13
Sonntag, 30. September
Ganz langsam erwachte Malcolm Struan aus dem Schlaf. Seine Sinne sondierten, prüften. Er hatte schon immer viel von seelischem Schmerz verstanden: durch den Verlust von zwei Brüdern und zwei Schwestern; durch den Kummer über die Trunksucht des Vaters und dessen immer schlimmer werdenden Wutausbrüche; durch ungeduldige Lehrer; durch seine zwanghaften Bemühungen, überall zu glänzen, weil er eines Tages der Tai-Pan sein würde; und durch seine nagende Furcht, er werde, so intensiv er sich auch vorbereitete, übte, betete, jeden Tag und jede Nacht arbeitete, unzulänglich bleiben.
Nun aber mußte er die Ebene seines Erwachens so gründlich testen wie nie zuvor, die Tiefe der körperlichen Schmerzen ausloten, die er an diesem Tag als Norm zu ertragen haben würde, ohne die plötzlichen, sengenden Krämpfe, die ohne Vorwarnung auftraten.
Nur ein pochender Schmerz heute, aber besser als gestern. Wie viele Tage waren seit der Tokaidō vergangen? Sechzehn. Der sechzehnte Tag.
Er ließ zu, daß er wacher wurde. Wirklich besser als gestern, jetzt waren Augen und Ohren offen. Das Zimmer lag im frühen Tageslicht. Klarer Himmel, leichter Wind, kein Sturm.
Zwei Tage zuvor hatte sich der Sturm gelegt. Acht Tage lang hatte er mit Taifunstärke geblasen, um dann ebenso schnell abzuziehen, wie er gekommen war. Die Flotte vor Edo hatte sich schon am ersten Tag verteilt und Sicherheit auf hoher See gesucht. Von allen Kriegsschiffen hatte sich das französische Flaggschiff als erstes von den anderen gelöst und gerade noch rechtzeitig den Rückweg nach Yokohama geschafft. Seitdem war kein weiteres Schiff zurückgekehrt. Noch brauchte man sich keine Sorgen zu machen, aber alle beobachteten beunruhigt, hoffend und betend, den Horizont.
Während des Unwetters war hier in Yokohama ein Handelsschiff aufs Land geschleudert und mehrere Gebäude beschädigt worden; zahlreiche Kutter und Fischerboote waren verlorengegangen, im Dorf und in der Yoshiwara waren Zerstörungen angerichtet, im Militärlager auf dem Steilufer viele Zelte davongeweht worden. Tote hatte es jedoch weder dort noch in der Niederlassung gegeben.
Wir haben mehr als Glück gehabt, dachte Struan und konzentrierte sich auf das zentrale Problem seines persönlichen Universums. Kann ich mich aufrichten?
Ein ganz behutsamer, ungeschickter Versuch. Ayeeyah! Schmerzen, aber nicht zu schlimm. Mit beiden Armen stemmte er sich empor, dann saß er, die Hände hinter sich aufgestützt, tatsächlich aufrecht.
Erträglich. Besser als gestern. Nach einer kleinen Weile beugte er sich vor und nahm behutsam sein Gewicht von einem Arm. Immer noch erträglich. Nahm das Gewicht von beiden Armen. Immer noch erträglich. Sehr langsam schlug er die Bettdecke zurück und versuchte, die Füße auf den Fußboden zu setzen. Aber das ging nicht, der stechende Schmerz war viel zu groß. Ein zweiter Versuch, aber auch der mißlang.
Macht nichts, ich versuch’s später noch einmal. So behutsam wie möglich legte er sich wieder zurück. Als seine Mitte von dem Gewicht befreit war und er auf dem Rücken lag, seufzte er vor Erleichterung. »Ayeeyah!«
»Geduld, Malcolm«, predigte Babcott bei seinen drei bis vier täglichen Besuchen ständig.
»Zum Teufel mit der Geduld!«
»Sie haben recht – aber Sie machen sich wirklich gut.«
»Und wann kann ich aufstehen?«
»Sofort, wenn Sie wollen. Aber ich würde es Ihnen nicht raten.«
»Wann?«
»Warten Sie noch etwa zwei Wochen.«
Da hatte er laut geflucht. In mancher Hinsicht jedoch war er sogar froh über den Aufschub. So hatte er etwas mehr Zeit zu überlegen, wie er nun als Tai-Pan mit seiner Mutter, mit Angélique, mit McFay und den drängenden Geschäftsproblemen fertig werden sollte.
»Was ist mit den Waffen für Choshu?« hatte McFay ihn vor einigen Tagen gefragt. »Das wird ein riesiges Geschäft.«
»Ich habe da so eine Idee. Überlassen Sie das mir.«
»Norbert Greyforth wird diese Choshus längst aufgespürt haben und macht ihnen mit Sicherheit ein günstigeres Angebot.«
»Zum Teufel mit Norbert und Brock! Deren Verträge sind nicht so gut wie unsere, und Dimitri, Cooper-Tillman und der größte Teil der anderen amerikanischen Chinahändler sind auf unserer Seite.«
»Nur nicht in Hawaii«, widersprach McFay grimmig.
In ihrem letzten Brief, zehn Tage zuvor – seither gab es keine weiteren Nachrichten, und der zweimal im Monat eintreffende Dampfer wurde erst in fünf Tagen erwartet –, hatte Tess Struan geschrieben…
…die Victoria Bank hat uns hintergangen. Ich vermute, daß Morgan Brock in London von ihr mit großzügigen Kreditbriefen unterstützt wird. Damit hat er heimlich all unsere Hawaii-Agenten ausgekauft oder bestochen, den ganzen Zuckermarkt an sich gerissen und uns vollkommen ausgeschlossen. Schlimmer noch – obwohl ich keine Beweise habe –, es wird gemunkelt, daß er enge Kontakte mit dem Rebellenpräsidenten Jefferson Davis und seinen Baumwollpflanzern unterhält und ihnen das Angebot gemacht hat, die ganze Ernte für ein Termingeschäft mit englischen Spinnereien aufzukaufen – ein Handel, der Tyler and Morgan zu den reichsten Männern Asiens machen würde. DAS DARF NICHT GESCHEHEN! Ich bin am Ende meiner Weisheit. Was meinen Sie, Jamie? Zeigen Sie diese Depesche meinem Sohn zusammen mit derselben dringenden Bitte um Hilfe.
»Wie lautet Ihr Vorschlag, Jamie?«
»Ich habe keinen, Mal… Tai-Pan.«
»Wenn der Handel abgeschlossen wird, ist es das Ende. Angenommen, er ist abgeschlossen – könnten wir die Baumwolle irgendwie abfangen?«
McFay hatte die Augen aufgerissen. »Piraterie?«
»Wenn es nicht anders geht«, hatte Struan gelassen erwidert. »Der alte Brock würde es tun, hat es schon früher getan. Das wäre eine Möglichkeit; die Baumwolle wird mit seinen Schiffen transportiert. Die zweite: Unsere Navy bricht die Blockade der Union. Dann kriegen wir so viel Baumwolle, wie wir wollen.«
»Mag sein, wenn wir der Union den Krieg erklären. Unvorstellbar!«
»Ich bin anderer Ansicht. Mann Gottes, wir sollten Davis zu Hilfe kommen, die Südstaaten-Baumwolle ist unser Lebenssaft. Dann werden die Rebellen siegen, sonst nicht«, hatte Malcolm gesagt.
»Richtig. Aber ebenso sind wir auch vom Norden abhängig. Außerdem hat Mrs. Struan bis jetzt noch keine Beweise.«
»Wie können wir ihm seine Schiffe nehmen? Es muß eine Möglichkeit geben, die Kette zu durchbrechen. Wenn er die Fracht nicht transportieren kann, geht er bankrott.«
»Was würde Dirk tun?«
»Ihn am Lebensnerv treffen«, antwortete Malcolm ohne Zögern.
»Dann müssen wir den finden…«
Was ist Brocks Lebensnerv? fragte er sich abermals, während er still auf seinem Bett lag. Er zwang sich, klar und präzise über dieses Problem und all die anderen nachzudenken. Angélique? Nein, damit werde ich mich später befassen – aber ich weiß, daß ich sie mit jedem Tag mehr liebe.
Zum Glück kann ich jetzt wenigstens Briefe schreiben. Mutter muß ich unbedingt noch einmal schreiben; wenn einer weiß, wo der Lebensnerv sitzt, dann sie. Tyler Brock ist schließlich ihr Vater und Morgan Brock ihr Bruder, aber wie kann sie es wagen, auf Angéliques Familie herabzusehen? Soll ich Angéliques Vater schreiben? Ja, aber noch nicht jetzt.
So viel Post aufzuarbeiten, Bücher aus England zu bestellen, bis Weihnachten ist es nicht mehr lange, der Wohltätigkeitsball im Jockey Club von Hongkong, Struans alljährlicher Ball, muß organisiert werden, die Besprechungen heute: Jamie mindestens zweimal, Seratard heute nachmittag – was will der von mir? Was ist sonst noch für heute geplant? Phillip will nach dem Frühstück zum Plaudern kommen… einen Moment, nein, nein, nicht heute. Sir William hat ihn gestern nach Edo zurückbefohlen, um die Gesandtschaft auf die Verhandlungen mit dem Ältestenrat in zwanzig Tagen vorzubereiten.
»Werden die Verhandlungen tatsächlich stattfinden, Sir William?« hatte er gefragt, als der Gesandte ihn besuchte. Nachdem die Gesandtschaft nicht mehr von der Flotte beschützt wurde und überall ringsum ausgedehnte, wenn auch nicht offen feindselige Samurai-Aktivitäten zu erkennen waren, hatte Sir William es nach ein paar gesichtswahrenden Tagen für richtig befunden, nach Yokohama zurückzukehren, angeblich, um sich auf die Übergabe der Entschädigungssumme vorzubereiten.
»Ich glaube schon, Mr. Struan. Vielleicht nicht pünktlich, aber sicher wird die Zeremonie annähernd zum festgesetzten Zeitpunkt stattfinden, und wir werden einen echten Schritt vorwärts getan haben. Wenn sie die erste Rate von fünftausend Pfund, wie zugesagt, überbringen… nun ja, das wird ein positives Zeichen sein. Übrigens, wie ich hörte, läuft heute einer Ihrer Dampfer nach Hongkong aus. Dürfte ich Sie bitten, daß das Schiff einen Mann aus meinem Stab und einige dringende Post mitnimmt? Meine Frau und meine beiden Söhne werden bald hier eintreffen, deswegen muß ich Vorkehrungen treffen.«
»Selbstverständlich. Ich werde McFay instruieren. Wenn Sie eine Kabine auf einem unserer Schiffe benötigen, um Ihre Familie abzuholen, brauchen Sie es nur zu sagen.«
»Ich danke Ihnen. Wenn sie kommen, möchte ich zwei Wochen Urlaub machen. Man fühlt sich so eingeengt, so eingesperrt hier, finden Sie nicht auch? Ich vermisse das geschäftige Treiben von Hongkong, das ist eine Stadt! Obwohl die Leute in Whitehall sie überhaupt nicht zu schätzen wissen. Hier und da ein gutes Essen mit viel Fleisch, ein Spiel Cricket oder Tennis, ein Theater- oder Opernbesuch und ein paar Tage beim Pferderennen würden mir schon gefallen. Wann werden Sie zurückfahren?«
Ja, wann?
Die Nachricht von unserem Tokaidō-Abenteuer muß vor nahezu einer Woche dort eingetroffen sein – vorausgesetzt, der Postdampfer hat den Sturm überstanden. Mutter wird Zustände gekriegt haben, sich nach außen hin aber nichts anmerken lassen. Wird sie mit dem erstbesten Schiff hierherkommen? Möglicherweise, aber jemand muß sich um das Hauptbüro kümmern – und um Emma, Rose und Duncan. Da Vater tot ist und ich nicht dort sein kann, kann sie unmöglich achtzehn Tage lang wegbleiben. Und selbst wenn sie bereits an Bord ist, brauche ich mindestens drei bis vier Tage, um meine Verteidigung aufzubauen. Seltsam, sie als potentielle Feindin zu betrachten, und wenn nicht Feindin, so doch nicht länger Freundin. Vielleicht aber ist sie doch noch meine Freundin, das war sie immer, wenn auch distanziert, weil sie sich viel um Vater gekümmert und für uns nur sehr wenig Zeit übrig gehabt hat.
»Mein Sohn, wie könnte ich jemals deine Feindin sein?«
Erstaunt sah er sie an seinem Bett stehen, den Vater ebenfalls, und das war merkwürdig, denn er erinnerte sich genau, daß sein Vater tot war, aber das schien keine Rolle zu spielen, rasch aus dem Bett, ohne daß es schmerzte, und unter fröhlichem Geplauder mit ihnen im Kutter quer durch den Hafen von Hongkong, überall Sturmwolken, während beide respektvoll zuhörten und seine klugen Pläne guthießen und Angélique in durchsichtigem Gewand mit lockenden, unbedeckten Brüsten im Heck saß, seine Hände auf ihr und jetzt tiefer, nunmehr alles unbedeckt, ihr Körper preßte sich an den seinen…
»Malcolm?«
Erschrocken fuhr er auf. In einem blauen kostbaren Seidenmorgenrock stand Angélique lächelnd an seinem Bett. Der Traum löste sich auf, und nur die Drohung blieb und die Verheißung ihres Körpers, die noch in seinem Unterbewußtsein pulsierte. »Ich… Ich habe geträumt, mein Liebling. Von dir.«
»Ach ja? Was denn?«
Stirnrunzelnd versuchte er sich zu erinnern. »Ich weiß es nicht mehr«, gestand er dann und sah lächelnd zu ihr empor. »Nur, daß du wunderschön warst. Ich liebe deinen Morgenmantel.«
Fröhlich wirbelte sie herum, damit er sie bewundern konnte. »Der ist von dem Schneider, den du mir durch Jamie vermittelt hast. Mon Dieu, Malcolm, ich finde ihn wunderbar – vier Kleider habe ich bestellt, ich hoffe, das ist in Ordnung… Ach, ich danke dir!« Sie beugte sich herab und gab ihm einen Kuß.
»Einen Moment, Angélique, warte! Nur einen Moment. Sieh mal!« Vorsichtig richtete er sich auf, ignorierte den Schmerz und streckte die Hände nach ihr aus.
»Aber das ist ja wundervoll, chéri«, sagte sie glücklich und ergriff seine Hände. »Ich glaube, Malcolm, von nun an sollte ich mich wohl ständig von einer Anstandsdame begleiten lassen und mich nicht mehr allein in deinem Schlafzimmer aufhalten!«
Lächelnd trat sie näher, legte ihm behutsam die Hände auf die Schultern, ließ zu, daß er sie mit den Armen umschlang, und küßte ihn. Sein Kuß war leicht, verheißungsvoll und leugnete seine Gier nach mehr nicht. Unschuldig küßte sie ihn aufs Ohr; dann richtete sie sich auf und duldete, daß er den Kopf an ihre Brust legte, weil sie diese intime Geste ebensosehr genoß wie er. Weiche Seide an seiner Wange, mit dieser unheimlichen, ganz speziellen Wärme.
»Sag, Malcolm, hast du das ernst gemeint, als du sagtest, daß du mich heiraten willst?« Sie spürte, wie seine Arme sie fester packten und er vor Schmerz zusammenzuckte.
»Selbstverständlich. Das habe ich dir doch immer wieder gesagt.«
»Meinst du, daß deine Eltern, pardon, deine Mutter, daß sie damit einverstanden ist, ja? O Gott, ich hoffe es ja so sehr.«
»Ja, o ja, das wird sie sein, selbstverständlich wird sie das.«
»Darf ich also an Papa schreiben? Ich möchte es ihm so gern mitteilen.«
»Natürlich. Schreib du nur, wenn du das willst«, antwortete er kehlig. Dann küßte er, von ihrer liebevollen Zuneigung und seinem unkontrollierbaren Verlangen hingerissen, die Seide, und noch einmal, fester, und hätte fast laut geflucht, als er ihr Ausweichen spürte, bevor es tatsächlich erfolgte. »Verzeih«, murmelte er leise.
»Kein Grund für ›Verzeih‹ und angelsächsische Schuldgefühle, mein Liebling, nicht bei uns«, gab sie zärtlich zurück. »Ich begehre dich auch.« Dann wechselte sie jedoch, ihrem Plan folgend, urplötzlich die Stimmung und gewann die Selbstbeherrschung zurück. »Jetzt werde ich Florence Nightingale spielen.«
Sie schüttelte die Kopfkissen auf und machte sich daran, sein Bett zu richten. »Heute abend findet ein französisches Dîner statt, mit M’sieur Seratard als Gastgeber, und für morgen abend hat er eine Soirée arrangiert. André Poncin wird Beethoven auf dem Klavier spielen – den mag ich viel lieber als Mozart –, außerdem Chopin und ein Stück von einem jungen Mann namens Brahms.« Eine Kirchenglocke begann zum Frühgottesdienst zu rufen, unmittelbar gefolgt vom lieblicheren und melodiöseren Geläut der katholischen Kirche. »So«, sagte sie und half ihm fürsorglich, sich bequem auszustrecken. »Jetzt werde ich Toilette machen, und nach der Messe, wenn du auch Toilette gemacht hast, werde ich wiederkommen.«
Er hielt ihre Hand. »Du bist so wundervoll. Ich liebe d…« Unvermittelt sahen beide zur Tür, weil jemand die Klinke bewegte. Aber der Riegel war vorgelegt.
»Das habe ich getan, während du schliefst.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. Wieder wurde die Klinke bewegt. »Die Diener kommen immer herein, ohne anzuklopfen. Ich muß ihnen endlich mal eine Lektion erteilen!«
»Mass’er!« rief der Diener draußen. »Tee-ah!«
»Sag ihm, er soll weggehen und in fünf Minuten wiederkommen.«
Struan, von ihrem Glück angesteckt, rief den Befehl auf kantonesisch; gleich darauf hörten sie, wie der Mann schimpfend davonging.
Sie lachte. »Du mußt mir Chinesisch beibringen.«
»Ich werd’s versuchen.«
»Wie heißt ›Ich liebe dich‹?«
»Für Liebe gibt es kein Wort, nicht wie bei uns.«
Ein Stirnrunzeln verdunkelte ihre Miene. »Wie traurig.«
Sie lief zur Tür, entriegelte sie, warf ihm eine Kußhand zu und verschwand in ihrer eigenen Suite.
Sehnsüchtig betrachtete er die Tür. Dann hörte er, wie die Glocken ihr Geläut veränderten, schneller wurden, dringender: Messe.
Sein Herz verkrampfte sich. Daran habe ich nicht gedacht – daß sie katholisch ist. Mutter ist streng anglikanisch, zweimal an jedem Sonntag gingen wir gemeinsam mit jeder anderen anständigen Familie in Hongkong in die Kirche.
Katholisch?
Spielt keine Rolle, mir… macht es nichts; ich muß sie haben, sagte er sich, und seine gesunde, hungrige Sehnsucht nach ihr pulsierte, bis der Schmerz schwand. »Ich muß!«
An jenem Nachmittag stellten die vier schwitzenden japanischen Träger die mit Eisenbändern beschlagene Truhe ab, aufmerksam beobachtet von drei unwichtigen Bakufu-Beamten, Sir William, den Dolmetschern, einem Offizier des Rechnungsbüros der Army, dem Gesandtschafts-Geldwechsler, einem Chinesen und Vargas, der ihn beaufsichtigte.
Sie befanden sich im Hauptkonferenzsaal der Gesandtschaft; die Fenster standen offen, und Sir William vermochte sein strahlendes Lächeln kaum zu unterdrücken. »Sagen Sie ihnen, sie sollen die Kiste aufmachen, Johann.«
Umständlich zog einer der Beamten einen schweren Schlüssel hervor und öffnete die Truhe. Sie war gefüllt mit mexikanischen Silberdollars, ein paar Tael Goldbarren – Gewicht etwa eineindrittel Unzen – und etwas Silber.
»Fragen Sie, warum die Entschädigung nicht wie vereinbart ausschließlich in Gold ausgezahlt wird.«
»Der Beamte sagt, sie hätten so schnell nicht genug Gold auftreiben können, aber das seien saubere Mex-Dollars, also offizielle Währung, und Sie möchten doch bitte eine Quittung ausschreiben.« ›Saubere‹ Münzen hieß, daß sie nicht, wie allgemein üblich, abgeschabt oder beschnitten waren, um an die Vertrauensseligen abgeschoben zu werden.
»Fangen Sie an zu zählen.«
Munter kippte der Geldwechsler den Inhalt auf den Teppich. Sogleich entdeckte er eine beschnittene Münze, Vargas eine zweite und eine dritte. Diese wurden beiseite gelegt. Alle starrten auf den Teppich, auf die sauber geordneten, wachsenden Münzstapel. Fünftausend Pfund Sterling war eine immense Summe, verglichen mit dem Gehalt eines Dolmetschers von vierhundert im Jahr, eines Geldwechslers von einhundert (obwohl ein kräftiger Prozentsatz von allem, was durch seine Hände ging, an ihnen kleben blieb), eines Matrosen von sechs und eines Admirals von sechshundert Pfund pro Jahr.
Das Zählen war schnell erledigt. Beide Geldwechsler kontrollierten zweimal das Gewicht jedes einzelnen der kleinen Goldbarren, sodann das Gewicht eines jeden Stapels beschnittener Münzen und benutzten anschließend einen Abakus, um nach dem gegenwärtigen Wechselkurs die Gesamtsumme auszurechnen.
»Es sind viertausendundvierundachtzig Pfund, sechs Shilling und sieben Pence Farthing in sauberen Münzen, Sir William«, sagte Vargas, »fünfhundertzwanzig Pfund in Gold, zweiundneunzig Pfund sechzehn in beschnittenen Münzen, also insgesamt viertausendsechshundertundsiebenundneunzig Pfund, zwei Shilling und sieben Pence Farthing.«
»Verzeihung, acht Pence, Mass’er.« Der Chinese mit dem langen, dicken Zopf verneigte sich mehrfach. Diese kleine, gesichtswahrende Korrektur war im voraus mit Vargas abgesprochen worden, denn der Betrag, den sein portugiesischer Kollege als ihre Vergütung von zweieinhalb Prozent errechnet hatte – einhundertsiebzehn Pfund, acht Shilling und Sixpence für beide zusammen –, war zwar weniger als das, was er selbst herausgeschlagen hätte, für die Arbeit einer halben Stunde jedoch nicht zu verachten.
»Vargas«, sagte Sir William, »packen Sie alles in die Truhe zurück und geben Sie ihnen eine Quittung mit dem Vermerk, daß alles, was zuwenig gezahlt wurde, auf die letzte Teilzahlung aufgeschlagen wird. Johann, danken Sie ihnen und erklären Sie, daß wir den vollen Betrag in Gold in neunzehn Tagen erwarten.«
Johann gehorchte. Sofort setzte der andere Dolmetscher zu einer langen Erklärung an. »Sie bitten um einen Aufschub, Sir, und…«
»Kein Aufschub.« Sir William seufzte und machte sich auf eine weitere Stunde gefaßt. Er schloß die Augen, bis er zu seinem Erstaunen hörte, daß Johann sagte: »Sie sind plötzlich zum springenden Punkt gekommen, Sir. Es geht um das Treffen in Edo, Sir. Sie bitten, es um weitere dreißig Tage aufzuschieben, so daß es fünfzig Tage von heute an sind… Ihre genauen Worte lauten: Dann wird der Shōgun aus Kyōto zurück sein, und er hat den Ältestenrat angewiesen, die ausländischen Gesandten zu informieren, daß er ihnen an dem Tag eine Audienz gewähren würde.«
»Um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen«, rief Sir William: »Lim!« Augenblicklich war der Diener zur Stelle. »Tee!«
Innerhalb von Sekunden kamen die Tabletts. Dazu Zigarren, Schnupf- und Pfeifentabak. Bald war der Raum von Rauch erfüllt, und jedermann hustete, während Sir William seine Optionen erwog.
Zunächst und vor allem habe ich es vermutlich mit rangniederen Beamten zu tun, daher wird über alle Vereinbarungen nochmals verhandelt werden müssen. Zweitens werden die fünfzig Tage ohnehin auf zwei Monate, vielleicht sogar auf drei ausgedehnt werden, aber wenn wir eine Audienz beim Allerhöchsten – natürlich unter britischer Leitung – bekommen, werden wir einen dauerhaften Schritt vorwärts getan haben, im Grunde ist es mir gleichgültig, ob der Aufschub drei oder sogar vier Monate beträgt. Bis dahin habe ich Lord Russells Zustimmung zum Krieg, werden Verstärkungen aus Indien und Hongkong unterwegs sein, wird der Admiral seine verdammte Vollmacht haben, um Edo, wenn es denn sein muß, einzunehmen, zu halten und zu befestigen.
Natürlich könnte ich sagen, laßt uns die Zusammenkunft durchführen wie geplant und erst anschließend den Shōgun treffen. Das wäre am besten, aber ich habe das Gefühl, daß sie nichts gegen den Wunsch dieses geheimnisvollen Shōgun tun und sich irgendwie herauswinden und uns wieder mal reinlegen werden.
»Der Sprecher sagt, da alles abgemacht ist, werden sie sich verabschieden«, erklärte Johann.
»Gar nichts ist abgemacht. Ein Aufschub von dreißig Tagen ist aus vielerlei Gründen nicht möglich. Wir haben bereits eine Zusammenkunft mit dem Ältestenrat arrangiert, die auch wie geplant stattfinden wird, und wir würden uns freuen, zehn Tage später den Shōgun kennenzulernen.«
Nach einer Stunde, ausgefüllt mit eingesogenem Atem, entsetztem Schweigen und barschem Angelsächsisch, ließ sich Sir William überreden und erreichte seinen Kompromiß: Die Zusammenkunft mit dem Ältestenrat würde stattfinden wie geplant, das Treffen mit dem Shogun zwanzig Tage danach.
Wieder allein mit Sir William, sagte Johann: »Sie werden sich nicht daran halten.«
»Ich weiß. Macht nichts.«
»Sir William, mein Vertrag läuft in zwei Monaten aus. Ich werde ihn nicht erneuern.«
»Ich kann Ihre Dienste noch mindestens sechs Monate lang nicht entbehren«, entgegnete Sir William scharf.
»Es wird Zeit, daß ich heimkehre. Hier wird es bald zu Blutvergießen kommen, und ich möchte nicht, daß mein Kopf auf einem Pfahl landet.«
»Ich werde Ihr Gehalt um fünfzig Pfund pro Jahr erhöhen.«
»Es geht mir nicht ums Geld, Sir William. Ich bin müde. Achtundneunzig Prozent all dieses Geredes ist Scheiße. Ich habe nicht mehr Geduld genug, ein Weizenkorn in einem Faß voll Dung zu suchen!«
»Ich brauche Sie noch für diese beiden Besprechungen.«
»Sie werden niemals stattfinden. Etwas über zwei Monate noch, dann bin ich fort, das genaue Datum steht im Vertrag. Tut mir leid, Sir William, aber einmal muß Schluß sein, und jetzt werde ich mich betrinken.« Damit ging er hinaus.
Sir William begab sich in sein Büro, trat ans Fenster und suchte den Horizont ab. Die Sonne ging gerade unter. Und nirgends eine Spur von der Flotte. Mein Gott, ich hoffe, sie sind in Sicherheit. Ich muß Johann irgendwie zurückhalten. Tyrer braucht noch mindestens ein Jahr, bis er so weit ist. Wen könnte ich nehmen, dem ich vertrauen kann? Verdammt!
Da der Schein der untergehenden Sonne den kärglich eingerichteten Raum nicht ausreichend beleuchtete, entzündete er eine Öllampe und stellte sorgfältig den Docht ein. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Depeschen, sein Exemplar von All the Year Round – längst von vorn bis hinten gelesen –, sämtliche Zeitungen vom letzten Postdampfer, mehrere Exemplare von Illustrated London News und Punch. Er griff nach dem Vorausexemplar von Turgenjews Väter und Söhne auf Russisch, das ihm ein Freund am Hof von St. Petersburg geschickt hatte, begann zu lesen, vermochte sich nicht zu konzentrieren, legte das Buch beiseite und begann das zweite Schreiben dieses Tages an den Gouverneur von Hongkong, in dem er Einzelheiten der Verhandlungen von heute mitteilte und um Ersatz für Johann bat. Dann kam lautlos Lim herein und schloß die Tür hinter sich.
»Ja, Lim?«
Lim trat an den Schreibtisch, zögerte; dann senkte er die Stimme. »Mass’er«, sagte er vorsichtig, »höre Ärger, bald Ärger Edo Big House, viel Ärger.«
Sir William blickte zu ihm auf. Big House, so nannten die chinesischen Diener die Gesandtschaft in Edo. »Was für Ärger?«
Lim zuckte die Achseln. »Ärger.«
»Wann Ärger?«
Wieder zuckte Lim die Achseln. »Whisk’y Wasser, heya?«
Sir William nickte nachdenklich. Von Zeit zu Zeit pflegte ihm Lim Gerüchte zuzutragen, und es war unheimlich, wie oft er recht hatte. Er beobachtete, wie der Chinese zum Sideboard hinüberging und ihm den Drink genauso mixte, wie er es liebte.
Phillip Tyrer und der Captain im Kilt beobachteten denselben Sonnenuntergang von einem der oberen Fenster der Gesandtschaft in Edo aus. Dunkelrote, orangefarbene und braune Töne am leeren Horizont, untermischt mit einem Streifen Blau über dem Meer. »Werden wir morgen gutes Wetter haben?«
»Ich kenne mich mit dem Wetter hier nicht so gut aus, Mr. Tyrer. Wenn wir in Schottland wären, könnte ich es Ihnen sagen.« Der Captain, ein kleiner, dreißig Jahre alter Mann mit sandfarbenem Haar, lachte. »Regen mit vereinzelten Schauern… aber, och ay, das ist gar nicht so schlecht.«
»Ich bin noch nie in Schottland gewesen, aber beim nächsten Urlaub werde ich hinfahren.« Bei der Erinnerung an Sir Williams Zorn machte sich sein Magen bemerkbar. »Und wann kehren Sie in die Heimat zurück?«
»Vielleicht nächstes Jahr, vielleicht übernächstes. Dies ist erst mein zweites Jahr.« Sie richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Platz unten. Vier Highlander und ein Sergeant kamen durch die Reihen der postierten Samurai den Hang heraufmarschiert und passierten dann das Eisentor. Sie kehrten von einer Routine-Patrouille zur Pier zurück, wo ein Detachement Marinesoldaten sowie ein Kutter postiert waren. Die Samurai waren wie immer da, unterhielten sich oder gruppierten sich um nahe Feuer, die entzündet wurden, wenn es kalt wurde, waren ständig in Bewegung. Niemand, weder Soldat noch Gesandtschaftsangehöriger, war am Betreten oder Verlassen des Grundstücks gehindert worden, doch alle mußten sich diesen durchdringenden, aber stets wortlosen Blicken aussetzen.
»‘tschuldigen Sie, ich werde mich beim Sergeant für alle Fälle vergewissern, daß unser Kutter da ist, die Wachtposten kontrollieren und alles für die Nacht abschließen. Dinner um sieben, wie gewöhnlich?«
»Ja.« Als er allein war, unterdrückte Tyrer ein Gähnen, reckte sich und bewegte den Arm, um die leichten Schmerzen zu lindern. Seine Wunde heilte zufriedenstellend, für eine Schlinge gab es keinen Grund mehr. Ich hab verdammtes Glück gehabt, dachte er, bis auf Wee Willie. Verflucht sei der Kerl, daß er mich hierhergeschickt hat, ich soll hier zum Dolmetscher ausgebildet werden und nicht zum Handlanger. Verdammt, verdammt, verdammt. Und jetzt werde ich Andrés Konzert verpassen, auf das ich mich so sehr gefreut habe. Angélique wird sicher auch da sein.
Die Gerüchte über ihre heimliche Verlobung hatten sich in Windeseile in der Niederlassung verbreitet. Auf gelegentliche Andeutungen Struan oder ihr gegenüber hatte es weder Verneinungen noch Bestätigungen gegeben, nicht einmal den kleinsten Hinweis. Im Club standen die Wetten zwei zu eins, daß die Gerüchte stimmten, zwanzig zu eins, daß die Heirat niemals stattfinden werde: »Struan ist schwer krank, sie ist katholisch, und du kennst doch seine Mum, Jamie!«
»Akzeptiert! Es geht ihm jeden Tag besser, und du kennst ihn nicht so gut wie ich. Zehn Guineas gegen zweihundert.«
»Nun, Charlie – was wettest du, daß sie was im Ofen hat?«
»Angel Tits ist doch keine Nutte, Mann!«
»Tausend zu eins?«
»Abgemacht… eine Goldguinea.«
Zu Tyrers und Pallidars Mißvergnügen gab es tagtäglich neue, detailliertere und persönlichere Wetten. »Diese Kerls hier kommen anscheinend allesamt aus der Gosse!«
»Sie haben natürlich recht, Pallidar. Eine miese Bande!«
Während derart intime Spekulationen über Struan und Angélique die Runde machten, wurde noch mehr über das Ausmaß des Sturms und darüber gemutmaßt, daß die Flotte sich in großen Nöten befinde. Auch die japanischen Kaufleute waren nervöser als sonst und flüsterten sich Gerüchte über Aufstände in ganz Japan zu sowie Behauptungen, der geheimnisvolle Mikado, angeblich Hohepriester aller Japaner, der in Kyōto residierte, habe allen Samurai befohlen, Yokohama anzugreifen.
»Absoluter Blödsinn, wenn du mich fragst«, beruhigten die Westler einander, aber dennoch wurden immer mehr Gewehre gekauft. Drunk Town, so hieß es, gleiche einem schwer bewaffneten Heerlager.
Dann war, wenige Tage zuvor, ein Akt der Gewalt verübt worden: Ein amerikanisches Handelsschiff, vom Sturm arg mitgenommen, hatte sich mühsam nach Yokohama hineingeschleppt. Mit einer Ladung Silber, Munition und Waffen, Opium, Tee und allgemeinen Handelsgütern auf der Fahrt von Shanghai nach den Philippinen, war es in der Shimonoseki-Straße von Küstenbatterien beschossen worden.
»Den Teufel wurdet ihr!« brüllte jemand inmitten der allgemeinen Explosion empörter Wut im Club.
»Allerdings wurden wir! Dabei waren wir ganz friedlich. Diese Choshu-Schweine waren verdammt präzise – welcher Wahnsinnige hat ihnen die Kanonen verkauft? Hat unsere Bramsegel weggerissen, bevor wir wußten, wie uns geschah, und Ausweichmanöver einleiten konnten. Gewiß, wir haben das Feuer erwidert, aber wir hatten nur zwei von diesen gottverdammten Fünfpfündern. Ungefähr zwanzig Geschütze haben wir gezählt.«
»Mein Gott, mit zwanzig Kanonen und erfahrenen Kanonieren könnte man die Shimonoseki-Straße mühelos sperren, und wenn sie das tun, sitzen wir wirklich in der Scheiße. Das ist der einzig sichere Weg hier raus.«
»Ay! Ohne die Binnengewässer geht’s einfach nicht, bei Gott!«
»Wo zum Teufel steckt die Flotte? Die könnte die Batterien doch lahmlegen! Was soll aus unserem Handel werden?«
»Ay, wo ist die Flotte? Hoffentlich in Sicherheit.«
»Und wenn nicht?«
»Dann, Charlie, werden wir wohl eine andere kommen lassen müssen…«
Idioten, dachte Tyrer, die denken immer nur an dasselbe: die Flotte, Saufen und Geld.
Zum Glück hatte der französische Admiral André mitgebracht. Ich danke Gott für André, obwohl er flatterhaft und seltsam ist, aber das kommt nur daher, daß er Franzose ist. Durch ihn besitze ich jetzt schon zwei Übungshefte voll japanischer Wörter und Redensarten, ist mein Tagebuch vollgestopft mit einer Fülle von Folklore, und wenn wir wieder in Yokohama sind, habe ich eine Verabredung mit einem Jesuiten. Großartige Fortschritte, es ist so wichtig für mich, daß ich schnell lerne – und das, auch ohne an die Yoshiwara zu denken.
Drei Besuche. Die ersten beiden mit Fremdenführer, der dritte allein.
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, daß Sie mir so viel Zeit widmen und so freundlich helfen. Und wegen heute abend – das werde ich Ihnen niemals vergelten können, niemals!«
Das war nach dem ersten Besuch.
Nervös, schwitzend und stumm vor Erregung, nach außen aber Mannhaftigkeit vortäuschend, hatte er sich mit André gegen Abend dem fröhlichen Strom der Männer angeschlossen, die von der Niederlassung aus der Yoshiwara zustrebten, vor den Samurai-Wachen höflich den Zylinder gelüftet und dafür oberflächliche Verneigungen entgegengenommen, die Brücke zum Paradies überquert und durch die hohen Tore im Holzzaun die Vorstadt betreten.
»Yoshiwara heißt ›Ort der Schilfrohre‹«, erklärte André aufgekratzt. »So hieß ein Stadtviertel in Edo, ein trockengelegter Sumpf, wo Shōgun Toranaga vor zweieinhalb Jahrhunderten das erste Bordellviertel erbauen ließ. Bis dahin waren die Bordelle überall verteilt. Seitdem, so heißt es, verfügen alle Groß- und Kleinstädte über ganz ähnlich abgeschlossene Viertel, die alle amtlich zugelassen und kontrolliert sind. Die meisten nennen sich ebenfalls Yoshiwara. Sehen Sie das da?«
Über dem Tor waren elegante Schriftzeichen in das Holz gebrannt. »Das heißt: Die Lust drängt, dagegen muß etwas getan werden.«
Tyrer stieß ein nervöses Lachen aus. In- und außerhalb des Tores standen zahlreiche Wachen. Am Abend zuvor, im Club, als André sich erboten hatte, ihn zu begleiten, hatte er nebenbei erwähnt, ein Händler habe ihm erzählt, die Wachen seien dort nicht etwa, um für Ruhe zu sorgen, sondern vor allem, um zu verhindern, daß die Huren flohen. »Dann sind sie im Grunde doch alle Sklavinnen, nicht wahr?« Zu seinem Schrecken war Poncin die Zornesröte ins Gesicht gestiegen.
»Mon Dieu, Sie dürfen diese Mädchen niemals als Huren sehen oder bezeichnen – nicht so, wie wir dieses Wort verstehen. Sie sind keine Sklavinnen. Einige von ihnen sind für eine Anzahl von Jahren vertraglich gebunden, viele fast noch als Kinder von ihren Eltern verkauft worden – ebenfalls für eine Anzahl von Jahren –, doch diese Verträge wurden amtlich gebilligt und registriert. Sie sind keine Huren, sie sind Damen der Weidenwelt, vergessen Sie das nie! Damen!«
»Es tut mir leid, ich…«
Aber André hatte ihm nicht zugehört. »Einige von ihnen sind Geishas – Künstlerinnen; sie sind dazu ausgebildet, die Männer zu unterhalten, zu singen, zu tanzen, alberne Spielchen zu spielen, nicht aber fürs Kopfkissen. Die übrigen, mon Dieu, ich hab’s Ihnen gesagt: Betrachten Sie sie niemals als Huren, betrachten Sie sie als Freudenmädchen, im Laufe vieler Jahre dazu ausgebildet, Ihnen Vergnügen zu bereiten.«
»Verzeihung, das wußte ich nicht.«
»Wenn Sie sie richtig behandeln, werden sie Ihnen Freude schenken, auf jede nur erdenkliche Art – wenn sie das wollen –, und wenn die Geldsumme, die Sie ihnen geben, korrekt ist. Sie geben ihnen Geld, das nicht von Bedeutung ist, sie geben Ihnen ihre Jugend. Es ist ein ungleiches Geschäft.« André sah ihn merkwürdig an. »Sie geben Ihnen ihre Jugend und verstecken die Tränen, die Sie auslösen.« Unvermittelt rührselig, kippte er seinen Wein und starrte das Glas an.
Während Tyrer ihre Gläser auffüllte, ärgerte er sich darüber, daß er das Gefühl der lässigen Freundschaft, einer für ihn wertvollen Freundschaft, verscheucht hatte. Er schwor sich, in Zukunft vorsichtiger zu sein, und fragte sich, warum der Freund plötzlich so wütend geworden war. »Tränen?«
»Sie haben kein gutes Leben, aber es ist auch nicht immer schlecht. Für einige kann es fabelhaft sein. Die schönsten und vollkommensten werden berühmt, werden sogar von den bedeutendsten Daimyos – Königen – im Land bemüht; sie können in hohe Stellungen heiraten, reiche Kaufleute ehelichen, ja sogar Samurai. Nur unsere Damen der Weidenwelt nicht, denn die sind nur für uns Gai-Jin da.« Voll Bitterkeit fuhr André fort: »Für sie gibt es keine andere Zukunft, als hier ein weiteres Haus zu eröffnen, Saké zu trinken und andere Mädchen einzustellen. Mon Dieu, Sie werden sie anständig behandeln, denn wenn sie erst hier sind, sind sie in den Augen aller Japaner verseucht.«
»Das tut mir leid. Wie grauenhaft.«
»Ja. Niemand versteht…« Trunkenes Aufbrausen von Gelächter der Männer um ihn herum löschte Andrés Stimme vorübergehend aus; der Club füllte sich, die Atmosphäre war lärmend und heiß. »Ich sage Ihnen, diese Kretins kümmert all das keinen Pfifferling, keinen von ihnen, bis auf Canterbury, dem war es nicht gleichgültig.« André blickte von seinem Glas auf. »Sie sind noch jung und unverdorben, nur für ein bis zwei Jahre hier und anscheinend lernwillig, daher dachte ich… Es gibt so vieles zu lernen, so viel Gutes«, hatte er dann plötzlich gesagt und war gegangen.
Als sie das Yoshiwara-Tor passierten, holte André eine kleine Pistole hervor. »Sind Sie bewaffnet, Phillip?«
»Nein.«
André überreichte seine Pistole einem schmierigen Beamten, der ihm eine Quittung gab und sie zu zahlreichen anderen Waffen legte. »Innerhalb des Zauns sind keine Waffen erlaubt. Das gilt für alle Yoshiwaras, sogar die Samurai müssen ihre Schwerter abgeben. On y va!«
Vor ihnen lagen nun zu beiden Seiten der breiten Straße und davon abzweigenden Gassen lange Reihen sauberer, kleiner Häuser auf kurzen Stelzen, viele von ihnen Speiselokale oder kleine Bars, alle aus Holz mit Veranden und Shoji-Wänden aus Ölpapier. Überall Farben, Blütenzweige, Lärm und Lachen, Laternen, Kerzen und Öllampen. »Feuer ist hier äußerst gefährlich, Phillip. Das ganze Viertel ist im ersten Jahr abgebrannt, nach einer Woche war es jedoch wieder voll in Betrieb.«
Jedes Haus trug ein anderes Zeichen. Manche hatten offene Türen und Shoji-Schiebefenster. Darin saßen junge Mädchen, je nach Ansehen des Hauses in kostbare oder eher bescheidene Kimonos gekleidet. Andere Mädchen promenierten, einige mit bunten Sonnenschirmen, manche von Zofen begleitet, doch alle schenkten den glotzenden Männern wenig oder gar keine Beachtung. Darunter mischten sich Straßenhändler aller Art und Schwärme von Dienerinnen, die die Vorzüge ihres Hauses in markigem, rauhem Pidgin anpriesen, und das Ganze wurde vom fröhlichen Scherzen potentieller Kunden überlagert, die zumeist altbekannt waren und ihre bevorzugten Häuser hatten. Bis auf die Wachen, Diener, Träger und Masseure waren nirgends Japaner zu sehen.
»Vergessen Sie nie, daß die Yoshiwaras ein Ort der Freude sind, der fleischlichen Genüsse, des Essens und Trinkens, und daß es in Japan so etwas wie Sünde – ob Erbsünde oder andere – nicht gibt.« Lachend bahnte ihnen André einen Weg durch die Menge, die wohlgeordnet wirkte bis auf ein paar streitsüchtige Betrunkene, die von riesigen, geübten Rausschmeißern schnell und gutmütig voneinander getrennt, auf Hocker gesetzt und von den stets aufmerksamen Dienerinnen mit noch mehr Saké verwöhnt wurden.
»Betrunkene sind hier willkommen, Phillip, weil sie den Überblick über ihr Geld verlieren. Aber versuchen Sie sich niemals mit einem Rausschmeißer anzulegen; die sind phantastisch im unbewaffneten Kampf. Verglichen mit unserer Drunk Town geht’s hier so diszipliniert zu wie auf der Regent’s Promenade in Brighton.«
Plötzlich packte eine stürmische Dienerin Tyrers Arm und wollte ihn in einen Hauseingang ziehen. »Saké heya? Jig-jig viel gut, Mass’er…«
»Iyé, domo, iyé…«, fuhr Tyrer auf – nein, danke, nein –, und eilte hinter André her. »Großer Gott, ich mußte mich richtig mit Gewalt losreißen.«
»Das ist ihr Job.« Von der Hauptstraße bog André in einen Durchgang zwischen zwei Häusern ein, eilte einen anderen entlang, blieb vor einer unscheinbaren Tür in einem Zaun stehen, über der ein verschmutztes Schild hing, und klopfte. Tyrer erkannte die Schriftzeichen, die André ihm zuvor aufgeschrieben hatte: Haus ›Zu den drei Karpfen‹. Ein kleines Gitter wurde geöffnet. Augen spähten heraus. Die Tür ging auf, und Tyrer betrat ein Wunderland.
Ein winziger Garten, Öllaternen und Kerzenlicht. Glänzende graue Trittsteine im grünen Moos, Blumenrabatten, viele kleine Ahorne – blutrotes Laub vor noch mehr Grün –, blaßorangefarbenes Licht, das aus den halb verdeckten Shoji fiel. Eine kleine Brücke über einem Miniaturbach, gleich daneben ein Wasserfall. Auf der Veranda kniete, wunderschön gekleidet und frisiert, eine Frau mittleren Alters, die Mama-san. »Bonsoir, M’sieur Furansu-san«, sagte sie, legte beide Hände auf den Verandaboden und verneigte sich tief.
André erwiderte die Verbeugung. »Raiko-san, konbanwa. Igaga desu ka?« Guten Abend, wie geht es Ihnen? »Watashi wa kombinu, wa, Tyrer-san.« Dies ist mein Freund, Mr. Tyrer.
»Ah so desu ka? Taira-san? Taira kuni omoto desu furigato desu.« Sie verneigte sich feierlich, Tyrer verneigte sich ungeschickt; dann winkte sie den beiden Herren, ihr zu folgen.
»Sie sagt, Taira ist ein berühmter, alter japanischer Name. Sie haben Glück, Phillip, die meisten von uns müssen sich mit Spitznamen begnügen. Ich laufe unter Furansu-san – das beste, was sie aus ›Franzose‹ zu machen wußten.«
Um die peinlich sauberen und sehr teuren Tatami nicht zu beschmutzen, zogen sie ihre Schuhe aus und nahmen ungeschickt im Schneidersitz auf dem Boden Platz. André machte ihn auf die tokonoma, die Nische für eine besondere, dort aufgehängte Schriftrolle, sowie auf ein täglich wechselndes Blumenarrangement aufmerksam und wies auf die Qualität der Shoji und Hölzer hin.
Saké wurde hereingebracht. Die Dienerin war jung, etwa zehn, nicht hübsch, aber geschickt und schweigsam. Raiko schenkte ein, zuerst André, dann Tyrer, dann sich selbst. Sie trank einen Schluck, André leerte die winzige Tasse und reichte sie ihr zum Nachschenken. Tyrer, der den Geschmack des warmen Weins nicht unangenehm, aber fade fand, folgte seinem Beispiel. Beide Tassen wurden sofort wieder gefüllt, geleert und nochmals gefüllt. Weitere Tabletts kamen, weitere Flaschen.
Tyrer verlor die Übersicht, fühlte sich aber bald in eine angenehme Wärme gehüllt, verlor die Nervosität, beobachtete, lauschte und verstand fast nichts von dem, was die anderen beiden sagten, höchstens hier und da ein einzelnes Wort. Raikos Haare waren schwarzglänzend und mit vielen kostbaren Kämmen aufgesteckt, ihr weiß gepudertes Gesicht war weder häßlich noch schön, nur eben anders, ihr Kimono aus rosenroter, mit vielen grünen Karpfen durchwehter Seide.
»Ein Karpfen ist koi, gewöhnlich ein Zeichen für Glück«, hatte André ihm bereits erklärt. »Townsend Harris’ Geliebte, die Shimoda-Kurtisane, die ihn im Auftrag der Bakufu ablenken sollte, nannte sich Koi, aber ich fürchte, es hat ihr kein Glück gebracht.«
»Ach ja? Was ist passiert?«
»Nach der Geschichte, die sich die Kurtisanen hier erzählen, hat er sie vergöttert und ihr, als er fort mußte, genügend Geld gegeben, um sich zu etablieren – sie war ungefähr zwei Jahre bei ihm. Kurz nach seiner Rückkehr nach Amerika ist sie einfach verschwunden. Hat sich vermutlich zu Tode getrunken oder Selbstmord begangen.«
»So sehr hat sie ihn geliebt?«
»Es heißt, daß sie sich anfangs, als die Bakufu sie daraufhin ansprachen, strikt geweigert hat, mit einem Ausländer zu gehen – eine nie dagewesene Zumutung. Vergessen Sie nicht, daß er der erste war, der jemals Erlaubnis erhielt, sich auf japanischem Boden aufzuhalten. Sie flehte die Bakufu an, eine andere auszuwählen, erklärte, sie werde buddhistische Nonne werden, und drohte sogar, sich umzubringen. Doch die Beamten waren unnachgiebig, baten sie, ihnen bei der Lösung des Gai-Jin-Problems zu helfen, flehten sie wochenlang an, seine Geliebte zu werden, und zermürbten sie mit weiß Gott was für Mitteln. Schließlich erklärte sie sich einverstanden, und die Beamten dankten ihr. Als Harris sie verließ, haben sie ihr jedoch alle den Rücken gekehrt, die Bakufu genauso wie alle anderen: Ah, tut uns leid, aber eine Frau, die mit einem Ausländer geht, ist auf immer gebrandmarkt.«
»Wie furchtbar!«
»Ja, nach unseren Maßstäben. Und so traurig. Aber vergessen Sie nicht, daß dies das Land der Tränen ist. Heute ist sie eine Legende und wird von ihren Kolleginnen wie auch von denen, die ihr den Rücken kehrten, wegen ihres Opfers verehrt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht, das versteht keiner von uns. Aber sie verstehen es. Die Japaner.«
Wie seltsam, dachte Tyrer abermals. Dieses kleine Haus, dieser Mann und diese Frau, die halb auf japanisch, halb auf pidgin miteinander plaudern und lachen, sie eine Madam, er ein Kunde, aber beide tun sie, als seien sie etwas anderes. Immer mehr Saké. Dann verneigte sie sich, stand auf und ging.
»Saké, Phillip?«
»Danke. Es ist sehr nett hier, nicht?«
Nach einer Pause gab André zurück: »Sie sind der erste Mensch, den ich hierher mitgenommen habe.«
»Ach ja? Warum ich?«
Der Franzose drehte die Porzellantasse in seinen Fingern, trank den letzten Tropfen aus, schenkte sich noch einmal ein und begann dann mit weicher, von Wärme erfüllter Stimme auf französisch: »Weil du der erste Mensch bist, den ich in Yokohama kennengelernt habe, der… Weil du Französisch sprichst, weil du kultiviert bist, weil dein Verstand wie ein trockener Schwamm ist, weil du jung bist, fast nur halb so alt wie ich, eh? Du bist einundzwanzig und nicht so wie die anderen, du bist unverdorben und wirst einige Jahre hier bleiben.« Er lächelte, spann das Netz enger, erzählte nur einen Teil der Wahrheit, modellierte sie nach seinem Belieben: »Du bist der erste Mensch unter meinen Bekannten, der… Alors, obwohl du Engländer und eigentlich ein Feind der Franzosen bist, bist du der einzige, der das Wissen, das ich erworben habe, wirklich verdient hat.« Ein verlegenes Lächeln. »Schwer zu erklären. Vielleicht weil ich immer Lehrer werden wollte, vielleicht weil ich nie einen Sohn hatte, niemals geheiratet habe, vielleicht weil ich bald nach Shanghai zurückkehren muß, vielleicht weil ich Feinde genug habe, und vielleicht… vielleicht, weil du ein guter Freund sein könntest.«
»Es wäre mir eine Ehre, dein Freund zu sein«, sagte Tyrer prompt, im Netz gefangen und unter seinem Bann, »und ich bin der Meinung, ich war wirklich schon immer der Meinung, wir sollten Verbündete sein, Frankreich und England, statt Feinde, und…« Die Shoji wurde zur Seite geschoben. Raiko, auf den Knien liegend, winkte Tyrer. Sein Herz klopfte.
André lächelte. »Du brauchst ihr nur zu folgen. Und vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.«
Wie im Traum erhob sich Phillip ein wenig unsicher und folgte ihr einen Korridor entlang in ein Zimmer, in das sie ihn hineinwinkte, um dann die Shoji zu schließen und ihn allein zu lassen.
Eine Öllampe mit Schirm. Eine wärmende Holzkohlenpfanne. Schatten, Dunkelheit und Lichtflecken. Auf dem Fußboden waren Futons – kleine, rechteckige Matratzen – als Bett ausgelegt, als Bett für zwei. Daunenweiche Bettdecken. Zwei yokatas, gemusterte Baumwollgewänder mit weiten Ärmeln, die zum Schlafen gedacht waren. Durch eine kleine Tür sah er ein Badehaus, von Kerzen erleuchtet, die hohe Holzwanne mit dampfend heißem Wasser gefüllt. Süß duftende Seife. Ein niedriger, dreibeiniger Hocker. Winzige Handtücher. Alles genau so, wie André es vorausgesagt hatte.
Sein Herz schlug jetzt wie rasend, und er zwang seinen Verstand, sich trotz des Sakénebels an Andrés Instruktionen zu erinnern.
Methodisch begann er sich zu entkleiden. Rock, Weste, Krawatte, Hemd, wollenes Unterhemd: jedes Kleidungsstück sorgsam gefaltet und voll Nervosität auf einen Stapel gelegt. Unbeholfen setzte er sich, zog seine Socken aus, unter Zögern auch seine Hose, und stand wieder auf. Nur die lange, wollene Unterhose behielt er an. Er schwankte ein wenig, zuckte verlegen die Achseln, zog sie ebenfalls aus und faltete sie noch gewissenhafter. Als er ins Badehaus hinüberging, war sein Körper von einer Gänsehaut überzogen.
Dort schöpfte er, wie André es ihm erklärt hatte, Wasser aus dem Faß und goß es sich über die Schultern. Ein wunderbares, warmes Gefühl. Noch einmal, dann hörte er, wie die Shoji geöffnet wurden, und blickte sich um. »Allmächtiger!« murmelte er entsetzt.
Die Frau war muskulös, mit überdimensionalen Unterarmen, ihr Yokata kurz, darunter nichts als ein Lendentuch. Mit ausdruckslosem Lächeln kam sie energisch auf ihn zu und winkte ihm, er möge auf dem Hocker Platz nehmen. In abgrundtiefer Verlegenheit gehorchte er. Sofort entdeckte sie die heilende Narbe an seinem Arm, sog den Atem ein und sagte etwas, das er nicht verstand.
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Tokaidō.«
»Wakarimasu.« Ich verstehe. Dann schöpfte sie ihm, bevor er sie daran hindern konnte, unerwarteterweise Wasser über den Kopf und begann ihn einzuseifen. Zunächst wusch sie sein langes Haar, dann seinen Körper – mit harten, geschickten, unbarmherzigen Fingern, die seinen Arm jedoch behutsam schonten –, Arme, Beine, hinten, vorn. Dann offerierte sie ihm das Tuch und deutete zwischen seine Beine. Immer noch im Schock reinigte er sich auch dort und reichte ihr stumm das Tuch zurück. »Danke«, murmelte er dabei. »Ach, tut mir leid, domo.«
Ein weiterer Wasserguß entfernte die Seifenreste; dann deutete sie auf die Wanne. »Dozo!« Bitte.
André hatte es ihm erklärt: »Vergessen Sie nicht, Phillip, daß Sie sich, anders als bei uns, waschen und reinigen müssen, bevor Sie in die Wanne steigen, damit auch andere noch dasselbe Wasser benutzen können – eine sehr vernünftige Einstellung, wenn man bedenkt, daß Holz sehr teuer ist und es sehr lange dauert, bis genügend Wasser heiß ist –, also pinkeln Sie nicht hinein, und betrachten Sie die Frau im Badehaus nicht als Frau, sondern als Helferin. Sie reinigt Sie erst von außen und dann von innen, ja?«
Tyrer ließ sich in die Wanne hinab. Das Wasser war heiß, aber nicht zu heiß, und er schloß die Augen, weil er nicht zusehen wollte, wie die Frau das Bad aufräumte. Himmel, dachte er bedrückt, ich werde nie in der Lage sein, mit ihr zu schlafen. André hat einen Riesenfehler gemacht.
»Aber… nun ja, ich, äh, weiß nicht, wieviel ich, äh, bezahlen muß, oder ob ich dem Mädchen zuerst das Geld geben muß, oder was?«
»Mon Dieu, Sie sollten niemals einem Mädchen tatsächlich Geld geben, denn das wäre der Gipfel der Unhöflichkeit. Doch mit der Mama-san können Sie von Herzen handeln, zuweilen auch mit dem Mädchen selbst, aber nur nach dem Tee und dem Saké. Bevor Sie gehen, legen Sie die Summe diskret an eine Stelle, an der sie sie sehen muß. Im Haus ›Zu den drei Karpfen‹ bezahlen Sie kein Geld, es ist ein besonderes Haus – es gibt noch mehr davon – nur für ganz spezielle Kunden, zu denen auch ich gehöre. Sie werden Ihnen eine Rechnung schicken – zwei- oder dreimal im Jahr. Aber Achtung, bevor Sie dorthingehen, müssen Sie mir bei Gott schwören, daß Sie die Rechnung sofort bezahlen werden, wenn man sie Ihnen präsentiert, und daß Sie nie jemand anderen dorthin mitnehmen oder darüber reden werden.«
Also hatte er geschworen, ohne nach dem Preis zu fragen, weil er es nicht wagte. »Die, äh, Rechnung – wann wird sie kommen?«
»Wenn es der Mama-san gefällt. Ich habe Ihnen gesagt, Phillip, daß Sie sich unter den gegebenen Umständen ein ganzes Jahr lang auf Kredit amüsieren können – natürlich garantiere ich für Sie…«
Die Wärme des Badewassers machte ihn schläfrig. Er hörte kaum, wie sie hinaus- und später wieder herbeieilte.
»Taira-san?«
»Hai?« Ja?
Sie hielt ein Handtuch in die Höhe. Seltsam lethargisch, mit Muskeln, die das Wasser schlaff gemacht hatte, stieg er aus der Wanne und ließ sich von ihr abtrocknen. Wieder bearbeitete er die speziellen Partien selbst und fand es dieses Mal leichter. Ein Kamm für seine Haare. Eine trockene, gestärkte Yokata, dann winkte sie ihn zum Bett.
Abermals durchfuhr ihn Panik. Zittrig zwang er sich zum Niederlegen. Sie deckte ihn zu, schlug die andere Decke zurück und ging hinaus.
Sein Herz hämmerte, aber so dazuliegen war wundervoll, die Matratze war weich, sauber und duftend, und er fühlte sich sauberer denn seit Jahren. Bald hatte er sich ein wenig beruhigt, dann wurden die Shoji aufgeschoben und wieder geschlossen, und er fühlte sich unendlich erleichtert. Das nur undeutlich sichtbare Mädchen war winzig, gertenschlank, in eine gelbe Yokata gehüllt, mit lang herabhängendem schwarzem Haar. Gleich darauf kniete sie neben dem Bett. »Konbanwa, Taira-san. Ikaga desu ka? Watashi wa Ako.« Guten Abend, Mr. Taira. Geht es Ihnen gut? Ich bin Ako.
»Konbanwa, Ako-san. Watashi wa Phillip Tyrer desu.«
Sie krauste die Stirn. »F…urri…f.« Mehrmals versuchte sie Phillip zu sagen, brachte es aber nicht fertig; dann lachte sie fröhlich auf und sagte etwas, das er nicht verstand, das aber mit Taira-san endete.
Er hatte sich aufgesetzt und beobachtete sie mit klopfendem Herzen, hilflos und ohne sich von ihr angezogen zu fühlen. Gleich darauf deutete sie auf die andere Bettseite. »Dozo?« Bitte, darf ich?
»Dozo.« Im Kerzenschein vermochte er sie nicht sehr klar zu sehen, gerade deutlich genug, um zu erkennen, daß sie jung war – er schätzte sie auf sein eigenes Alter –, daß ihr Gesicht glatt und weiß vom Puder war, daß sie weiße Zähne hatte, rote Lippen, glänzendes Haar, eine fast römische Nase und mit Augen, die schmalen Ellipsen glichen. Dazu ein freundliches Lächeln. Sie glitt ins Bett, machte es sich bequem, wandte sich um und sah ihn an. Wartete. Schüchternheit und Unerfahrenheit lähmten ihn.
Großer Gott, wie soll ich ihr klarmachen, daß ich sie nicht will, daß ich überhaupt keine Frau will, daß ich nicht kann, ich weiß, daß ich nicht kann, und es wird nicht klappen, nicht heute abend, es wird nicht klappen, und ich werde mich blamieren, mich und André… André! Was soll ich ihm sagen? Ich werde mich absolut lächerlich machen, o Gott, warum habe ich mich bloß darauf eingelassen?
Sie streckte die Hand aus und berührte seine Wange. Unwillkürlich erschauerte er.
Ako murmelte liebevoll klingende Ermutigungen, doch innerlich mußte sie lächeln, weil sie wußte, was sie von diesem Kind von einem Mann zu erwarten hatte. Raiko-san hatte sie vorbereitet: »Der heutige Abend, Ako, wird ein seltener Augenblick in deinem Leben sein, und du mußt ihn uns bei der ersten Mahlzeit unbedingt in allen Einzelheiten schildern. Dein Kunde ist ein Freund von Frenchy und einmalig in unserer Welt – eine Jungfrau. Frenchy sagt, er ist so scheu, daß du es nicht glauben würdest; er wird Angst haben, sagt er, vermutlich weinen, wenn seine Ehrenwerte Waffe versagt, in seiner frustrierten Erregung vielleicht sogar das Bett nässen. Aber keine Angst, liebe Ako, Frenchy hat mir versichert, daß du dich ganz normal mit ihm befassen kannst und daß du dir keine Sorgen zu machen brauchst.«
»Eeee, Raiko-san. Ich werde diese Gai-Jin niemals verstehen.«
»Ich auch nicht. Ganz zweifellos sind sie alle sonderbar und unzivilisiert, aber zum Glück sind die meisten angenehm reich; und da es unser Schicksal ist, hier zu sein, müssen wir das Beste daraus machen. Äußerst wichtig noch: Frenchy sagt, daß der hier ein bedeutender englischer Beamter ist, möglicherweise ein Langzeitkunde, also schenk ihm das Erlebnis der Wolken und des Regens, so oder so, selbst wenn du… selbst wenn du zum Letzten greifen mußt.«
»Oh ko!«
»Die Ehre unseres Hauses steht auf dem Spiel.«
»Oh! Ich verstehe. Wenn dem so ist… Irgendwie werde ich’s schaffen.«
»Ich habe volles Vertrauen zu dir, Ako-chan, schließlich kannst du auf nahezu dreißig Jahre Erfahrung in unserer Weidenwelt zurückblicken.«
»Was meinst du – hat er den gleichen Geschmack wie Frenchy?«
»Daß er es liebt, sich hinten kitzeln zu lassen, und gelegentlich Freudenpillen? Vielleicht solltest du dich darauf gefaßt machen, aber ich habe Frenchy offen gefragt, ob der Junge dazu neigt, Männer zu lieben, und er hat nein gesagt. Seltsam, daß Frenchy unser Haus gewählt hat, um einen Freund in die Liebe einzuführen, statt eins von denen, die er jetzt frequentiert.«
»Das Haus trifft keine Schuld, niemals! Bitte, denk nicht mehr daran, Raiko-chan, ich fühle mich geehrt, daß du mich erwählt hast. Ich werde alles Notwendige tun.«
»Selbstverständlich. Eeee, wenn man bedenkt, daß die Dampfenden Stengel der Gai-Jin gewöhnlich weit größer sind als die einer zivilisierten Person, daß die meisten Gai-Jin zufriedenstellend kopulieren, wenn auch – bis auf Frenchy – nicht mit japanischer Kraft, japanischem Flair und japanischer Entschlossenheit, das Äußerste zu erreichen, so würde man meinen, sie wären genauso glückliche Kopulierer wie ganz normale Personen. Aber das sind sie nicht, sie haben so viele Spinnweben in ihren Köpfen, daß das Kopulieren für sie nicht das Himmlischste Vergnügen ist wie für uns, sondern eine Art heimliche, religiöse Sünde. Sonderbar.«
Ako, die vorsichtig experimentierte, rückte näher und streichelte seine Brust; dann schob sie ihre Hand tiefer und hätte fast laut aufgelacht, als der junge Mann vor Angst zurückzuckte. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder gefaßt hatte. »Taira-san?« murmelte sie liebevoll.
»Ja, äh, hai, Ako-san?«
Sie nahm seine Hand, führte sie unter der Yokata an ihre Brust, beugte sich vor und küßte ihn auf die Schulter, weil sie ermahnt worden war, wegen der Wunde an seinem Arm, die ihm ein tapferer Shishi beigebracht hatte, vorsichtig zu sein. Keinerlei Reaktion. Sie schmiegte sich an ihn. Flüsternd erzählte sie ihm, wie tapfer, wie stark und männlich er sei, wie überwältigend die Dienerin ihn und seine Frucht beschrieben habe. Und während sie ihm geduldig die Brust streichelte, spürte sie, wie er erschauerte, davon abgesehen jedoch keine Spur Leidenschaft zeigte. Die Minuten vergingen. Immer noch nichts. Ihre Besorgnis wuchs. Ihre Finger waren wie Schmetterlinge, und dennoch blieb er regungslos liegen – Hände, Lippen, alles. Sanftes Liebkosen, behutsames Kreisen, zunächst noch keine echte Intimität. Weitere Minuten verstrichen. Immer noch nichts. Ihre Unruhe stieg. Die Angst, daß sie versagen könnte, wog schwerer als ihre Unruhe. Mit der Zunge berührte sie sein Ohr.
Aha, eine winzige Belohnung; ihr Name, kehlig gesprochen, und seine Lippen, die ihren Hals küßten. Eeee, dachte sie, entspannte sich und schloß die Lippen um seine Brustwarze, jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis seine Jungfräulichkeit gen Himmel explodiert, dann kann ich endlich Saké bestellen, bis morgen früh schlafen und vergessen, daß ich dreiundvierzig und kinderlos bin und daß Raiko-san mich aus dem sechstklassigen Haus gerettet hat, in das mein Alter und mein Mangel an Schönheit mich verwiesen haben.
Während die Sonne den Horizont berührte, beobachtete Tyrer müßig die Samurai auf dem Platz vor der Gesandtschaft. Seine Gedanken verweilten immer noch bei Ako und, zwei Abende später, Mieko. Und dann SIE.
Fujiko. Vorgestern abend.
Er spürte, wie er hart wurde, und rückte diesen Teil seines Körpers bequemer zurecht; er wußte inzwischen, daß er unwiderruflich in diese Schwimmende Welt verstrickt war, in der man, wie André es ihm geschildert hatte, nur für den Augenblick, für das Vergnügen lebte und wie eine Blüte auf der Strömung eines stillen Flusses ohne Sorgen dahintrieb.
»Er ist noch immer still, dieser Fluß, Phillip. Wie ist sie, diese Fujiko?«
»Ach, äh, hast du sie denn noch nicht gesehen? Kennst du sie nicht?«
»Nein. Ich habe der alten Raiko-san nur erklärt, was für ein Mädchen dir gefallen könnte, und die Betonung dabei auf ›Schlafendes Wörterbuch‹ gelegt. Wie war sie?«
Um seine Verlegenheit darüber zu verbergen, daß man ihm so direkt eine so persönliche Frage stellte, lachte er laut auf. Aber André hatte ihm so viel gegeben, daß er jetzt auch ›französisch‹ und ganz offen sein wollte, also schob er seine Befürchtungen, ein Gentleman dürfte über so etwas nicht sprechen, beiseite. »Sie… Sie ist jünger als ich, klein, eigentlich eher winzig, nach unseren Vorstellungen nicht hübsch, aber sie ist erstaunlich attraktiv. Wenn ich sie recht verstanden habe, war sie neu dort.«
»Ich meinte, im Bett – wie war sie da? Besser als die anderen?«
»Ach so. Nun ja, es war, äh, na ja, nicht zu vergleichen.«
»War sie leidenschaftlicher? Sinnlicher? Eh?«
»Na ja, schon, äh, angezogen oder entkleidet, unglaublich. Etwas ganz Besonderes. Und wieder einmal kann ich dir nicht genug danken. Ich schulde dir unendlich viel.«
»De rien, mon vieux.«
»Aber es stimmt. Das nächstemal wirst du sie kennenlernen.«
»Mon Dieu, nein! Das ist eine Regel. Seine ›Spezielle‹ stellt man niemals einem anderen Mann vor, schon gar nicht einem Freund. Vergiß nicht, bis du sie in dein eigenes Haus aufnimmst, wo du die Rechnungen bezahlst, ist sie für jeden da, der Geld hat – wenn sie will.«
»Ach ja! Das hatte ich ganz vergessen«, hatte er wahrheitswidrig entgegnet.
»Und selbst wenn sie dort wohnt, könnte sie, wenn sie wollte, immer noch einen Liebhaber zusätzlich haben. Wer würde schon davon erfahren?«
»Mag ja sein.« Noch mehr Kummer.
»Du solltest dich nicht verlieben, mein Freund, nicht in eine Kurtisane. Nimm sie so, wie sie sind, als Freudenmädchen. Genieße sie, erfreue dich an ihnen, aber verliebe dich nicht in sie – und dulde niemals, daß sie sich in dich verlieben…«
Tyrer erschauerte; er haßte die Wahrheit, haßte die Vorstellung, sie könne sich mit einem anderen einlassen und mit ihm ins Bett gehen wie mit ihm, haßte die Tatsache, daß es für Geld geschah, haßte den Schmerz in seinen Lenden. Mein Gott, sie war wirklich etwas Besonderes, so zauberhaft, geschmeidig, ein süßes Plappermäulchen, sanft, liebevoll, so jung und erst so kurz in diesem Haus. Soll ich sie zu mir nehmen? Nein, nicht soll, sondern kann ich? André hat bestimmt ein eigenes Haus mit seiner speziellen Freundin, obwohl er nie etwas davon gesagt hat, und ich würde auch niemals danach fragen. Himmel, wieviel würde so etwas kosten? Mit Sicherheit mehr, als ich mir jemals leisten kann…
Mit Gewalt versuchte er seine Aufmerksamkeit auf den Garten unten zu richten, aber der Schmerz wollte nicht weichen. Ein Teil des Highlander-Detachements versammelte sich um den Fahnenmast, Trompeter und vier Trommler waren bereit für das Einholen der Fahne. Routine. Die bunte Gruppe der Gärtner sammelte sich am Ausgang, um gezählt und anschließend entlassen zu werden. Unter Verneigungen verschwanden sie durchs Tor und die Reihen der Samurai. Routine. Die Wachen schlossen und verriegelten das Eisentor. Routine. Trommeln und Trompeten erklangen, als der Union Jack feierlich eingeholt wurde. Routine. Die meisten Samurai marschierten inzwischen davon, um für die Nacht nur eine symbolische Wache zurückzulassen. Routine.
Tyrer erschauerte.
Wenn wirklich alles Routine ist, warum bin ich dann so nervös?
Die Gärtner der Gesandtschaft trotteten zu ihren bescheidenen Quartieren, die an die andere Seite des Buddhistentempels grenzten. Keiner von ihnen blickte Hiraga an. Sie alle waren gewarnt worden, daß ihr Leben von seiner Sicherheit abhing.
»Sprecht niemals mit Fremden«, hatte er zu ihnen gesagt.
»Wenn die Bakufu herausfinden, daß ihr mich aufgenommen habt, wird euch das gleiche widerfahren wie mir, nur daß man euch kreuzigt, statt euch sofort zu erschießen.«
Trotz all ihrer unterwürfigen Versicherungen, bei ihnen sei er sicher, traute er ihnen nicht. Hiraga wußte, daß er nirgendwo sicher war. Seit dem Anjo-Hinterhalt zehn Tage zuvor hatte er sich meistens in dem sicheren Haus in Kanagawa aufgehalten, in der Herberge ›Zu den Mitternachtsblüten‹. Daß der Überfall fehlschlug und seine Gefährten bis auf einen umgebracht wurden, war Karma, nichts weiter.
Gestern war ein Schreiben von Katsumata eingetroffen, der jetzt in Kyōto weilte: Dringend: In wenigen Wochen wird Shōgun Nobusada etwas nie Dagewesenes tun und hierherkommen, um dem Kaiser einen Staatsbesuch abzustatten. Alle Shishi erhalten daher Anwe isung, sich sofort hier einzufinden, damit geplant wird, wie man ihn aufhalten, umbringen und dann die Palasttore in Besitz nehmen kann. Katsumata hatte mit seinem Codenamen unterzeichnet: Rabe.
Hiraga hatte mit Ori beratschlagt, was zu tun sei, und sich entschieden, hierher nach Edo zurückzukehren. Weil er wütend darüber war, daß die Gai-Jin den Ältestenrat hintergangen und ausgeschaltet hatten, war er entschlossen, die britische Gesandtschaft im Handstreich zu nehmen. »Kyōto kann warten, Ori. Wir müssen unseren Kampf gegen die Gai-Jin fortführen. Wir dürfen ihnen keine Ruhe lassen, bis sie endlich Edo beschießen. Um Kyōto und den Shōgun sollen sich die anderen kümmern.« Er hätte Ori mitgenommen, aber Ori war hilflos; seine Wunde hatte sich verschlimmert, und es gab weit und breit keinen Arzt, der ihm geholfen hätte. »Was ist mit deinem Arm?«
»Wenn es unerträglich wird, werde ich Seppuku begehen«, hatte Ori erwidert – fast lallend von dem vielen Saké, den er trank, um die Schmerzen zu lindern, als sie zu dritt – er, Ori und die Mama-san – gemeinsam einen Abschiedstrunk einnahmen. »Mach dir keine Sorgen.«
»Gibt es nicht einen anderen Arzt, einen zuverlässigen?«
»Nein, Hiraga-san«, sagte Noriko, die Mama-san, mit sanfter Stimme. Sie war eine zierliche Frau von fünfzig Jahren. »Ich habe sogar einen koreanischen Akupunkteur und einen Kräuterarzt kommen lassen, beide gute Freunde von mir, aber die Umschläge haben nichts genutzt. Es gibt da diesen riesigen Ausländer…«
»Bist du dumm?« schrie Ori. »Wie oft muß ich es dir noch sagen? Diese Schußwunde stammt von einer ihrer Kugeln, und sie haben mich in Kanagawa gesehen!«
»Bitte verzeih mir«, sagte die Mama-san demütig, den Kopf bis auf die Tatami gesenkt, »bitte verzeih dieser dummen Person.« Abermals verneigte sie sich, dann ging sie hinaus. Im innersten Herzen aber verfluchte sie Ori, weil er kein wahrer Shishi war und Seppuku beging, solange Hiraga anwesend war, der beste Sekundant, den sich ein Mann wünschen konnte, denn damit hätte er die furchtbare Gefahr für sie und ihr Haus abwenden können. Die Nachricht vom Schicksal der Herberge ›Zu den siebenundvierzig Ronin‹ hatte sich über fünfzig ri und mehr verbreitet: Es war eine unerhörte Vergeltung, alle Kunden, Kurtisanen und Dienstboten zu töten und den Kopf der Mama-san auf einen Pfahl zu spießen.
Ungeheuerlich, dachte sie wütend. Wie kann ein Haus einem Samurai, Shishi oder nicht, das Betreten verbieten? Früher töteten die Samurai viel öfter als heute, gewiß, aber das war vor Jahrhunderten, und auch dann fast immer nur, wenn es angezeigt war, und niemals Frauen und Kinder. Das war, als die Gesetze des Landes noch gerecht, Shōgun Toranaga noch gerecht, sein Sohn und Enkel noch gerecht waren, bevor Korruption und Verschwendung zum Lebensstil nachfolgender Shōguns, Daimyos und Samurai wurden, die uns über ein Jahrhundert lang mit ihrer habgierigen Besteuerung gequält haben wie eine Pestbeule! Unsere einzige Hoffnung sind die Shishi! Sonno-joi!
»Bevor wir sterben, muß Anjo sterben«, hatte sie leidenschaftlich erklärt, als Hiraga zwei Tage nach dem Überfall endlich sicher zurückgekehrt war. »Wir hatten furchtbare Angst, du seist mit den anderen verbrannt. Das alles geschah auf Anjos Befehl, Hiraga-san, auf seinen Befehl – als ihr ihn vor dem Burgtor überfallen habt, kam er gerade von der Herberge ›Zu den siebenundvierzig Ronin‹ zurück, die Exekutionen hat er persönlich angeordnet und auch dabei zugesehen. Und für den Fall, daß ihr Shishi unversehens zurückkehren würdet, hat er Männer im Hinterhalt zurückgelassen.«
»Wer hat uns verraten, Hiraga?« hatte Ori sich erkundigt.
»Die Mori-Samurai.«
»Aber Akimoto sagte, er habe gesehen, wie sie getötet wurden.«
»Es muß einer von ihnen gewesen sein. Ist sonst noch jemand entkommen?«
»Akimoto, und das nur zufällig. Er hat sich einen Tag und eine Nacht in einer anderen Herberge versteckt.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Er ist beschäftigt«, antwortete Noriko. »Soll ich ihn holen lassen?«
»Nein. Wir werden morgen mit ihm sprechen.«
»Für die Herberge muß Anjo bezahlen! Das ist gegen jede Tradition!«
»Das wird er. Genauso wie die Bakufu. Genauso wie Shōgun Nobusada. Genauso wie Yoshi.«
In seinem Privatquartier hoch oben im Burgturm von Edo erdachte Yoshi ein Gedicht. In einen blauen Seidenkimono gehüllt, saß er an einem niedrigen Tischchen, auf dem eine Öllampe stand. Vor ihm lagen Bogen und Reispapier, Pinsel in verschiedener Stärke und eine Schale mit Wasser, um den Tintenblock aufzulösen, in dessen leicht ausgehöhlter Oberfläche sich inzwischen ein winziger, einladender Teich gebildet hatte.
Die Abenddämmerung wurde zur Nacht. Aus der Burg weiter unten drang das beruhigende, gedämpfte Geräusch von Soldaten herauf, von Hufen auf Kopfsteinen, ein gelegentliches, kehliges Lachen, das mit dem Rauch und den Gerüchen von Kochfeuern durch die dekorativen Schießscharten in den dicken Mauern emporstieg.
Dies war das Allerheiligste. Spartanisch. Tatamis, eine Tokonoma, die Shoji-Tür vor ihm so eingestellt und beleuchtet, daß er den Schatten einer jeden Gestalt wahrnehmen konnte, die sich draußen bewegte, er selbst von draußen aber nicht zu sehen war.
Unmittelbar neben seinem Gemach lag ein weiträumiges Vorzimmer, von dem aus Korridore zu den anderen Schlafquartieren führten, die im Moment nur noch von Gefolgsleuten, Dienerinnen und Koiko, seiner besonderen Favoritin, bewohnt wurden. Seine Familie – Ehefrau mit zwei Söhnen und einer Tochter sowie Konsortin mit einem Sohn – weilten alle sicher und schwer bewacht zwanzig ri weiter nördlich in seiner befestigten Erbburg. Hinter diesem Vorzimmer gab es Wachen und weitere Räume mit weiteren Wachen, die alle auf seinen persönlichen Dienst eingeschworen waren.
Er tauchte den Pinsel in die Tinte, hielt ihn einen Moment über das feine Reispapier und schrieb dann entschlossen:
Schwert meiner Väter
In meinen Händen
Regt sich beklommen
Er schrieb es in drei kurzen, senkrechten Reihen von Zeichen, mit kräftigen Strichen, wo sie kräftig sein mußten, mit weichen, wo Weichheit das Bild betonte, das die Zeichen vermittelten. Dabei hatte er keine Chance, auch nur den winzigsten Fehler zu kaschieren oder zu korrigieren, denn das Reispapier war so beschaffen, daß es die Tinte sofort aufsog und das Schwarz in unterschiedliche Grautöne verwandelte, je nachdem, wie der Pinsel und die darin enthaltene Wassermenge benutzt wurden.
Gelassen begutachtete er sein Werk, die Plazierung des Gedichtes und das Gesamtbild, das die Schattierungen der schwarzen Kalligraphie inmitten der weißen Fläche boten.
Es ist gut, dachte er ohne Eitelkeit. Vorerst kann ich es noch nicht besser; dieses Gedicht schöpft meine Fähigkeiten fast bis an ihre Grenze, wenn nicht sogar bis ganz an die Grenze aus. Und was ist mit der Bedeutung dieser Zeilen, wie sollten sie gelesen werden? Aha, das ist eine sehr wichtige Frage, das ist der Grund, warum es gut ist. Wird es aber bewirken, was ich beabsichtige?
Diese Fragen veranlaßten ihn, den erschreckenden Stand der Dinge hier und in Kyōto zu rekapitulieren. Vor wenigen Tagen war die Nachricht eingetroffen, daß es dort zu einem unerwarteten, aber erfolgreichen Coup durch Choshu-Truppen gekommen war, durch den die Satsuma- und Tosa-Streitkräfte vertrieben wurden, die während der letzten sechs Monate in einem unsicheren Waffenstillstand die Macht gehalten hatten, und daß Lord Ogama von Choshu nun die Befehlsgewalt über die Palasttore ausübte.
Bei einer hastig zusammengerufenen Sitzung des Rates war es zu Zornesausbrüchen gekommen, und Anjo hatte vor Wut fast Schaum vor dem Mund gehabt. »Choshu, Satsuma und Tosa! Immer wieder diese drei! Das sind die Hunde, die zerschmettert werden müssen! Ohne sie hätten wir alles unter Kontrolle.«
»Richtig«, hatte Yoshi zurückgegeben. »Ich wiederhole, daß wir unseren Truppen in Kyōto befehlen müssen, die Rebellion auf der Stelle niederzuschlagen – ohne Rücksicht auf Verluste!«
»Nein, nein! Wir müssen warten; wir haben nicht genug Streitkräfte dort.«
Toyama, der Alte, rieb sich das graue Kinn und sagte: »Ich stimme Yoshi-donno zu. Krieg ist die einzige Möglichkeit. Wir müssen Ogama von Choshu zum Gesetzlosen erklären!«
»Unmöglich!« hatte Adacho gesagt. »Ich stimme Anjo zu. Wir dürfen es nicht riskieren, alle Daimyos vor den Kopf zu stoßen. Damit würden wir nur erreichen, daß sie sich gegen uns verbünden.«
»Wir müssen sofort handeln!« hatte Yoshi noch einmal betont. »Wir müssen unseren Truppen befehlen, die Tore zurückzuerobern und den Aufstand niederzuschlagen.«
»Wir haben nicht genug Streitkräfte«, hatte Anjo hartnäckig wiederholt. »Wir werden warten. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Wir…«
»Warum hört ihr nicht auf mich?« Inzwischen war Yoshi so wütend, daß er seine Gefühle kaum noch unterdrücken konnte. Es gelang ihm nur mit Mühe, weil er wußte, daß es ein tödlicher Fehler wäre, die Beherrschung zu verlieren und sie alle gegen sich aufzubringen. Schließlich war er der jüngste, unerfahrenste, allerdings auch der fähigste und einflußreichste unter den Daimyos und der einzige der Ältesten, dem es gelingen würde, das ganze Land in einen ebenso furchtbaren Bürgerkrieg zu stürzen, wie er vor Shōgun Toranaga jahrhundertelang getobt hatte. Waren sie nicht alle neidisch gewesen, als er durch einen kaiserlichen ›Wunsch‹ zum Vormund und Ältesten ernannt wurde? »Ich weiß, daß ich recht habe. Hatte ich nicht mit den Gai-Jin recht? Diesmal habe ich ebenfalls recht.«
Der Plan, den er sich ausgedacht hatte, um die Gai-Jin mitsamt ihrer Flotte aus Edo zu entfernen und Zeit für die eigenen internen Probleme zu gewinnen, war ein durchschlagender Erfolg gewesen. Es war so einfach: »Mit großem Zeremoniell und vorgetäuschter Demut geben wir den Gai-Jin eine geringe Summe als Vorauszahlung, schlagen eine baldige Zusammenkunft mit dem Ältestenrat vor, die immer wieder hinausgezögert oder abgesagt oder, falls nötig, sogar mit Marionetten in Szene gesetzt wird, und lassen im allerletzten Moment, wenn sie mit ihrer Geduld am Ende sind, durchblicken, daß eine Audienz beim Shōgun arrangiert werden kann, sobald er zurückkehrt – die ebenfalls hinausgezögert, neu verhandelt und wieder hinausgezögert werden kann, aber niemals stattfinden wird oder, falls sie irgendwann in der Zukunft doch stattfinden sollte, kein Ergebnis zeitigen wird, das wir nicht wollen. So haben wir einen Teil der Zeit gewonnen, die wir brauchen, und eine Möglichkeit entdeckt, immer wieder mit ihnen fertig zu werden: Indem wir ihre eigene Ungeduld gegen sie einsetzen, ihnen ›Versprechungen‹ machen und eine Menge Suppe geben, doch keinen Fisch, oder höchstens ein paar verfaulte Stücke, die wir nicht brauchen oder wollen. Sie waren zufrieden, ihre Flotte ist in den Sturm davongesegelt und liegt vielleicht auf dem Meeresgrund. Bis jetzt ist noch kein Schiff zurückgekehrt.«
Der alte Toyama sagte: »Die Götter sind uns mit diesem Sturm zu Hilfe gekommen, indem sie uns wieder ihren Göttlichen Wind, den kamikazi-Wind, geschickt haben wie damals vor Jahrhunderten gegen Kublai Khans eindringende Horden. Wenn wir sie hinauswerfen, wird es genauso sein. Die Götter werden uns niemals verlassen.«
»Es stimmt«, hatte sich Adacho gebrüstet. »Ich habe unseren Plan perfekt ausgeführt. Die Gai-Jin waren so fügsam wie eine fünftklassige Kurtisane.«
»Diese Gai-Jin sind ein Geschwür, das niemals heilen wird, solange wir, was militärische Macht und Reichtum betrifft, die Schwächeren sind«, erklärte Anjo gereizt. »Sie sind ein Geschwür, das nicht heilen wird, solange wir es nicht ausbrennen, und das können wir jetzt nicht tun, noch nicht, denn wir haben nicht genügend Mittel, um Schiffe zu bauen und Kanonen zu gießen. Wir können uns nicht ablenken lassen und Truppen entsenden, um die Tore zu erobern, noch nicht. Weder sie noch die Choshu sind unsere unmittelbaren Feinde: die unmittelbaren Feinde sind sonno-joi und die Shishi-Hunde.«
Yoshi war aufgefallen, wie sehr sich Anjo seit dem Attentatsversuch verändert hatte: Er war sehr viel reizbarer und eigensinniger geworden und in seiner Entschlußkraft geschwächt, obwohl sein Einfluß auf die anderen Ältesten darunter nicht gelitten hatte. »Ich bin zwar anderer Meinung, aber wenn Sie meinen, daß wir nicht genügend Streitkräfte haben, rufen wir doch einfach die allgemeine Mobilmachung aus und machen wir Schluß mit den Außenherren und allen, die sich ihnen anschließen!«
»Krieg ist die einzige Möglichkeit, Anjo-sama«, behauptete Toyama, »vergeßt die Shishi, vergeßt die Gai-Jin einen Moment. Die Tore – zuallererst müssen wir unsere Erbrechte zurückerobern.«
»Das werden wir – zum richtigen Zeitpunkt«, hatte Anjo entgegnet. »Zunächst: Der Besuch des Shōgun wird ablaufen wie geplant.«
So hatte Anjo trotz Yoshis ständigem Protest die Abstimmung abermals drei zu zwei gewonnen und unter vier Augen bösartig hinzugesetzt: »Ich hab’s Ihnen gesagt, Yoshi-donno, sie werden immer mit mir stimmen. Die Shishi werden keinen Erfolg haben gegen mich, genausowenig wie Sie, genausowenig wie alle.«
»Selbst Shōgun Nobusada?«
»Der… Der ist kein Feind. Der hört auf meinen Rat.«
»Und Prinzessin Yazu?«
»Die wird gehorchen… Sie wird ihrem Ehemann gehorchen.«
»Sie wird ihrem Bruder, dem Kaiser gehorchen – bis zum Tod.«
Auf diesen Schock hatte Anjo mit verzerrtem Lächeln erwidert: »Denken Sie an einen Unfall? Eh?«
»Ich denke an nichts dergleichen.«
Yoshi erschauerte; allmählich wurde der Mann zu gefährlich…
An der Tür erschien, fast lautlos, eine Silhouette. Obwohl er sicher war, sie erkannt zu haben, fuhr seine Rechte unwillkürlich an das Langschwert, das neben ihm lag. Die Gestalt kniete nieder. Ein zartes Klopfen.
»Ja?«
Sie schob die Tür zurück, verneigte sich lächelnd und wartete.
»Bitte, komm herein, Koiko«, forderte er sie auf, erfreut über diesen unerwarteten Besuch, der seine Dämonen vertrieb.
Sie gehorchte, schloß die Tür, lief in ihrem langen, gemusterten Kimono auf ihn zu, kniete nieder und legte ihre Wange an seine Hand. Dabei entdeckte sie das Gedicht. »Guten Abend, Sire.«
Er lachte und drückte sie zärtlich an sich. »Und wie komme ich zu diesem Vergnügen?«
»Ich hatte Sehnsucht nach dir«, erklärte sie schlicht. »Darf ich dein Gedicht sehen?«
»Selbstverständlich.«
Während sie sein Werk betrachtete, beobachtete er sie, ein immerwährendes Vergnügen für ihn in den vierunddreißig Tagen, seit sie bei ihm innerhalb der Burgmauern weilte. Außergewöhnliche Kleider. Reine, eierschalenfarbene Haut, glänzendes, rabenschwarzes Haar, das ihr, wenn es losgebunden war, bis an die Taille reichte, zierliche Nase, Zähne so weiß wie die seinen, statt nach höfischer Sitte schwarz gefärbt.
»Wie dumm!« hatte sein Vater zu ihm gesagt, sobald er fähig war, ihn zu verstehen. »Warum sollten wir unsere Zähne schwärzen, nur weil es am Hof so üblich ist. Dieser Brauch wurde vor Jahrhunderten von einem Kaiser eingeführt, dessen Zähne alt und verfault waren. Daher ordnete er an, gefärbte Zähne zu haben sei besser anstatt weiße wie ein Tier! Und warum Farbe für Lippen und Wangen benutzen, wie es einige immer noch tun, nur weil ein anderer Kaiser eine Frau sein wollte und sich als Frau aufführte und die Höflinge ihn – sie nachahmten, um sich beliebt zu machen?«
Koiko war eine zweiundzwanzig Jahre alte tayu, eine der höchstrangigen Kurtisanen der Weidenwelt.
Nachdem er Gerüchte über sie gehört hatte und neugierig geworden war, hatte er sie vor einigen Monaten kommen lassen, ihre Gesellschaft sehr genossen und dann, vor zwei Monaten, ihre Mama-san aufgefordert, ihm ein Angebot für ihre Dienste zu unterbreiten. Wie es korrekt war, hatte diese das Angebot seiner Ehefrau geschickt. Seine Ehefrau hatte aus ihrer heimatlichen Burg an ihn geschrieben:
Mein geliebter Ehemann, heute habe ich mit der Mama-san ein sehr zufriedenstellendes Arrangement für die Tayu Koiko aus dem Haus ›Zu den Glyzinien‹ getroffen. Wir hielten es für besser, Sire, daß Du sie ganz für Dich allein hast, statt nur die erste Option auf ihre Dienste, und, da Du von Feinden umgeben bist, auch für sicherer. Dieser Vertrag kann, je nach Deinem Belieben, monatlich verlängert werden, Bezahlung monatlich rückwirkend, um sicherzustellen, daß ihre Dienste dem überaus hohen Standard entsprechen, den Du von ihr erwarten solltest. Deine Konsortin und ich sind beide hocherfreut, daß Du Dich entschlossen hast, Dir ein neues Spielzeug zu nehmen; wir waren und sind ständig um Deine Gesundheit und Sicherheit besorgt. Darf ich Dir zu Deiner Wahl gratulieren? Wie es heißt, ist Koiko wirklich eine Ausnahme. Deinen Söhnen geht es gut, Deiner Tochter und mir ebenfalls, wir sind alle glücklich. Wir schicken Dir unsere immerwährende Treue und sehnen uns nach Deiner Gegenwart. Bitte, halte uns ständig auf dem laufenden, da ich unseren Kämmerer anweisen muß, die entsprechenden Geldmittel zur Verfügung zu halten…
Wie es korrekt war, hatte seine Frau den Betrag nicht erwähnt, und dieser interessierte ihn auch nicht, denn es gehörte zu den Hauptaufgaben einer Ehefrau, das Vermögen der Familie zu verwalten und zu hüten und alle Rechnungen zu begleichen.
Koiko blickte auf. »Dein Gedicht ist makellos, Yoshi-chan«, erklärte sie und klatschte in die Hände. Das ›chan‹ war ein intimer Diminutiv.
»Du bist makellos«, erwiderte er und verbarg seine Freude über ihr Urteil. Von ihren einzigartigen körperlichen Vorzügen abgesehen, war sie in Edo für die hohe Qualität ihrer Kalligraphie, die Schönheit ihrer Gedichte und ihre Klugheit in Kunst und Politik berühmt.
»Ich bewundere deine Art zu schreiben und das Gedicht, es ist ausgezeichnet. Ich bewundere die komplexe Vielfalt deiner Gedanken, vor allem, daß du kein ›wenn‹ hinzugesetzt und das Wort ›regt‹ gewählt hast, wo ein weniger hochentwickelter Verstand ›bewegt‹ oder das auffallendere ›zuckt‹ benutzt hätte, das sexuelle Anklänge besitzt. Die Plazierung des letzten Wortes jedoch, ›beklommen‹ – ach, Yoshi-chan, wie geschickt, dieses Wort an den Schluß zu stellen, ein unterschwelliges Wort, perfekt. Dein Werk ist hervorragend und kann auf unterschiedliche Art interpretiert werden. Es ist wundervoll!«
»Und was glaubst du, was ich damit sagen will?«
Ihre Augen blitzten auf. »Erzähl mir zuerst, ob du’s behalten willst – offen behalten, heimlich behalten oder zerstören.«
»Was ist denn meine Absicht?« fragte er und freute sich an ihr.
»Wenn du es offen behalten willst, oder wenn du es so tun willst, als wolltest du’s verstecken, oder wenn du so tun willst, als sei es geheim, beabsichtigst du, daß es von anderen gelesen wird, die irgendwie unsere Feinde informieren, wie du es willst.«
»Und was werden sie denken?«
»Alle, bis auf die klügsten, werden vermuten, daß deine Entschlußkraft abnimmt, daß deine Ängste dich allmählich überwältigen.«
»Und die anderen?«
Koikos Blick verlor nichts von seinem belustigten Blitzen, aber er sah, wie ein weiteres Funkeln hinzukam. »Von deinen Hauptgegnern«, begann sie behutsam, »würde Shōgun Nobusada vermuten, daß du wie er der Meinung bist, daß du nicht stark genug bist, um eine echte Bedrohung zu sein; erleichtert würde er annehmen, daß es, je länger er wartet, um so leichter wird, dich zu eliminieren. Anjo würde dich um deine Meisterschaft als Dichter und Kalligraph beneiden und höhnisch über das ›beklommen‹ lachen, weil er es für unwürdig und schlecht gewählt hält, aber das Gedicht würde ihn nicht loslassen, würde ihn beunruhigen, vor allem, wenn es ihm als geheimes Dokument hinterbracht wird. Er würde nicht ruhen, bis er achtundachtzig verborgene Bedeutungen herausgefunden hat, die alle seine unerbittliche Gegnerschaft dir gegenüber stärken würden.«
Ihre Offenheit bestach ihn. »Und wenn ich es heimlich behalten würde?«
Sie lachte. »Wenn du es geheimhalten wolltest, hättest du’s sofort verbrannt und mir nicht gezeigt. Schade, so viel Schönheit zu zerstören, sehr schade, Yoshi-chan, aber unabdingbar für einen Mann in deiner Position.«
»Warum? Es ist doch nur ein Gedicht.«
»Ich halte es für etwas Besonderes. Es ist zu gut. Eine solche Kunst kommt von tief innen. Sie enthüllt. Enthüllung ist der Sinn der Lyrik.«
»Weiter.«
Ihre Augen schienen die Farbe zu wechseln, als sie sich fragte, wie weit sie gehen durfte, und ständig seine intellektuellen Grenzen testete, um ihren Herrn zu unterhalten und zu erregen, falls das in seinem Interesse lag. Er bemerkte die Veränderung, erkannte aber nicht den Grund.
»Zum Beispiel«, sagte sie leichthin, »könnte es den falschen Augen verraten, daß deine innersten Gedanken in Wirklichkeit sagen: ›Die Macht meines Vorfahren und Namensvetters Shōgun Toranaga Yoshi liegt in meiner Reichweite und schreit danach, gebraucht zu werden.‹«
Er beobachtete sie, konnte aber nichts in ihren Augen lesen. Eeee, dachte er, und all seine Sinne schrien Alarm. Bin ich so leicht zu durchschauen? Vielleicht ist diese Dame zu scharfsichtig, um am Leben zu bleiben. »Und die Prinzessin Yazu? Was würde die denken?«
»Sie ist die Klügste von allen, Yoshi-chan. Aber das weißt du ja. Sie würde die Bedeutung sofort erkennen – falls du eine bestimmte Bedeutung im Sinn hast.« Wieder ließen ihre Augen nichts erkennen.
»Und wenn es ein Geschenk für dich wäre?«
»Dann würde diese unwürdige Person mit Freude über einen solchen Schatz erfüllt sein – aber in einem Dilemma stecken, Yoshi-chan.«
»Einem Dilemma?«
»Es ist zu kostbar, um verschenkt oder empfangen zu werden.«
Yoshi löste den Blick von ihr und musterte sein Werk aufmerksam. Es war alles, was er sich wünschte, nie wieder würde er so etwas hervorbringen können. Dann betrachtete er sie ebenso durchdringend. Seine Finger nahmen das Papier und reichten es ihr, ließen die Falle zuschnappen.
Ehrfürchtig nahm sie das Papier mit beiden Händen entgegen und verneigte sich tief. Studierte es lange, prägte es sich unauslöschlich ins Gedächtnis. Ein tiefer Seufzer. Vorsichtig hielt sie eine Ecke an die Ölflamme. »Mit deiner Erlaubnis, Yoshi-sama, bitte?« fragte sie formell und sah ihn mit stetem Blick und ruhigen Händen an.
»Warum?« fragte er verwundert.
»Zu gefährlich für dich, derartige Gedanken am Leben zu lassen.«
»Und wenn ich mich weigere?«
»Dann, bitte verzeih, muß ich an deiner Statt entscheiden.«
»Dann entscheide.«
Sofort senkte sie das Papier in die Flamme. Es fing Feuer und loderte auf. Geschickt drehte sie es, bis nur noch ein winziger Fetzen brannte, dann legte sie es behutsam auf einen anderen Papierbogen, und die Flamme erstarb. Schweigend faltete sie das Papier, das die Asche enthielt, zu einem Ogami und legte es wieder auf den Tisch. Der Papierbogen glich nun einem Karpfen.
Als Koiko wieder aufblickte, standen ihre Augen voll Tränen, und er war gerührt. »Es tut mir leid, bitte verzeih«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Aber es ist zu gefährlich für dich… So schade, so viel Schönheit zu zerstören, ich hätte es so gern behalten. So furchtbar schade, aber viel zu gefährlich…«
Zärtlich nahm er sie in die Arme. Wie er wußte, war das, was sie für ihn getan hatte, die einzige Lösung für ihn und für sie. Ihr Scharfblick erschreckte ihn, denn sie hatte seine ursprüngliche Absicht erkannt: daß er geplant hatte, das Gedicht so zu verstecken, daß es gefunden und an alle weitergegeben wurde, die sie genannt hatte, vor allem an Prinzessin Yazu.
Koiko hat recht. Yazu hätte meinen Plan durchschaut und meine wirklichen Gedanken erraten: daß ihr Einfluß auf Nobusada zunichte gemacht werden muß, weil ich sonst ein toter Mann bin. Ohne Koiko hätte ich gleich meinen Kopf auf Yazus Pfahl stecken können! »Nicht weinen, Kleines«, murmelte er, nunmehr überzeugt, daß er ihr vertrauen konnte.
Und während sie sich von ihm trösten und dann wärmen ließ, um anschließend ihn zu wärmen, dachte sie in ihrem dritten, ihrem heimlichsten Herzen – das erste war für alle Welt zu sehen, das zweite nur für ihre engste Familie, das dritte nie, niemals für irgendeinen anderen Menschen –, in diesem geheimen Herzen seufzte sie vor Erleichterung darüber, daß sie wieder eine Probe bestanden hatte, denn mit Sicherheit hatte er sie auf die Probe gestellt.
Zu gefährlich für ihn, einen solchen Schatz zu behalten, doch weit gefährlicher noch für mich, ihn in meinem Besitz zu haben. O ja, mein schöner Herr, es ist leicht, dich zu bewundern, mit dir zu lachen und zu spielen, Ekstase vorzutäuschen, wenn du in mich eindringst – und göttergleich der Gedanke, daß ich am Ende eines jeden Tages, und zwar Tag für Tag, einen Koku verdient habe. Denke daran, Koiko-chan! Ein Koku jeden Tag dafür, daß du an dem erregendsten Spiel auf Erden teilnimmst, mit dem erhabensten Namen auf Erden, mit einem jungen, ansehnlichen, erstaunlichen Mann von großer Kultiviertheit, dessen Stengel der beste ist, den ich jemals erlebt habe… und zugleich mehr Reichtum zu erwerben als irgend jemand jemals zuvor.
Ihre Hände, ihre Lippen und ihr Körper reagierten geschickt, schlossen sich, öffneten sich, öffneten sich weiter, empfingen ihn, leiteten ihn. Sie war wie ein exquisites, fein gestimmtes Instrument, auf dem er spielen konnte, täuschte perfekt Ekstase vor, tat so, als lasse sie sich gehen, ohne es je wirklich zu tun – schließlich mußte sie ihre Kraft und ihren Verstand bewahren, denn er war ein Mann mit vielfältigen Wünschen –, genoß den Wettstreit, drängte niemals zur Eile, führte ihn nur sehr behutsam weiter, hielt ihn unmittelbar vor der Grenze an, ließ ihn los, zog ihn zurück, ließ ihn los, zog ihn zurück und ließ ihn in einem Krampf der Erleichterung endlich los.
Ganz ruhig nun. Stoisch, reglos, um ihn nicht in seinem Frieden zu stören, ertrug sie sein schlafendes Gewicht. Er war mit ihrer Kunst ebenso zufrieden wie mit der eigenen, das wußte sie. Ihr letzter, geheimster, begeisterndster Gedanke, bevor auch sie in den Schlaf hinüberglitt, war: Ich möchte wissen, wie Katsumata, Hiraga und ihre Shishi-Freunde die Worte ›Schwert meiner Väter‹ auslegen…