiß alles, was Sie sagten, mit meinen Händlerkollegen beratschlagen und diskutieren.«
Ketterer zog sein Taschentuch heraus und schnaubte sich die Nase, nahm eine Prise Schnupftabak, nieste und schneuzte sich erneut. Als sein Kopf wieder klar war, richteten sich seine Augen auf den jungen Mann, gereizt, daß dieser nicht klein beigab. »Dann lassen Sie es mich anders ausdrücken. Unter uns sind Sie also auch der Meinung, daß es dumm ist, den Jappos zu helfen, britische Kanonen oder britische Kriegsschiffe zu kaufen?«
»Es wäre ein Fehler, wenn sie eine vergleichbare Marine hätten…«
»Verheerend, Sir! Total verheerend und dumm!«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
»Gut. Ich möchte gern, daß Sie alle anderen Händler von Ihrer Meinung überzeugen: keine Waffen hier, insbesondere keine Kanonen, und natürlich kein Opium. Unter uns natürlich.«
»Ich werde mich freuen, diese Meinungen vorzutragen, Admiral.«
Ketterer schnaubte. Malcolm wollte aufstehen, da er sich nicht in die Enge treiben lassen mochte. »Einen Augenblick, Mr. Struan, noch etwas anderes, ehe Sie gehen. Eine private Angelegenheit.« Der Admiral wies auf den Umschlag und den Brief auf seinem Schreibtisch. »Das hier. Von Mrs. Struan. Wissen Sie, worum es sich handelt?«
»Ja, ja, ich weiß es.«
Ketterer schob den Brief in die Mitte seines Schreibtischs. »Ihr Noble House ist angeblich das wichtigste in Asien, obwohl man mir sagt, daß Brock’s jetzt dabei ist, Sie zu überholen. Wie auch immer, Sie könnten mit gutem Beispiel vorangehen. Ich möchte gern, daß Sie und Ihre Firma mir in dieser gerechten Sache beistehen. Gerecht, Mr. Struan.«
Malcolm schwieg verärgert; er hatte ausführlich geantwortet und war nicht zu einem weiteren Vortrag bereit.
Spitz sagte Ketterer: »Vertraulich, zwischen Ihnen und mir. Normalerweise nehme ich solche Briefe von Zivilpersonen nicht zur Kenntnis. Es versteht sich von selbst: ›Regeln und Vorschriften der Royal Navy gehören der Royal Navy.‹« Ein Schluck Brandy und ein unterdrückter, mürrischer Rülpser. »Der junge Marlowe hat Sie und… und Ihre Verlobte eingeladen, zu den Probefahrten an Bord der Pearl zu kommen. Dienstag. Für den ganzen Tag.« Seine Augen schauten bohrender. »Nicht wahr?«
»Jawohl, Sir«, murmelte Struan aufgewühlt, da er sich verhört zu haben glaubte.
»Natürlich ist dazu meine Erlaubnis erforderlich.« Der Admiral ließ dies in der Luft stehen und sagte dann: »Übrigens, Mr. Struan, dieses beabsichtigte Duell ist unklug, ja, in der Tat.« Malcolm blinzelte über diesen plötzlichen Themawechsel und versuchte sich zu konzentrieren, während der Admiral fortfuhr: »Wenn dieser Greyforth es auch verdient, so bald wie möglich ins Gras zu beißen, Duelle verstoßen gegen das Gesetz und sind unklug, und Fehler können passieren, schlimme Fehler. Klar?«
»Ja, Sir, danke für den Rat, aber Sie wollten sagen…«
»Ich danke Ihnen, Mr. Struan«, sagte der Admiral und stand auf. »Ich danke Ihnen, daß Sie zu mir gekommen sind. Guten Tag.«
Aufgewühlt rappelte Malcolm sich auf, nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Sie meinen, ich kann…«
»Ich meine nur das, was ich gesagt habe, Sir. Wie Sie mir vertraulich gesagt haben, daß Sie meine Worte beratschlagen werden, so sage ich Ihnen vertraulich, daß ich das beratschlagen werde, was Sie sagen und tun – vor Montag, Mitternacht. Guten Tag.«
Draußen auf der Promenade roch die Luft gut und sauber und unkompliziert, und Malcolm atmete tief ein, bis ihre Frische das Pochen in seinem Kopf und seiner Brust zu beseitigen begann. Erschöpft und froh ließ er sich auf die nächste Bank fallen und starrte die Flotte an, ohne sie zu sehen.
Habe ich Ketterer richtig verstanden, fragte sich Malcolm immer wieder, erneut geblendet von der Hoffnung, Ketterer könne vielleicht, vielleicht bereit sein, Mutters Brief zu vergessen, Marlowe gestatten, uns an Bord einzuladen, und ihm nicht verbieten, uns zu trauen.
»›Unter uns‹, darauf ist Ketterer herumgeritten«, murmelte er vor sich hin, »und ›vertraulich‹ und ›als Gegenleistung‹.« Bedeutet das, daß er Stillschweigen bewahren wird, wenn ich meinen Teil tue? Was in Gottes Namen könnte ich vor Montag nacht tun und sagen, um diesen Schurken zu überzeugen, denn das ist er, ein erpresserisches Schwein ohne Moral!
Unsinn! Es ist ein Geschäft – er hat mir ein Geschäft angeboten, ein quid pro quo –, ein Geschäft, das für mich großartig ist und für ihn nicht schlecht. Ich muß vorsichtig sein, die anderen Händler werden sich nicht auf irgendein freiwilliges Embargo einlassen. Ich muß korrekt sein, weil dieser Schuft klug ist und sich nicht mit bloßen Versprechungen zufriedengeben wird.
Wem kann ich bei dieser neuen Wende im Gewirr meines Lebens vertrauen? Skye? Jamie? Marlowe? Ihm natürlich nicht. Angel? Nein, nicht ihr. Wenn Onkel Chen hier wäre, wäre er derjenige, aber da er nicht hier ist, wer? Niemand. Am besten sagst du es keinem!
Du mußt dies allein tragen – ist es nicht das, was Mutter zufolge Dirk immer über die Stellung des Tai-Pan gesagt hat? »Es bedeutet, allein zu sein und allein Verantwortung zu tragen, das ist die Freude und das Schmerzliche daran.« Was kann ich in bezug auf Kanonen und Gewehre und…
»Tag, Mr. Struan.«
»Oh! Hallo, Mr. Gornt.«
»Sie sahen so traurig aus, daß ich Sie einfach stören mußte.«
»Nein, nicht traurig«, sagte Malcolm müde, »ich denke nur nach.«
»O Verzeihung, in diesem Fall werde ich Sie in Ruhe lassen, Sir.«
»Nein, bitte, setzen Sie sich. Sie sprachen von einem Preis?«
Edward Gornt nickte. »Ich entschuldige mich, daß ich Sie nicht eher aufgesucht habe, Sir, aber Mr. Greyforth wollte… wollte nicht verstehen. Nun stimmt er den Pistolen und einem Schuß aus zwanzig Schritt Entfernung zu.«
»Gut. Und?«
»Und ich habe versucht, ihm das Duell auszureden, aber er sagte: ›Nur, wenn Malcolm Struan sich öffentlich entschuldigt.‹ Etwas in dem Sinne.«
»Gut. Aber die andere Angelegenheit. Hier gibt es keine Wände oder Türen.« Malcolm wies auf die fast menschenleere Promenade. »Der Preis?«
»Ich halte das für einen perfekten Ort, aber wir können nicht zuviel Zeit hier verbringen und müssen vorsichtig sein. Mr. Greyforth könnte uns mit dem Fernglas beobachten.«
»Tut er das?«
»Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich würde darauf wetten.«
»Dann anderswo? Später?«
»Nein, hier ist es gut, aber er ist sehr raffiniert, und ich möchte nicht, daß er argwöhnisch wird. Der Preis: Wenn meine Informationen Ihnen helfen, Morgans Plan zu blockieren…«
»Sie kennen die Details?«
Gornt lachte leise. »O ja, und noch vieles mehr, von dem Morgan oder der alte Brock oder Greyforth nicht wissen, daß ich es weiß.« Er sprach nun noch leiser, seine Lippen bewegten sich kaum. »All dies muß unser beider Geheimnis bleiben, aber der Preis ist, daß Sie Morgan Brock zerbrechen, ihn in den Bankrott treiben oder ins Gefängnis bringen, wenn Sie können – falls es notwendig ist, Tyler das Genick zu brechen, ist es mir auch recht, aber Sie garantieren mir, daß ich aus den Trümmern Brocks fünfzigprozentigen Anteil an Rothwell’s bekomme, frei und unbelastet; daß Sie mir bei der Victoria Bank helfen, das zu bekommen, was notwendig ist, um Jeff Coopers Hälfte aufzukaufen; daß Sie mir zehn Jahre lang nicht anders zusetzen denn als normaler Konkurrent und mir in allen geschäftlichen Dingen den Status einer bevorzugten Nation geben – all das in einem brieflichen Kontrakt, von Ihnen geschrieben und unterzeichnet. Nach zehn Jahren können Sie die Samthandschuhe ausziehen.«
»Akzeptiert«, sagte Malcolm sofort, da er härtere Bedingungen erwartet hatte. »Aber die Bastarde von der Victoria sind nicht unsere Freunde. Brock hat diese Bank ins Leben gerufen und uns immer ausgeschlossen, also ist von da nicht viel Hilfe für uns zu erwarten.«
»Das wird sich bald ändern, Sir. Bald wird der ganze Aufsichtsrat furzen, wenn Sie ihm sagen, er solle furzen. Aber hören Sie, all dies muß natürlich sehr geheim bleiben. Was haben Sie nach dem Duell vor?«
Malcolm zögerte nicht. Er fand es seltsam, daß er diesem Mann so unvermittelt vertrauen konnte, und erzählte ihm davon, daß er an Bord der Prancing Cloud gehen wollte. »Vorausgesetzt, daß ich der Sieger und nicht schwer verletzt bin. Wenn ich einmal in Hongkong bin, kann ich die Wogen glätten«, sagte er zuversichtlich.
»Was ist mit Ihrem Schießen? Sie müssen ja Krücken benutzen.«
»Mit einer kann ich mich ganz gut im Gleichgewicht halten für die Zeit, die notwendig ist.« Malcolm lächelte dünn. »Ich übe.«
»Nun, dann schlage ich eine Täuschung vor, um ein gesetzliches Echo zu vermeiden; in Virginia hat sie gut funktioniert und sollte das hier auch tun, im Falle, daß einer von Ihnen beiden getötet wird: Jeder von Ihnen schreibt dem anderen einen Brief, datiert und überbracht in der Nacht vor dem Duell, in dem steht, daß Sie sich beiderseitig darauf geeinigt haben, daß Sie das Duell absagen und daß Sie morgen bei der Verabredung im Niemandsland als Gentlemen die gleichzeitige gegenseitige Entschuldigung annehmen werden.« Gornt lächelte. »Wir, die Sekundanten, werden bezeugen, daß eine der Pistolen tragischerweise losging, als Sie einander Ihre Waffen zeigten.«
»Eine gute Idee. Hat Norbert zugestimmt?«
»Ja. Ich werde Ihnen seinen Brief am Dienstag bringen. Schicken Sie ihm seinen durch Mr. McFay, aber halten Sie geheim, daß es eine List ist.«
Das Wort ›Dienstag‹ hallte unablässig in Malcolms Kopf wider, aber er zwang sich, nicht daran zu denken. Gornt sagte gerade ganz sachlich: »Nach dem Duell – am besten wäre es, wenn Sie ihn töten und nicht verwunden würden – komme ich mit Ihnen zum Clipper hinaus. Im Austausch gegen den geschriebenen Vertrag werde ich Ihnen die Details darlegen, wie Sie Brock’s finanzielles Sicherheitsnetz vollkommen ruinieren können, mit einem Päckchen beglaubigter Kopien von Briefen und Dokumenten, die für jeden Gerichtshof ausreichen, und anderen, die Ihnen der Victoria gegenüber einen Knüppel in die Hand geben.«
Malcolm spürte das Glühen in seinem tiefen Inneren. »Warum nicht jetzt, warum bis Mittwoch warten?«
»Mr. Greyforth könnte Sie töten«, sagte Gornt ruhig, »dann wäre das Wissen vergeudet, und ich hätte mich grundlos in Gefahr gebracht.«
Nach einer Pause sagte Malcolm: »Sagen wir, er tötet mich oder verwundet mich schwer, wie kommen Sie dann zu der Rache, die Sie anstreben?«
»Ich werde an Mrs. Struan herantreten, Sir, sofort. Ich setze darauf, daß das nicht notwendig sein wird. Ich setze auf Sie, nicht auf Mrs. Struan.«
»Ich hörte, Sie seien kein Spieler, Mr. Gornt.«
»Mit Karten um Geld, nein, Sir, niemals – bei meinem Stiefvater habe ich gesehen, wie müßig das ist. Mit dem Leben? Bis an die Grenze.« Gornt spürte, daß er beobachtet wurde, und sagte leise: »Jemand sieht uns zu.« Er schaute sich um. Es war Angélique, die aus dem Struan-Building auf der anderen Straßenseite trat. Sie winkte. Malcolm winkte zurück und stand auf. Die beiden Männer sahen zu, wie sie näher kam.
»Hallo, Angel«, sagte Malcolm herzlich; die Worte des Admirals tanzten in seinem Kopf. »Darf ich dir Mr. Edward Gornt von Rothwell’s in Shanghai vorstellen? Meine Verlobte, M’selle Richaud.«
»Ma’am!« Gornt nahm ihre Hand und küßte sie galant. »Erfreut, Sie kennenzulernen.«
»Mr. Gornt«, murmelte sie und las in seinen Augen. Eine abrupte, eigenartige Stille breitete sich zwischen den drei Personen aus, und dann begannen sie aus keinem ersichtlichen Grund plötzlich zu lachen.
»Was ist?« fragte sie, und ihr Herz klopfte schneller.
»Joie de vivre«, sagt Gornt.
Sie schaute zu ihm auf. Ihr gefiel, was sie sah, und sie nahm Malcolms Arm, während sie die Begegnung schon in ihrem nächsten Brief schilderte:
»Ich gestehe, liebste Colette, daß ich sie auf der Promenade ausgespäht und so meine beste Haube aufgesetzt und sie überrascht und den Arm meines Malcolm genommen habe (ZUR VERTEIDIGUNG), denn dieser Neuankömmling ist groß und gutaussehend und hat das ungezogenste Funkeln in den Augen, das ich sofort sah, obwohl Malcolm das unmöglich gemerkt haben kann, sonst wäre er eifersüchtiger gewesen als gewöhnlich, der arme Liebling! Ich wollte diesen großen Fremden beiläufig kennenlernen. Er hat einen ganz leichten Südstaaten-Akzent, breite Schultern, schmale Taille, vermutlich Fechter, und ist ein großartiger Tänzer – ich hoffe, er wird ein Freund sein, die brauche ich hier so sehr…«
»Ah, chéri«, sagte sie und fächelte sich gegen die sofortige und angenehme innere Erhitzung, eine unbewußte, katzenhafte Reaktion auf Gornts Männlichkeit. »Entschuldige, ich wollte keine wichtige Konferenz unterbrechen…«
»Das hast du auch nicht, Angel«, sagte Malcolm.
»Ich wollte gerade gehen«, sagte Gornt. Unnötig, seine Bewunderung zu verbergen. »Ich habe mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Ma’am.« Er verbeugte sich. »Guten Tag, Sir, ich melde mich wieder.«
Sie sahen zu, wie er sich entfernte. »Wer ist dieser Mr. Gornt?«
Er sagte es ihr, verriet aber nichts über den wahren Mr. Gornt. Der Gedanke an Dienstag machte ihn benommen.
»Noch Schweinefleisch in schwarzer Bohnensauce, Jüngere Schwester?« fragte Ah Tok, geräuschvoll ein Stück Fleisch kauend.
»Danke.« Ah Soh griff mit ihren Stäbchen über den Tisch, um ihre Schale nachzufüllen, und schob sich dann das Erwählte, eine fritierte Garnele, die sie erspäht hatte, in den Mund. »Bitte fahre fort, Ältere Schwester.«
Die beiden Frauen waren in Ah Toks Zimmer. Ihr Mittagsmahl war aufgetragen, eine frische Kanne Jasmintee stand in Reichweite. »Ayeeyah, es ist sehr schwierig. Illustrious Chen hat keine klaren Anweisungen gegeben.«
»Das sieht ihm gar nicht ähnlich.« Ah Soh nahm noch etwas von den saftigen Rindfleischstücken in Austernsauce. »Das sieht ihm nicht ähnlich, überhaupt nicht.«
»Ich stimme zu, aber seine neue Konkubine, die Hure aus Soo Cho, nimmt gewiß den größten Teil seiner Konzentration in Anspruch.«
»Ayeeyah! Ist es wahr, daß sie vierzehn ist und keine Schamhaare hat?«
Ah Tok nahm ein weiteres Stück Fischkopf und sog genußvoll daran. »Bloß die Knoblauchleute von Chosen haben keine Schamhaare.« Sie spie die Gräten auf den Boden und wählte ein anderes Stück.
»Interessant. Ob es an dem Knoblauch liegt, den sie essen? Darf ich seinen Brief lesen, Ältere Schwester?«
Er lautete:
Sei gegrüßt, Ah Tok, Zweimal Entfernte Sechste Cousine. Du hast sehr gut daran getan, mich sofort zu Rate zu ziehen. Der Korken der Flasche wies klare Spuren von Dunkel des Mondes auf, was der Austreiber von Dog Land in der Östlichen See sein muß. Eine Abtreibung! Die Hure war weise und unweise, sie anzuwenden, der Master weise und unweise, sie anzuraten. Bis wir wissen, ob er die Entscheidung getroffen hat oder sie es ohne sein Wissen tat, darfst du nichts tun. Cousine, belausche ihn im Schlaf – er hat seit Kinderzeiten immer im Schlaf gesprochen –, vielleicht wird er Dir mehr verraten. Weise Ah Soh an, dasselbe zu tun, und seid beide wie Fledermäuse. Gehorcht unbedingt.
»Ayeeyah, was meint er damit, wie Fledermäuse zu sein?« fragte Ah Soh gereizt. »Fledermäuse sind leise, aber sie quieken. Fledermäuse können im Dunklen fliegen, sind aber bei Licht blind, nachts unsichtbar, tagsüber hilflos. Ihr Kot ist wertvoll, aber er stinkt zum Himmel. Was meint er, heja?«
»Augen und Ohren und Nüstern offen, wie eine Fledermaus, und achtgeben, wohin man seinen Unrat fallen läßt!« Ah Tok lachte gackernd. »Zehntausend Tage für Noble House Chen, ohne ihn wären wir nicht sicher gewesen, daß das Jadetor an der Tür meines Sohnes hing!«
»Woher wissen wir, daß er es war?« sagte Ah Soh mit einem kräftigen Rülpser. »Woher wissen wir, daß es der Master war und kein anderer?« Sie senkte die Stimme und schaute sich um, als rechne sie mit fremden Ohren, und Ah Toks Eßstäbchen hielten mitten in der Luft inne. »Einer wie Lange Spitznase, dieselbe Art von fremdem Teufel, zu der auch sie gehört, heja? Die beiden stehen sich so nahe wie Läuse zwischen den Beinen eines Bettlers. Und hat er nicht die Flasche versenkt, alle Beweise ins Meer geworfen, erinnerst du dich?«
Die alte Ah Tok lachte nicht mehr. »Fang-pi!« sagte sie, den seltenen Kraftausdruck benutzend. »Das muß es sein, wovor der Erlauchte Chen uns gewarnt hat! Fledermäuse torkeln im Flug und setzen sich nicht auf den ersten Ast, und selbst dann hängen sie mit dem Kopf nach unten. Er sagt uns, wir sollten herausfinden, welches Yang dieses Yin besessen hat! Ayeeyah, ja, ich stimme zu, es ist möglich, es ist möglich, daß Lange Spitznase meinem Sohn einen grünen Hut aufgesetzt hat!«
»Der Master gehörnt!« Ah Soh richtete die Augen zum Himmel. »Es stimmt, daß Lange Spitznase genug Zeit in ihrem Zimmer verbracht hat, um zu…« Sie keuchte. »Ayeeyah! Erinnere dich, vor Wochen, als sie mich wegschickte und später schrie, weil sie meinte, jemand klettere von außen zu ihrem Zimmer, und dabei war es doch nur der Wind, der an den Läden rüttelte! Ich erinnere mich jetzt, ich war schneller als eine Fledermaus an ihrer Seite, aber Lange Spitznase war bereits da, und alle beide… jetzt, da ich daran denke, fällt es mir ein, alle beide waren bleicher als ein fünf Tage alter Leichnam! War das der Zeitpunkt, als sein Yang…«
»Wann war das, Jüngere Schwester? Der Tag? Wann?«
»Es war der Tag… der Tag, nachdem der Master diese eingeborene Hure aus dem Bordell jenseits des Kanals hatte.«
Beide Frauen begannen in Windeseile zu rechnen. Heute war der fünfte Tag des zwölften Monats. »Das wäre, das wäre der zehnte Monat, achtzehnter oder neunzehnter Tag, Ältere Schwester.«
»Nicht genug, vielleicht nicht ganz genug Zeit, es sei denn, dieses Dunkel des Mondes wird früher geschluckt.«
Abwesend saugte Ah Tok wieder an dem Fischkopf und spuckte dann energisch die Gräten aus. »Sie müssen früher beieinander gelegen haben. Die Hure hatte viele Gelegenheiten, heja? Sie war immer in diesem Barbarenhaus, selbst bevor ihr beide dort wart.«
»Du hast recht, du hast wie üblich recht, Ältere Schwester! Wir müssen sofort Illustrious Chen unterrichten.«
»Aber warum sollte sie ihr Jadetor einem so häßlichen fremden Teufel geben, wenn mein Sohn danach lechzt?«
Ah Soh zuckte die Achseln. »Barbaren! Wer weiß, was sie denken? Du solltest es dem Master sagen!«
Schwach vor Erregung sah Ah Tok nach ihrer Bar. Madeira, Whisky, Brandy. »Wir brauchen Kraft!« Sie wählte den Whisky und goß zwei große Gläser ein. »An die Arbeit! Wir müssen planen, intrigieren und überlegen, wie wir die Hure und ihren Buhlen dazu bringen, die Wahrheit zu offenbaren!«
»Gut, sehr gut! Zusammen werden wir es schaffen!«
»Aber kein Hinweis an meinen Sohn, es wäre nicht weise, wenn wir schmutzige Kunde überbrächten. Bis wir sicher sind.«
Sie stießen mit den Gläsern an. »Bei allen großen und kleinen Göttern, keiner wird meinem Sohn Hörner aufsetzen, ihn den grünen Hut tragen lassen und trotzdem ein langes und glückliches Leben leben!«
»Guten Abend, Pater Leo«, sagte Angélique höflich, kniete nieder und küßte seine Hand. Es fiel ihr schwer, ihren Abscheu vor seinem starken Geruch zu unterdrücken. Sie waren allein in der kleinen Kirche, das Schiff dämmrig erleuchtet; nur ein paar Kerzen brannten, und die untergehende Sonne fiel durch das kleine, kunstlos ausgeführte bunte Glasfenster. Es gab wenig Katholiken in der Niederlassung, die Einnahmen waren spärlich, wenn auch Altar und Kruzifix prächtig aussahen. Draußen wartete Vargas im Sonnenuntergang, um sie zurückzubegleiten.
»Sie wollten mich sehen?« fragte sie unschuldig, da sie wußte, daß sie am Sonntag schon wieder die Messe versäumt hatte. Ihre rosa Haube war sorgfältig gewählt, ebenso der lange Kaschmirschal über ihrem höchst mädchenhaften Nachmittagskleid aus dunkler Seide. »Wie wohl Sie aussehen, Pater.«
»Ich freue mich, Sie zu sehen, Senhorita, mein Kind«, sagte er mit seinem starken portugiesischen Akzent. »Sie waren wieder nicht in der Messe.«
»Es sind die Dämpfe, Pater. Ich erhole mich noch von der Störung… Dr. Babcott hat mir Ruhe angeraten«, antwortete sie, in Gedanken schon dabei, was sie heute abend zum Geburtstagsbankett für den russischen Gesandten anziehen sollte. »Ich bin sicher, nächste Woche wird es mir bessergehen.«
Das freut mich, du junge und gar nicht so schwache Lügnerin, dachte er, angewidert von der Perfidie der Menschheit. Es ist gottlos, nachts zu tanzen und die Füße in die Luft zu werfen und seine unbedeckten unteren Gliedmaßen zu zeigen. »Es macht nichts. Ich werde Ihnen jetzt die Beichte abnehmen.«
Angélique hätte gähnen können, so berechenbar war er. Ergeben folgte sie ihm in den Beichtstuhl, kniete nieder und vollzog die Bewegungen, froh über die Trennwand zwischen ihnen. Sie sagte mechanisch ihre Litanei auf, getröstet durch den Pakt, den sie mit der Mutter Gottes geschlossen hatte.
Wie immer wiederholte sie inbrünstig ihren Code: »…und, Pater, ich vergaß, die Madonna in meinen Gebeten um Vergebung zu bitten.«
Sie erhielt die Absolution schnell und die bescheidene Auflage, ein paar Ave Maria zu beten, und das war ihr nur recht. Sie wollte aufstehen…
»Nun eine private Angelegenheit, mein Kind. Vor zwei Tagen hat Mr. Struan nach mir geschickt und mich gebeten Sie beide zu trauen.«
Sie schnappte nach Luft; dann lächelte sie triumphierend. »O Pater, wie herrlich!«
»Ja, mein Kind, ja, das ist es. ›Bitte trauen Sie uns so bald wie möglich‹, hat der junge Senhor Struan gesagt, aber das ist in der Tat sehr schwierig.« Tag und Nacht hatte er mit dem Problem gerungen. Ein Brief war noch am gleichen Tag an den Bischof von Macao abgegangen, das geistliche Oberhaupt der Katholiken in Asien, in dem er ihn dringend um Rat bar. »Sehr schwierig für uns.«
»Warum, Pater?«
»Weil er kein Katholik ist…«
»Aber er war damit einverstanden, daß unsere Kinder in der Wahren Kirche aufwachsen, er hat es versprochen.«
»Ja, ja, mein Kind, das hat er, das hat er, er hat mir dasselbe gesagt, aber er ist nicht im heiratsfähigen Alter, und Sie sind es auch nicht, aber ich wollte Ihnen insgeheim sagen, daß ich dennoch Seine Eminenz um die Erlaubnis gebeten habe, die Zeremonie zum größeren Ruhme Gottes zu vollziehen – mit oder ohne Zustimmung Ihres Vaters.« Einzelheiten über den Betrug und die Flucht ihres Vaters hatten sich mit Windeseile in der Niederlassung herumgesprochen, waren aber aus Respekt vor ihr und auch vor Struan geheimgehalten worden. »Wenn Seine Eminenz zustimmt, bin ich sicher, daß auch Senhor Seratard, in loco parentis, seine Zustimmung geben wird.«
Die Enge in ihrer Kehle wich nicht. »Wie lange wird es dauern, bis Seine Eminenz antwortet und die Zustimmung erteilt?«
»Bis Weihnachten. Eher, wenn er in Macao und nicht auf Reisen ist, und wenn es der Wille Gottes ist.« Wie üblich saß er von der Trennwand abgewandt, das Ohr jedoch nahe daran, um geflüsterte Vertraulichkeiten zu vernehmen, aber jetzt schaute er durchs Gitterwerk und konnte sie vage sehen.
»Die Angelegenheit, über die ich vertraulich sprechen möchte, ist die Konversion des Senhors.«
Wieder schnappte sie nach Luft. »Er sagte, er würde konvertieren?«
»Nein, nein, er wurde noch nicht erleuchtet, und darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.« Pater Leo beugte sich näher zur Trennwand, genoß ihre Nähe, wurde erstickt von einem Verlangen, das er als unheilig und von Satan gesandt kannte – demselben, das er bei Tag und Nacht auf Knien bekämpfte – und das er unter denselben Qualen bekämpft hatte, solange er zur Kirche gehörte.
Gott, gib mir Kraft, Gott, vergib mir, dachte er fast unter Tränen und wünschte sich, die Hand auszustrecken und ihre Brüste und alles übrige an ihr zu berühren, das durch die Trennwand und ihren Schal und ihre Kleider und den Zorn Gottes verborgen war. »Sie müssen helfen, Sie müssen ihm helfen, den Wahren Glauben anzunehmen.«
Angélique hielt sich so fern wie möglich von der Trennwand. Mit Mühe öffnete sie die Vorhänge, um die Platzangst zu verringern, die sie in diesem schachtelähnlichen Beichtstuhl überkam. Früher war die Beichte nie so gewesen, dachte sie schaudernd. Erst, seit… seit dem, was nie geschehen ist. »Ich will helfen, Pater, so gut ich kann«, sagte sie mit zunehmender Nervosität und schickte sich erneut zum Gehen an.
»Warten Sie!«
Die Heftigkeit in seiner Stimme schockierte sie. »Pater?«
»Bitte… warten Sie, bitte warten Sie, mein Kind«, sagte die Stimme jetzt freundlich, aber die Freundlichkeit war erzwungen, und das erschreckte sie, denn nun war die Stimme nicht mehr die eines Priesters und Unantastbaren an einem geheiligten Ort, sondern die eines Fremden. »Wir müssen über diese Heirat reden, und seine Konversion, mein Kind, und uns vor bösen Einflüssen hüten, ja, das müssen wir, die Konversion ist ein Muß, ein Muß als Vorbereitung auf… auf die Ewigkeit.«
»›Muß‹, Pater?« murmelte sie. »Wollten Sie sagen, ein ›Muß‹ als Vorbereitung auf die Trauung?«
»Auf… auf die Ewigkeit«, sagte die Stimme.
Sie starrte auf den Schatten hinter der Trennwand, sicher, daß er log, entsetzt, daß sie das auch nur denken konnte. »Ich will nach Kräften helfen«, sagte sie, stand auf und rang durch die Vorhänge nach Luft.
Doch er stand ihr im Weg. Sie bemerkte Schweiß auf seiner Stirn und daß er sie an Größe und Umfang überragte. »Es ist seiner… seiner eigenen Rettung wegen. Seiner, mein Kind. Es wäre besser, wenn es vorher geschähe.«
»Pater, wollen Sie damit sagen, daß seine Konversion ein Muß ist, bevor Sie uns trauen?« fragte sie angstvoll.
»Die Bedingungen obliegen nicht mir, Seine Eminenz entscheidet, und wir richten uns danach, wir sind treue Diener!«
»Die Kirche meines Verlobten verlangt nicht, daß ich Protestantin werde, und so kann ich ihn natürlich auch nicht zwingen.«
»Man muß erreichen, daß er die Wahrheit sieht! Dies ist eine von Gott gesandte Gabe, diese Heirat. Protestantisch? Undenkbar, Sie wären für immer verloren, verdammt, exkommuniziert, Ihre ewige Seele zu dauerhafter Qual im Feuer verdammt, verdammt zu brennen, in Ewigkeit zu brennen!«
Sie hielt den Blick gesenkt und konnte kaum zusammenhängend denken. »Für Sie, ja, für ihn… Millionen glauben etwas anderes.«
»Sie sind alle verrückt, verloren, verdammt, und sie werden ewig brennen!« Die Stimme verhärtete sich noch mehr. »Das werden sie! Wir müssen die Heiden bekehren. Dieser Malcolm Struan muß kon…«
»Ich werde es versuchen, auf Wiedersehen, Pater, danke… ich werde es versuchen«, murmelte sie, trat zur Seite und eilte fort. An der Tür drehte sie sich einen Moment um, beugte das Knie und trat hinaus ins Licht. Er stand im Kirchenschiff, den Rücken zum Altar, und seine Stimme hallte die ganze Zeit in den Dachsparren wider: »Seien Sie ein Werkzeug Gottes, bekehren Sie den Heiden; wenn Sie Gott lieben, so retten Sie diesen Mann, retten Sie ihn vor dem Fegefeuer, wenn Sie Gott lieben, dann retten Sie ihn, helfen Sie mir, ihn vor dem Höllenfeuer zu retten, retten Sie ihn zum Ruhme Gottes, Sie müssen… ehe Sie heiraten, retten Sie ihn, lassen Sie uns ihn retten, retten Sie ihn…«
An diesem Abend kam aus dem Wachhaus am Nordtor eine Samurai-Patrouille: zehn Krieger, bewaffnet mit Schwertern und leichten Kampfpanzern, ein Offizier an ihrer Spitze. Er führte sie über die Brücke und passierte die Barriere zur Niederlassung. Ein Mann trug ein schmales Banner mit Schriftzeichen darauf. Die vorangehenden Samurai hielten Fackeln hoch, die seltsame Schatten warfen.
Die High Street und die Uferstraße waren an diesem Abend noch voller Menschen. Händler, Soldaten, Matrosen, Ladenbesitzer, die spazierengingen oder in Gruppen zusammenstanden, schwatzten und lachten, hier und da Betrunkene und ein oder zwei vorsichtige männliche Prostituierte. Unten am Strand hatten ein paar Matrosen ein Feuer angezündet und tanzten angeheitert einen Hornpipe. Ein Transvestit war unter ihnen, und aus der Ferne hörte man die lärmenden Geräusche von Drunk Town.
Die beunruhigenden Gestalten wurden bemerkt. Menschen blieben stehen. Gespräche wurden mitten im Satz unterbrochen. Alle Augen richteten sich nach Norden. Diejenigen, die der Patrouille am nächsten waren, drückten sich aus dem Weg. Nicht wenige tasteten nach einem Revolver und fluchten, daß er nicht in Tasche oder Halfter war. Andere zogen sich zurück, und ein dienstfreier Soldat in einer Gasse nahm die Beine in die Hand, um die Nachtwache der Navy zu rufen.
»Was ist los, Sir?« fragte Gornt.
»Nichts, zumindest vorerst«, sagte Norbert mit grimmigem Gesicht.
Sie befanden sich in einer Gruppe auf der Promenade, waren aber noch ein gutes Stück von den Samurai entfernt, die der sie beobachtenden, schweigenden Menge nicht die geringste Beachtung schenkten, sondern in nachlässiger Haltung und ohne Gleichschritt dahinzogen, wie es bei ihnen der Brauch war. Lunkchurch gesellte sich zu ihnen. »Sind Sie bewaffnet, Norbert?«
»Nein. Sie?«
»Nein.«
»Aber ich bin es, Sir.« Gornt zog eine winzige Pistole. »Aber die wird nicht viel gegen sie ausrichten, falls sie feindselig sind.«
»Nun, junger Mann«, sagte Lunkchurch heiser, »besser als gar nichts.« Er streckte Gornt die Hand hin, ehe er davoneilte. »Barnaby Lunkchurch, erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Gornt, willkommen in Yokopoko.«
Jedermann versuchte, sich leise davonzumachen. Betrunkene waren plötzlich wieder nüchtern. Alle waren sehr auf der Hut, da sie die blitzartige Geschwindigkeit eines Samurai-Angriffs nur zu gut kannten. Norbert hatte schon eine Rückzugslinie gewählt für den Fall, daß sich das als notwendig erweisen sollte. Dann sah er die Nachtwache der Navy im Laufschritt aus einer Seitenstraße kommen, mit schußbereiten Gewehren und einem Sergeant an der Spitze, und entspannte sich. »Jetzt besteht kein Grund mehr zur Sorge. Tragen Sie die immer, Edward?«
»O ja, Sir, immer. Ich dachte, ich hätte es Ihnen gesagt.«
»Nein, haben Sie nicht«, sagte er kurz. »Kann ich sie sehen?«
»Gewiß. Sie ist natürlich geladen.«
Die Pistole war winzig, aber tödlich. Doppelläufig. Zwei Bronzepatronen. Silberbeschlagener Griff. Mit hartem Blick gab er sie zurück. »Raffiniert. Amerikanisch?«
»Französisch. Mein Vater hat sie mir gegeben, als ich nach England ging. Er sagte, er habe sie von einem Spieler gewonnen, das einzige Geschenk, das er mir in meinem Leben gemacht hat.« Gornt lachte leise. Sie beobachteten beide die nahenden Samurai. »Ich schlafe sogar damit, Sir, aber ich habe sie nur einmal abgefeuert. Auf eine Dame, die sich mitten in der Nacht mit meiner Brieftasche davonstahl.«
»Haben Sie sie getroffen?«
»Nein, Sir, das habe ich auch nicht versucht, ich habe nur ihr Haar ein bißchen durcheinandergebracht, um sie zu erschrecken. Eine Dame sollte nicht stehlen, nicht wahr, Sir?«
Norbert grunzte und konzentrierte sich wieder auf die Samurai. Er sah Gornt jetzt in einem neuen, gefährlichen Licht.
Die Samurai-Patrouille ging in der Mitte der Straße. Schildwachen vor den britischen, französischen und russischen Gesandtschaften – den einzigen, die ständig bewacht wurden – spannten, bereits gewarnt, leise ihre Gewehre. »Büchsen spannen! Nicht feuern, Leute, bis ich es sage«, knurrte der Sergeant. »Grimes, gehen Sie Nibs warnen, er ist bei den Russkis, drittes Haus die Straße hinunter, aber unauffällig.«
Der Soldat eilte davon. Die Straßenlaternen an der Promenade flackerten. Alle warteten ängstlich. Der Samurai-Offizier kam mit undurchdringlicher Miene näher. »Gemein aussehender Bastard, was, Sergeant?« flüsterte eine der Schildwachen mit feuchten Händen am Gewehr.
»Sie sind alle gemein aussehende Bastarde. Still jetzt.«
Der Offizier erreichte die britische Gesandtschaft und bellte einen Befehl. Seine Leute blieben stehen und reihten sich vor dem Tor auf, während er vortrat und in gutturalem Japanisch den Sergeant ansprach. Schweigen. Weitere ungeduldige, gebieterische Worte, eindeutig Befehle.
»Was willst du, Cookie?« fragte der einen halben Meter größere Sergeant knapp.
Wieder die häßlichen Sätze, diesmal ärgerlicher.
»Weiß jemand, was er sagt?« rief der Sergeant. Keine Antwort. Dann löste sich Johann, der Dolmetscher, vorsichtig vom Rand der Menge, verbeugte sich vor dem Samurai-Offizier, der die Verbeugung flüchtig erwiderte, und sprach ihn auf holländisch an. Der Offizier antwortete auf holländisch.
Johann sagte: »Er hat einen Brief für Sir William, muß ihn persönlich überbringen.«
»Davon weiß ich nichts, Mister, nicht mit dem verdammten Schwert an seiner Seite.«
Der Offizier wollte zum Tor der Gesandtschaft gehen, und sofort schnappten an den Gewehren die Sicherheitsverschlüsse. Er blieb stehen. Eine wilde Tirade an den Sergeant und die Schildwachen folgte. Alle Samurai zogen die Schwerter ein Stück aus den Scheiden und nahmen Verteidigungshaltung an. Weiter unten in der Straße formierte sich die Navy-Patrouille. Alle warteten gespannt auf den ersten Fehler.
In diesem Augenblick kamen Pallidar und zwei weitere Dragoneroffiziere aus der nahen russischen Gesandtschaft geeilt, in Galauniformen und mit Degen. »Ich übernehme, Sergeant«, sagte Pallidar. »Was ist das Problem?«
Johann sagte es ihm. Pallidar, inzwischen in japanischen Bräuchen gut geübt, ging zu dem Offizier hinüber, verbeugte sich und vergewisserte sich, daß der Offizier sich ebenfalls verbeugte. »Sagen Sie ihm, ich nehme den Brief entgegen. Ich bin Adjutant von Sir William«, übertrieb er.
»Er sagt, es täte ihm leid, sein Befehl sei, den Brief persönlich zu überbringen.«
»Sagen Sie ihm, daß ich autorisiert bin…«
Sir Williams laute Stimme unterbrach ihn. »Captain Pallidar – einen Augenblick! Johann, von wem ist dieser Brief?« Er stand auf der Schwelle des russischen Gebäudes, Sergejew und andere drängten sich hinter ihm in der Tür.
Der Offizier zeigte auf das Banner und sagte barsch weitere Worte, und Johann rief: »Er sagt, er sei vom taikō, aber ich vermute, er meint die roju, die Ältesten. Er hat Befehl, ihn sofort persönlich zu übergeben.«
»In Ordnung, ich nehme ihn an, sagen Sie ihm, er soll herkommen.«
Johann übersetzte. Gebieterisch winkte der Offizier Sir William, zu ihm zu kommen, aber Sir William rief laut, noch schärfer und noch unhöflicher: »Sagen Sie ihm, daß ich beim Dinner bin. Wenn er jetzt nicht sofort kommt, kann er ihn morgen überbringen.«
Johann war zu geübt, um genau zu übersetzen, und gab die Botschaft nur so weiter, daß der Sinn deutlich wurde. Der Samurai-Offizier sog wütend die Luft ein, stampfte dann hinüber zum russischen Tor, ging an den zwei riesigen, bärtigen Schildwachen vorbei und baute sich vor Sir William auf. Eindeutig wartete er darauf, daß dieser sich verbeugte.
»Kerei!« bellte Sir William. Grüßen Sie! Das war eines der wenigen Worte, die zu kennen er sich gestattete. »Kerei!«
Der Offizier errötete, verneigte sich aber automatisch.
Er verneigte sich wie vor einem Gleichgestellten und schäumte noch mehr, als er sah, daß Sir William nur nickte wie einem Untergebenen gegenüber, aber dann dachte er, dieser miese kleine Mann ist der Gai-Jin-Führer, bekannt für eine Wut, die ebenso übel ist wie sein Geruch. Wenn wir angreifen, werde ich ihn persönlich töten.
Er nahm die Rolle heraus, trat vor und überreichte sie, trat zurück, machte eine perfekte Verneigung, wartete, bis diese erwidert worden war, wie grob auch immer, völlig zufrieden, daß er den Feind übervorteilt hatte. Um seine Wut loszuwerden, verfluchte er seine Männer und stapfte davon, als existierten sie nicht. Sie folgten ihm, außer sich vor Wut über die Grobheit der Gai-Jin.
»Wo zum Teufel ist Tyrer?« fragte Sir William.
Pallidar sagte: »Ich werde jemanden schicken, der ihn sucht.«
»Nein, bitten Sie Johann zu mir, wenn Sie so freundlich sein wollen.«
»Nicht nötig, Sir William«, sagte Erlicher, der Schweizer Gesandte. »Wenn es Holländisch ist, kann ich es für Sie lesen.«
»Danke, aber am besten macht es Johann, weil er auch etwas Japanisch kann«, sagte Sir William, der nicht im voraus irgend etwas mit einem Ausländer teilen wollte, vor allem nicht mit einem, der offen eine kleine, aber wachsende und hochspezialisierte Industrie für Kriegsgeräte repräsentierte, die aufgrund der außergewöhnlichen und einzigartigen Qualität ihrer Uhrmacher einen guten Ruf genoß, einem der wenigen Gebiete, auf denen britische Hersteller nicht konkurrieren konnten.
Im Speisesaal, dem größten Raum des Gebäudes, stand ein Tisch für zwanzig Personen, beladen mit feinem Silber. Alle Gesandten waren eingeladen bis auf von Heimrich, der noch immer krank war; Struan und Angélique saßen mit einigen französischen und britischen Offizieren am oberen Ende des Tisches. Hinter jedem Stuhl standen zwei livrierte Diener, weitere servierten. »Kann ich das Vorzimmer benutzen, Graf Sergejew?« fragte Sir William auf russisch.
»Natürlich.« Graf Sergejew öffnete die Tür, wartete einen Augenblick, bis Johann herbeigeeilt war, dann schloß er sie.
»Guten Abend, Sir William«, sagte Johann, erfreut, daß man ihn gerufen hatte. So würde er als erster erfahren, worum sich all das drehte, und könnte fortfahren, dem Gesandten seines Landes auf einträgliche Weise nützlich zu sein. Er erbrach das Siegel der Rolle und setzte sich ebenfalls hin. »Holländisch und Japanisch. Sehr kurz.« Rasch überflog er das Schreiben, runzelte die Stirn, las es noch einmal und lachte dann nervös. »Es ist an Sie adressiert, den britischen Gesandten, und lautet: ›Ich kommuniziere mit Ihnen per Kurier. Nach dem Befehl von Shōgun Nobusada, aus Kyōto empfangen, sind sofort alle Häfen zu schließen, und alle Ausländer werden ausgewiesen und vertrieben, und…‹«
»Vertrieben? Vertrieben, haben Sie gesagt?« Das Brüllen war durch die Tür zu hören, und ein Unbehagen legte sich auf die Dinnergäste.
Johann zuckte zusammen. »Ja, Sir, tut mir leid, das steht hier: ›und vertrieben, und wir brauchen und wünschen keinerlei Handel zwischen Ausländern und unserem Volk. Ich sende Ihnen dies, bevor ich ein sofortiges Treffen befehle, um abschließende Einzelheiten Ihres dringenden Rückzuges aus Yokohama zu besprechen. Hochachtungsvoll.‹«
»Hochachtungsvoll? Gottverfluchte, verdammte Unverschämtheit, bei Gott…«
Die Tirade ging weiter. Als Sir William innehielt, um Luft zu holen, sagte Johann: »Es ist unterzeichnet mit ›Anjo Nori – taikō.‹. Soweit ich das verstehe, Sir William, ist das fast so etwas wie Diktator.«