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Freitag, 23. November
Den ganzen Tag hatte es in der Zwischenstation Otsu vor Aufregung gesummt wie in einem Bienenkorb, vor Vorfreude gepaart mit Angst bei den letzten Vorbereitungen für den nächtlichen Aufenthalt der unendlich erhabenen Besucher, Shōgun Nobusada und Prinzessin Yazu, die heute eintreffen sollten. Wochenlang hatten die Bewohner die Straßen gefegt, alle Häuser und Hütten geputzt, Dächer, Mauern, Brunnen, Gärten gepflegt, überall waren neue Ziegel, Shojis, Tatamis, Veranden zu sehen, während sich die Herberge ›Zu den Zahlreichen Blumen‹, die beste und größte von ganz Otsu, noch immer fast im Panikzustand befand. Begonnen hatte es, als bekannt wurde, daß die Geheiligten Reisenden es ablehnten, in der nahen Shōgunats-Burg Sakamoto abzusteigen, die diese Gegend schon seit der Zeit vor Sekugahara schmückte, und sich statt dessen für die Herberge entschieden hatten: »Alles muß perfekt sein!« hatte der Wirt ehrfürchtig und gleichzeitig vor Angst versteinert gejammert. »Alles, was nicht absolut perfekt ist, wird mit Enthaupten oder zumindest mit Auspeitschen bestraft, Mann, Frau oder Kind! Für alle Zeiten werden die Erzählungen von der Ehre, die uns in dieser einen Nacht gewährt wird, weitergegeben werden, von unserem Erfolg oder unserem Versagen. Der Hohe Herr Shōgun persönlich? In all seinem Glanz? Seine Frau, eine Schwester der Göttlichkeit? Oh ko…«
Am Spätnachmittag eilte Shōgun Nobusada verschleiert, von seinen Leibwachen und Beratern umgeben und völlig von der Umgebung abgeschirmt, von seiner Sänfte durch das Tor in den abgelegenen Bereich der Herberge, der für ihn, die Prinzessin und ihr Gefolge von persönlichen Leibwachen, Dienern, Hofdamen und Zofen reserviert war. Dort gab es vierzig traditionell konstruierte Hütten mit jeweils vier Zimmern, arrangiert um das zentral gelegene Allerheiligste, die Schlafräume und das Badehaus des Shōgun. Viele der überdachten Veranden griffen ineinander und bildeten ein Labyrinth angenehmer Pfade und Brücken über zierliche Teiche und Bäche, die von winzigen Bergen herabkamen, und das alles innerhalb einer hohen, dichten Hecke aus sorgfältig gestutzten Schierlingstannen.
Das Zimmer war warm und peinlich sauber; es gab neue Tatamis und blank polierte Holzkohlenbecken. Müde und schlecht gelaunt warf Nobusada Schleierhut und Überkleidung beiseite. Wie immer war die Sänfte unbequem, die Reise holprig gewesen. »Ich hasse dieses Haus jetzt schon«, sagte er zu seinen beiden Kammerherrn, deren Stirn gemeinsam mit jenen der zahlreichen Dienerinnen den Boden berührte. »Es ist so klein, es stinkt, und mir tut der ganze Körper weh! Ist das Bad fertig?«
»O ja, Sire, alles…«
»Endlich Otsu, Sire«, sagte Prinzessin Yazu fröhlich, die mit ihren Hofdamen hereingefegt kam. »Morgen sind wir schon zu Hause, und alles wird ganz wunderbar werden.« Auch sie legte ihren riesigen Schleierhut und die Reisekleidung ab. Die Dienerinnen beeilten sich, alles aufzusammeln. »Morgen sind wir zu Hause! Zu Hause, Sire! Da lohnt es sich doch, ein paar Zwischenstationen auszulassen, neh?«
»O ja, Yazu-chan, wenn du meinst«, gab er, sofort von ihrer Begeisterung angesteckt, lächelnd zurück.
»Du wirst all meine Freunde kennenlernen, meine Vettern, Tanten, Onkel, meine ältere Schwester, meine kleine Schwester, meinen geliebten Stiefbruder Sachi, neun wird er in diesem Jahr…« Vor Glück wirbelte sie im Zimmer umher. »Und Hunderte von entfernteren Verwandten, und in ein paar Tagen wirst du den Kaiser kennenlernen, und er wird dich ebenfalls wie einen Bruder empfangen und all unsere Probleme lösen, und dann werden wir in Ruhe leben können. Es ist kalt hier. Warum ist nicht alles vorbereitet? Wo ist das Bad?«
Der Kammerherr – ein beleibter, grauhaariger Mann von fünfzig Jahren, mit wenigen Zähnen und schweren Hängebacken – war einen Tag zuvor schon mit einer Vorausabteilung von speziellen Dienerinnen und Köchen hier eingetroffen, um die Räume und vor allem das Essen und das Obst vorzubereiten, mit reichlich poliertem Reis, den der empfindliche Magen des Shōgun brauchte und die Prinzessin verlangte. Überall standen die prächtigen Blumengebinde eines Ikebana-Meisters. Innerlich fluchend, verneigte er sich abermals. »Zusätzliche Holzkohlenbecken stehen bereit, Kaiserliche Hoheit. Das Bad ist fertig, Ihre leichte Mahlzeit ebenfalls – genauso, wie Sie und Shōgun Nobusada es verlangt haben –, sowie das Abendessen. Es wird ein äußerst üppiges…«
»Emiko – unser Bad!«
Sofort wurde sie von der Oberhofdame inmitten eines Schwarms weiterer Damen und Dienerinnen hinaus- und den Korridor entlanggeführt. Nobusada funkelte den Kammerherrn wütend an und stampfte mit dem winzigen Fuß auf. »Und ich soll warten? Zeigen Sie mir das Bad, und lassen Sie die Masseuse kommen, ich will, daß mir sofort der Rücken massiert wird. Und sorgen Sie dafür, daß es keinen Lärm gibt – ich verbitte mir jeglichen Lärm!«
»Jawohl, Sire, der Hauptmann erläßt den Tagesbefehl einmal am Tag, und die Masseuse werde ich ins Badehaus schicken, Sire. Sako wird…«
»Sako? Die ist nicht so gut wie Meiko – wo ist Meiko?«
»Tut mir leid, Sire, sie ist krank.«
»Sagen Sie ihr, daß sie sofort gesund werden soll. Spätestens bis Sonnenuntergang. Kein Wunder, daß sie krank ist. Ich fühle mich auch nicht wohl! Diese widerliche Reise! Baka! Wie viele Tage unterwegs? Es müßten mindestens dreiundfünfzig sein, dabei sind es nicht mal dreißig, wozu diese Hast…«
Im Garten wartete der Hauptmann der Eskorte auf den Kammerherrn. Er war in den Dreißigern, bärtig, gründlich durchtrainiert und ein berühmter Meister des Schwerts. Sein Adjutant eilte herbei.
»Alles gesichert, Herr.«
»Gut. Von hier an müßte alles Routine sein«, sagte der Hauptmann mit müder, rauher Stimme. Beide trugen eine leichte Reiserüstung mit Helmen und zwei Schwertern über der Shōgunats-Tunika und Kniehosen. »Einen Tag noch, dann wird unser Problem schlimmer. Ich kann immer noch nicht glauben, daß der Rat und der Vormund ein so gefährliches Unternehmen genehmigt haben.«
Dasselbe hatte der Adjutant bisher täglich gehört. »Jawohl, Hauptmann. Aber wenigstens werden wir in unserer eigenen Kaserne sein, zusammen mit Hunderten von weiteren Männern.«
»Nicht genug, niemals genug, wir hätten niemals reisen sollen. Aber wir haben’s getan, und Karma ist Karma. Kontrollieren Sie die übrigen Männer, und vergewissern Sie sich, daß die Nachtwachenliste für die Soldaten korrekt ist. Und dann sagen Sie dem Stallmeister, er soll sich um meine Stute kümmern, sich ihren linken Fuß ansehen, möglicherweise hat sie einen Splitter im Huf…« Zu jener Zeit war das Beschlagen der Pferde in Japan noch unbekannt. »Sie hätte fast gescheut, als wir durch die Sperre kamen. Dann kommen Sie zurück und erstatten Bericht.« Der Mann eilte davon.
Der Hauptmann war zufriedener als sonst. Auf seinem Rundgang durch die Herberge und das Gelände innerhalb des hohen, riesigen Bambuszauns und vor allem durch seinen Sektor, den von Hecken begrenzten Bereich mit einem einzigen Tor, hatte er sich vergewissert, daß die Hüttengruppe des Shōgun leicht zu verteidigen war, daß kein anderer Reisender die Nacht in dieser Herberge verbringen durfte, daß die Wachen die Parole kannten und wußten, was ihre oberste Pflicht war: niemanden unaufgefordert näher als fünf Meter an den Shōgun und seine Frau heranzulassen, schon gar nicht mit irgend welchen Waffen – niemanden, bis auf den Vormund, den Ältestenrat und ihn selbst sowie die ihn begleitenden Wachsoldaten. Diese Vorschrift war allen bekannt, die Strafe für bewaffnete Annäherung der Tod, sowohl für den Bewaffneten wie für die unaufmerksamen Wachen, es sei denn, der Shōgun begnadigte sie persönlich.
»Ah, Kammerherr! Irgendeine Änderung der Pläne?«
»Nein, Hauptmann.« Der alte Mann seufzte und trocknete sich die Stirn. »Die Erhabenen baden, wie gewöhnlich; dann werden sie ruhen, wie gewöhnlich, bei Sonnenuntergang ihr richtiges Bad mit Massage nehmen, wie gewöhnlich, um anschließend zu Abend zu essen, wie gewöhnlich, Go zu spielen, wie gewöhnlich, und dann ins Bett. Alles in Ordnung?«
»Hier, ja.« Innerhalb der Einzäunung, auf einem Gelände von etwa zweihundert Quadratmetern, stand dem Hauptmann, wann immer er wollte, eine Truppe von hundertundfünfzig Samurai zur Verfügung. Eine Einheit von zehn Mann bewachte den einzigen Zugang, eine hübsche Brücke über einen Bach, die zu hohen, dekorativen Balken und ebenso reich geschmückten Toren führte. Rings an der umgebenden Hecke war alle zehn Schritt ein Samurai postiert. Diese würden von frischen Einheiten der sechshundert Samurai in der Kaserne gleich außerhalb des Haupttors oder in anderen nahen Herbergen abgelöst werden. Der Garten und der Außenzaun wurden von sehr diskreten Patrouillen bewacht, denn Lärm und eine allzu offensichtliche Präsenz von Samurai erzürnte die Prinzessin und somit ihren Ehemann.
Über ihnen zogen sich dicke Wolken zusammen; die blasse, dunstige Sonne berührte noch nicht den Horizont, ein kräftiger Wind spielte mit den Wolken. Es war kalt und drohte kälter zu werden. Diener entzündeten Laternen, deren Lichter sich schon in den Teichen spiegelten und auf den Steinen glänzten, die kurz zuvor zu diesem Zweck befeuchtet worden waren.
»Diese Herberge ist wunderschön«, lobte der Hauptmann. »Eindeutig die beste, obwohl auch die meisten anderen gut waren.« Es war das erste Mal, daß er eine solche Reise mitmachte. Sein ganzes Leben hatte er in oder nahe der Burg Edo verbracht, bei oder in der Nähe von Nobusada oder dem vorherigen Shōgun. »Wunderschön, ja. Aber mir wäre es lieber, der Herr Shōgun und seine Frau wären in der Burg Sakamoto abgestiegen. Sie hätten darauf bestehen sollen.«
»Ich hab’s versucht, Hauptmann, aber… aber sie war fest entschlossen.«
»Ich bin froh, wenn wir in unserer eigenen Kaserne sind und sie innerhalb der Palastmauern, und sogar noch froher, wenn wir alle sicher wieder in der Burg Edo sind.«
»Ja«, stimmte ihm der Kammerherr zu, der seinen Herrn und seine Herrin mit ihren ständigen Nörgeleien, ihrem Jammern und Kritisieren insgeheim gründlich satt hatte. Immerhin, dachte er, während sein Rücken schmerzte und auch er sich nach einem Bad, einer Massage und der Zuwendung seines jugendlichen Freundes sehnte, wenn ich so hochstehend wäre wie sie, von Geburt an so verhätschelt und erst sechzehn, würde ich wohl genauso sein. »Darf ich Sie um die Parole bitten, Hauptmann?«
»Bis Mitternacht ›Blauer Regenbogen‹.«
Zweihundert Meter entfernt am östlichen Ortsrand des Dorfes stand nicht weit von der Tokaidō und der Otsu-Sperre ein altes, verfallenes Bauernhaus am Ende einer Gasse. Drinnen starrte der Anführer der Shishi-Angriffstruppe, ein junger Choshu namens Saigo, wütend den Bauern, seine Frau, die vier Kinder, Vater und Mutter, Bruder und eine Magd an, die verängstigt in einer Ecke knieten. Dies war der einzige Raum der Hütte und diente ihnen zum Wohnen, Essen, Arbeiten, Schlafen. Ein paar kümmerliche Hühner gackerten nervös in einem Holzkäfig. »Vergeßt nicht, was ich euch gesagt habe. Ihr wißt nichts und habt nichts gesehen.«
»Jawohl, Herr, bestimmt, Herr«, wimmerte der alte Mann.
»Halt den Mund! Dreht euch zur Ecke, den Rücken zu mir, und macht die Augen zu – alle! Bindet euch Tücher um die Augen!«
Sie gehorchten. Sofort.
Saigo war neunzehn, hochgewachsen und kräftig gebaut, mit einem derben, hübschen Gesicht; er trug, ganz ähnlich wie die Samurai in der Herberge, eine kurze, dunkle Tunika, eine Kniehose, zwei Schwerter, Strohsandalen und keine Rüstung. Als er sicher war, daß die Bauern blind gehorchten, setzte er sich neben die Tür, spähte durch Risse im Fensterpapier hinaus und begann zu warten.
Deutlich erkannte er die Straßensperre und die Wachhäuser. Da die Sonne noch nicht unterging, war die Sperre für Nachzügler noch offen. Er und seine Männer hatten viele Tage gebraucht, um dieses Haus zu finden, das sich vorzüglich für ihre Zwecke eignete. Die Hintertür führte in ein Labyrinth von Gassen und Pfaden, perfekt für einen schnellen Rückzug. An diesem Nachmittag, sobald der Shōgun mit seiner Begleitung die Sperre passiert hatte, war er überraschend hier eingedrungen.
Schritte. Er lockerte das Schwert; dann entspannte er sich. Ein zweiter junger Mann kam lautlos herein, unmittelbar gefolgt von einem dritten aus einer anderen Richtung. Bald befanden sich sieben weitere im Raum. Vor der Tür stand ein Mann Wache, ein anderer an der Ecke der Gasse, die in die Tokaidō mündete, während ein elfter, der sich im Dorf versteckte, als Kurier dienen sollte, der die frohe Erfolgsbotschaft sogleich zu Katsumata nach Kyōto bringen und dadurch den Überfall auf Ogama und die Tore auslösen sollte. Alle waren sie zähe junge Männer, gekleidet wie er, ohne Rüstung und Identifizierungsmöglichkeit, ehemalige Goshi – der niedrigste Samurai-Rang –, jetzt Ronin, alle mehr oder weniger im selben Alter, zwanzig bis zweiundzwanzig. Nur Saigo, neunzehn, und Tora, siebzehn, sein Satsuma-Stellvertreter, waren jünger. Der Luftzug, der durch die Risse im Fenster kam, ließ sie erschauern – das und die eigene Nervenspannung.
Durch Zeichen forderte er sie auf, ihre Schwerter, Shuriken und anderen tödlichen Waffen zu überprüfen – während des gesamten Unternehmens waren Worte überflüssig. Alles, was vorausgeplant werden konnte, war schon vor Tagen beschlossen worden. Ein kurzer Blick zum Fenster hinaus. Die Sonne berührte den Horizont, der Himmel war klar. Es wurde Zeit.
Feierlich verneigte er sich vor ihnen und sie sich vor ihm.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Bauern zu. »Draußen werden drei Mann Wache halten«, erklärte er barsch. »Ein einziges Geräusch von euch, bis ich zurück bin, und sie werden euer Haus niederbrennen.«
Wieder wimmerte der alte Mann.
Saigo winkte den anderen, und sie folgten ihm. Ebenso der Wachtposten draußen und der andere an der Ecke. Nun gab es kein Zurück mehr. Die Buddhisten hatten vor einem Schrein ein letztes Gebet gesprochen, die Shinto einen letzten Räucherstab entzündet, um ihren Geist mit dem dünnen Rauchfaden zu vereinen, der die Zerbrechlichkeit des Lebens symbolisierte. Alle hatten ihre Todesgedichte geschrieben und sie sich auf die Vorderseite ihrer Tuniken genäht. Stolz hatten sie ihre richtigen Lehen angegeben, nur die Namen waren immer noch falsch.
Draußen teilten sie sich zu Paaren, die jeweils eine andere Route einschlugen. Sobald sie in ihrer Position waren, kauerten sie sich in Sichtweite voneinander in die wuchernde Vegetation an der Einzäunung hinter der Herberge. Saigo befand sich an der Südostecke. Der Zaun war drei Meter hoch und sehr stabil aus Riesenbambusstangen mit scharfen Spitzen konstruiert worden. Inzwischen verloren die Schatten im nachlassenden Licht ihre Form. Warten. Herzklopfen, feuchte Handflächen, das kleinste Geräusch eine feindliche Patrouille. Ein merkwürdiger, starker Geschmack im Mund. Stechende Schmerzen in den Lenden. Irgendwo in der Nähe begann eine Grille mit ihrem durchdringenden Paarungsruf, der Saigo an sein Todesgedicht erinnerte:
Eine Grille mit ihrem freudigen Lied
Stirbt dennoch rasch.
Besser von Freude erfüllt als traurig.
Er spürte, wie sich ein Schleier vor seinen Augen bildete, als würde sich der Himmel mit Dunst bedecken. Es war schön, so glücklich zu sein und dennoch so traurig.
Drinnen, hinter dem Zaun, hörte er die Stimmen von Dienstboten, Dienerinnen, gelegentlich einem Samurai, das Klappern des Metallgeschirrs im nahen Küchentrakt. In der Ferne ertönte ein Samisen, von Gesang begleitet. Warten. Schweiß trat auf Saigos Gesicht. Dann hörte er, kaum wahrnehmbar, das sich nähernde Rascheln eines Kimonos, und ein Mädchen flüsterte: »Blauer Regenbogen… Blauer Regenbogen.« Dann Stille. Wieder die Geräusche aus der Herberge.
Sofort winkte er Tora neben sich. Lautlos eilte der junge Mann zu den anderen Einheiten, nannte ihnen die Parole und kam zurück. Auf Saigos Signal nahm jedes Paar die Leitern, die sie angefertigt, getarnt und sorgfältig im hohen Unterholz versteckt hatten, und lehnte sie an den Zaun. Wieder beobachtete er den Himmel. Als auch der letzte Schein der Sonne verschwunden war, gab er ein weiteres Signal, und alle kletterten gleichzeitig über den Zaun, sprangen auf den Boden hinab, der weich und geharkt war, und kauerten sich, jeden Moment zum Frontalangriff bereit, regungslos in die liebevoll gepflegten Büsche.
Erstaunlicherweise gab es noch keinen Alarm. Vorsichtig sahen sie sich um. Vor ihnen, sechzig Meter entfernt, lag der Bereich des Shōgun, über dessen hoher, dichter Tannenhecke gerade noch die etwas höheren Strohdächer der zentralen Schlaf- und Baderäume zu sehen waren. Der Haupteingang, weit von ihnen entfernt, stand noch offen. Alles war so, wie sie es erwartet hatten. Bis auf die Wachen, die weit zahlreicher waren als geplant. Bittere Galle stieg ihnen in den Mund.
Zu ihrer Rechten lag der Hauptküchentrakt mit den großen, dampfenden Kesseln und vielen Hilfskräften – auch hier wieder Wachen. Links und auf dem ganzen Gelände verteilt lagen in anderen Gärten mit Bächen und Brücken die Gästehütten, jede mit einem gepflegten Zugangsweg, der sich durch die Büsche schlängelte. Wieder Enttäuschung, denn sie hatten erwartet, daß sie belegt seien und ihnen als Deckung und notwendige Ablenkung dienen könnten.
Karma, dachte Saigo. Dennoch: sowohl unsere Positionen als auch die des Feindes sind genau wie vorausgesehen, der Plan ist gut, und wir kennen die Parole. Während der vorangegangenen Wochen hatte er sich, als normaler Samurai-Reisender verkleidet, die richtige Kurtisane ausgesucht und sich in ihre Gefühle geschlichen, bis sie ihm auf einem heimlichen Rundgang das ganze Gelände zeigte – sogar die Hütten, in denen sich die Erhabenen Reisenden ausruhen sollten.
»Warum nicht?« hatte er geflüstert. »Wer soll denn schon davon erfahren? Es dauert doch noch Tage, bis sie eintreffen – oh, du bist so wunderschön! Komm, wir wollen uns dort vereinigen, wo ein Shōgun und eine Schwester des Sohnes des Himmels sich vereinigen werden! Das wird etwas, wovon wir noch unseren Enkeln erzählen können, eh? Ich glaube, ich werde dich niemals verlassen…«
Ebenso einfach war es gewesen, eine Badehausdienerin zu finden, die eine Anhängerin der Shishi war, und sie zu überzeugen, daß es völlig ungefährlich sei, zu lauschen und ein paar Worte in die Nacht hineinzuflüstern.
Er spürte, wie Tora seinen Arm berührte. Aufgeregt deutete der junge Mann nach vorn. Durch das ferne Tor war eine Patrouille gekommen und begann einen Rundgang über das Gelände. Kleine Lichtteiche unter den Laternen. Die Patrouille würde unweigerlich auch hier vorbeikommen, und zwar sehr nah. Mit seinem Signal, dem Ruf eines Nachtvogels, gab er den Befehl.
Sofort duckten sie sich tiefer in die Büsche und hielten, kaum atmend, den Kopf gesenkt. Die Patrouille näherte sich und ging vorüber, ohne sie zu sehen – genau wie Katsumata es vorausgesagt hatte, als er diesen Angriffsplan erläuterte: »Anfangs wird es nicht schwerfallen, in der Nacht unsichtbar zu bleiben. Vergeßt nicht, daß die Überraschung für euch arbeitet. Niemand ist darauf gefaßt, daß ihr dort eindringt. Denn wer würde es wagen, den Shōgun zu überfallen, der doch von so vielen Männern beschützt wird? In einer Herberge? Unmöglich! Denkt daran, mit Lautlosigkeit, Überraschung und grausamer Geschwindigkeit werden einer oder zwei von euch bis ins Zentrum vordringen können – einer genügt.«
Saigo beobachtete, wie die Feinde davonmarschierten. Eine wundervolle Wärme durchstrahlte ihn, und seine Zuversicht kehrte zurück. Noch eine kurze Wartezeit, bis die feindliche Patrouille um die Ecke gebogen war, dann winkte er dem Angriffstrupp, sich auf die vorgesehenen Positionen zu begeben. Im Schutz der Büsche glitten vier Mann an seine rechte, zwei an seine linke Seite. Als alle an Ort und Stelle waren, holte er tief Luft, um seinen Herzschlag zu verlangsamen; dann gab sein Signal, wieder der Ruf eines Nachtvogels, den Einsatzbefehl. Sofort schlich sich das Paar ganz rechts aus dem Gebüsch auf den Weg, die beiden ordneten die Schnüre an ihren Kniehosen und begannen, die Arme umeinandergelegt wie ein Liebespaar, davonzuschlendern. Innerhalb weniger Augenblicke wurden sie von den Wachen an der nächstgelegenen Hecke gesichtet. »Halt, ihr beiden!«
Die jungen Männer gehorchten. Einer rief: »Blauer Regenbogen, Blauer Regenbogen, Herr Feldwebel!« Und beide lachten, gaben vor, verlegen zu sein, und schlenderten Hand in Hand davon.
»Halt! Wer seid ihr?«
»Oh, tut uns leid, nur Freunde auf einem Nachtspaziergang«, antwortete der junge Mann mit seiner sanftesten, weichsten Stimme. »Blauer Regenbogen. Haben Sie unsere Parole vergessen?«
Einer der Samurai lachte. »Wenn der Hauptmann euch beim ›Spazierengehen‹ in den Büschen hier erwischt, kriegt ihr mehr als einen Blauen Regenbogen, und eure Backen werden alle vier erfahren, was eine Tracht Prügel ist.«
Wieder taten beide jungen Männer, als lachten sie. Weitere Aufforderungen zum Stehenbleiben ignorierend, gingen sie gemächlich davon. Schließlich rief der Feldwebel laut: »He, ihr beiden! Kommt sofort zurück!« Einen Augenblick drehten sie sich um und riefen gekränkt, was sie hier machten, könne doch niemandem schaden. Inzwischen hatten Saigo und die anderen, durch die Ablenkung gedeckt, kriechend ihre endgültigen Positionen erreicht. Gespannt vor freudiger Erregung darüber, daß sie noch nicht entdeckt worden waren, ruhten sie sich, obwohl sie wußten, daß die Ablenkung so gut wie beendet war, einen Moment aus. Der Ruf des Nachtvogels, den Saigo diesmal ausstieß, war so laut, daß er die beiden jungen Männer erreichte.
Ohne innezuhalten taten sie, als lachten sie laut auf und liefen fröhlich Hand in Hand davon, als sei das Ganze ein Spiel. Scheinbar achtlos gerieten sie dabei in einen der Lichtteiche, so daß sie zum erstenmal deutlich zu erkennen waren. Mit einem Wutschrei machten sich der Feldwebel und die vier Mann an die Verfolgung. Die Wachen am fernen Haupttor spähten angestrengt in die Dunkelheit, um zu sehen, was da vorging, und die Wachen an der Hecke, die etwas sehen konnten, winkten eilig andere herbei.
Gleich darauf waren die beiden Shishi umzingelt. Rücken an Rücken, mit gezogenen Schwertern blieben sie unter einem Hagel von Fragen schweigend stehen. Weder an ihrer Haltung noch an der Art, wie sie die Zähne bleckten, war jetzt noch etwas Weibisches.
Wutentbrannt trat der Feldwebel einen Schritt vor. Der junge Mann ihm gegenüber war bereit. Die Rechte fuhr in seinen Ärmel, kam mit einem Shuriken wieder hervor, und ehe sich der Feldwebel ducken oder ausweichen konnte, grub sich der fünfzackige Stern aus Stahl in seine Kehle. Gurgelnd, an seinem eigenen Blut erstickend, fiel er vornüber. Beide Shishi sprangen in die Angriffsstellung, doch keiner vermochte aus dem Kreis auszubrechen, und obwohl sie tapfer kämpften und drei Samurai verwundeten, waren sie den beiden anderen nicht gewachsen, die vergeblich versuchten, sie zu entwaffnen und lebend gefangenzunehmen.
Einer der jungen Männer erhielt einen Schwertstreich in den unteren Teil des Rückens und schrie auf – schwer verwundet, doch nicht so schwer, daß er sofort tot war. Der andere fuhr herum, um ihm zu helfen, wurde im selben Moment tödlich verwundet und brach sterbend zusammen. »Sonno-joi«, keuchte er noch. Entsetzt hörte es der andere, machte einen letzten, schwächlichen Versuch, sich gegen einen Angreifer zu wehren, kehrte sodann sein Schwert gegen sich selbst und stürzte sich hinein.
»Holt den Hauptmann«, keuchte ein Samurai, dem das Blut aus einer Schwertwunde am Arm strömte. Einer der anderen lief davon, während die übrigen sich um die Toten versammelten und der Feldwebel noch immer gurgelte, aber dem Tod sehr schnell entgegenging. »Für den können wir nichts mehr tun. Ich hab noch nie einen so schnellen Shuriken gesehen.« Jemand drehte die beiden Toten um. »Seht doch, Todesgedichte! Tatsächlich Shishi – eeee, beide Satsumas! Die müssen wahnsinnig geworden sein.«
»Sonno-joi!« murmelte ein anderer. »Das ist kein Wahnsinn.«
»Es ist Wahnsinn, so etwas laut zu sagen«, warnte ihn ein hartgesichtiger Ashigari. »Wenn ein Offizier das hört.«
»He, diese mutterlosen Hunde kannten die Parole; hier muß ein Verräter sein!« Mißtrauisch sahen sie einander an.
Auf der rechten Seite stand wie erstarrt das Küchenpersonal, das keine Ahnung hatte, was sich da abspielte. Viele Samurai, neugierig von der Hecke herübergekommen, starrten die Toten an und schufen so die Lücke, die Katsumata und Saigo eingeplant hatten.
Wieder gab Saigo ein Signal. Seine beiden stärksten Kämpfer brachen aus dem Gebüsch ganz rechts hervor und liefen zur südöstlichen Ecke. Und wurden sofort entdeckt. Fluchend eilten die beiden nächststehenden Samurai hinüber, um ihnen den Weg abzuschneiden, während andere ihnen zu Hilfe kamen. Wieder begann ein heftiger Kampf Mann gegen Mann, wobei die Dunkelheit den Angreifern nützlich war. Ein Verteidiger schrie auf und fiel, seinen halb abgetrennten Arm haltend, zu Boden. Weitere Samurai eilten von der Hecke unmittelbar vor Saigo hinzu, und kurz bevor die Samurai die beiden Kämpfer überwältigten, brachen die beiden Shishi mit einem koordinierten Manöver die Schlacht ab und taten, als flüchteten sie Hals über Kopf auf den Zaun beim Küchentrakt zu, der am weitesten von Saigo und den drei letzten Paaren entfernt war. Während der Flucht lösten sie Stricke mit kleinen Widerhaken an einem Ende von ihrer Taille. Am Zaun angelangt, warfen sie sie geschickt hinüber und begannen hinaufzuklettern, während die Verfolger ihre Anstrengungen verdoppelten.
Inzwischen galt die gesamte Aufmerksamkeit diesen beiden. Die Wachen in der Nähe des Eingangs und der anderen Seite des Shōgun-Komplexes, die immer noch nicht genau wußten, was da vorging, sondern nur, daß sich zwei Ronin auf dem Gelände befanden und über den Zaun zu entkommen versuchten, liefen los, um ihnen den Weg abzuschneiden. Andere liefen am Zaun entlang, um sie von jener Seite zu attackieren.
Einer der Shishi erreichte die Oberkante des Zauns, doch ehe er hinüberklettern konnte, grub sich ein Messer in seinen Körper, und er fiel rücklings in die Büsche. Der andere ließ das Seil fallen, lief zu seinem Freund und sah gerade noch, wie er sich das eigene Messer in die Kehle stieß, um der Gefangenschaft zu entgehen, bevor er unter einem Hagel von Schlägen selbst zusammenbrach. Er drehte und wand sich und kämpfte mit aller Kraft, wurde aber sogleich entwaffnet und von vier Samurai zu Boden gedrückt.
»Also, wer bist du?« fragte atemlos ein Samurai. »Wer bist du, und was für ein Spiel treibst du?«
»Sonno-joi… gehorcht dem Kaiser«, keuchte der Mann und versuchte vergeblich, sich ihrem Griff zu entwinden. Immer mehr Samurai versammelten sich um ihn, so daß er sicher war, seine Rolle bei dem Überfall gut zu spielen und sein Ablenkungsmanöver noch eine Weile durchhalten zu können. Vor der Gefangennahme hatte er keine Angst, denn im Kragen seines Kimonos, in Reichweite seiner Zähne, steckte eine Phiole mit tödlichem Gift. »Ich bin Hiroshi Ishii aus Tosa und verlange den Shōgun zu sehen.«
Von dort, wo sie sich versteckt hielten, konnten Saigo und die fünf Männer, die bei ihm waren, alles hören, was ihr Freund sagte, ihre Aufmerksamkeit galt jedoch der Hecke vor ihnen und dem fernen Haupteingang. Die wenigen dort zurückgebliebenen Wachen kamen jetzt ebenfalls zu dem Gefangenen, und nun endlich war der Weg frei. »Los!«
Die sechs Männer, mit Saigo und Tora an der Spitze, sprangen auf und liefen los. Erst als sie schon fast die halbe Distanz zurückgelegt hatten, ertönte ein Warnruf, und die Samurai, die die Toten der ersten Gruppe umringten, begannen zurückzulaufen, um ihnen zuvorzukommen. Sofort verdoppelte Ishii seine Anstrengungen, sich zu befreien; er tobte und schrie, um jene abzulenken, die ihn festhielten, dann jedoch wurde er durch einen Faustschlag in die Bewußtlosigkeit geschickt.
»Ihr beiden bleibt hier«, keuchte der Samurai, der sich die aufgeplatzten Handknöchel leckte. »Bringt diesen Hundesohn aber nicht um; wir brauchen ihn lebend.« Damit erhob er sich schwerfällig und hinkte, eine tiefe Schwertwunde am Oberschenkel, mühsam zu den anderen hinüber.
Einige Verteidiger kamen den sechs Shishi näher, die noch immer direkt auf die Hecke zuhielten, die sich im Bogen in beiden Richtungen erstreckte. »Jetzt!« befahl Saigo. Sofort fuhr das Paar zu seiner Rechten herum und nahm, Shuriken in der Hand, Verteidigungsposition ein. Vorsichtig bremsten die verfolgenden Samurai ihr Tempo, stoben nach links und rechts auseinander, finteten und griffen an; die Shuriken fanden zwar ihr Ziel, verwundeten aber nicht schwer genug, und so begann ein weiterer Nahkampf, sechs Samurai gegen zwei Shishi.
Vom Haupttor kamen Verstärkungen gelaufen, andere eilten vom ersten Ablenkungsmanöver herüber, und alle, Verteidiger und Angreifer, trafen am endgültigen Zielpunkt zusammen: am Tor zu den Quartieren des Shōgun. Als die Männer vom Haupttor der Herberge zu ihrem Entsetzen sahen, daß die Hecken und der Eingang – bei geschlossenen Türen – völlig unbewacht waren, machten sie kehrt, um sich zwischen die Shishi und den Eingang zu stellen, überließen anderen den Angriff und jagten hektisch los, um vor allem das Tor zu schützen. Die beiden Shishi hinter Saigo und Tora attackierten, retirierten und deckten ihnen noch immer den Rücken. Beide Männer waren verwundet, aber zwei Samurai wanden sich vor Schmerz am Boden. Vier gegen zwei, während andere nicht mehr weit entfernt waren.
»Jetzt!« befahl Saigo. Die beiden zu seiner Linken brachen aus und nahmen Richtung auf den Eingang, den sie zweifellos vor den Verteidigern erreichen würden. Diese Erkenntnis veranlaßte andere Samurai, die sich auf Saigo stürzen wollten, ebenfalls die Richtung zu ändern und zum Eingang zu laufen. Sofort fuhren Saigo und Tora herum und beteiligten sich an dem Kampf hinter ihnen. Ihr wütender Angriff beseitigte zwei der verbliebenen vier Samurai und half, die restlichen Feinde auszuschalten – nur Saigo und Tora, die allerdings schwer keuchten, waren noch unversehrt.
Unverzüglich befahl Saigo: »Los!« Beide Männer riefen laut: »Sonno-joi!« und setzten sich unter Schmerzen in Trab, um den Angriff auf den Eingang zu stützen und dadurch weitere Samurai abzuziehen, damit Saigo und Tora ihren Sturm auf die Hecke fortsetzen konnten.
Das erste Shishi-Paar, das zum Eingang stürmte, erreichte den schmalen Pfad und hielt sofort auf das Tor zu. Einer von ihnen wollte es aufstoßen. Im selben Moment zischte ein Pfeil ins Holz, dann wurden die beiden Männer getroffen und sogleich mit den Pfeilen der Bogenschützen gespickt, die zu den Verstärkungen gehörten. Hilflos, ohne ihren Auftrag ausführen zu können, schrien sie auf und starben im Stehen. Das zweite Paar erreichte den Zugangsweg. Der eine stürzte sich auf die angreifenden Samurai, der andere auf das Tor, stolperte über seine toten Kameraden und starb, von vier Pfeilen durchbohrt. Sein Partner attackierte die Samurai und wurde prompt getötet. Seit dem Beginn waren nur Minuten vergangen.
Nun war der Weg zum Eingang frei. In wenigen Momenten würden die leichtfüßigsten Verteidiger das Tor erreichen, dann gab es für Saigo und Tora, die ihre Laufstrecke fast ganz hinter sich gebracht hatten und im Begriff waren, in Richtung Tor abzubiegen, keine Möglichkeit mehr, ihr Ziel zu erreichen. Aus diesem Grund mäßigten die Verteidiger ihr Tempo, zielten die Bogenschützen, des Sieges sicher, gemächlicher. Zu aller Erstaunen jedoch bogen Saigo und Tora unmittelbar vor der Hecke nicht seitwärts ab, sondern liefen weiter vorwärts und warfen sich, Seite an Seite, mitten in die Hecke hinein.
Der Schwung – das, und die akkurate Berechnung ihres Sprungs – bewirkte, daß sie hindurchbrachen. In den vorangegangenen Tagen hatte Saigo herausgefunden, daß die Äste zwar fest ineinander verflochten waren, die Baumstämme jedoch einen halben Meter Abstand voneinander hatten, so daß der klug berechnete Ansturm sie, wie er vermutete, glatt hindurchtragen würde.
Und so war es, obwohl die Äste ihnen blutende Wunden an Gesicht und Armen zufügten. Die beiden Männer landeten genau dort, wo Saigo es geplant hatte: auf dem Weg neben der Veranda, die zum Badehaus führte. Sekundenlang war niemand zu sehen; dann starrten mehrere von panischem Schrecken erfaßte Dienerinnen und Diener sie offenen Mundes von der Haustür her an und stürzten davon. Saigo führte den lautlosen Vorstoß an – den Weg entlang, die Treppe hinauf und um die Verandaecke. Von irgendwoher tauchten zwei unbewaffnete, unvorbereitete und übereifrige Beamte auf; einer von ihnen war der Kammerherr. Saigo metzelte beide nieder, tötete den Kammerherrn auf der Stelle, verwundete den anderen schwer und stürmte weiter. Tora versetzte dem anderen den Todesstoß, sprang über die beiden Leichen und lief hinter ihm her.
Um die Ecke der Veranda und direkt durch die leichte Shoji-Wand ins Badehaus. Halbnackte Dienerinnen starrten sie in eisigem Entsetzen an: blutige Schwerter, zerschnittene, blutbesudelte Gesichter, zerfetzte, blutbefleckte Kimonos. Die Luft war warm, süßlich-duftend, feucht.
Saigo brüllte vor Wut wie ein Stier. Das dampfende, seichte Bad, gespeist von einer natürlichen Thermalquelle, war leer. Genau wie die vier Dampfbadkästen und die Massagetische – bis auf einen. In Sekundenbruchteilen sah er jede Einzelheit des winzigen, nackten Mädchens, das dort lag: den Schrecken in ihren Augen, den halb offenen Mund mit den geschwärzten Zähnen, die pechschwarze Haarmähne in ein schneeweißes Handtuch gedreht, kleine Brüste, Glieder und Füße, dunkelbraune Brustwarzen, alles an ihr geschwungen, einladend, goldene, jetzt von der Hitze des Bades sanft gerötete Haut, eingeölt und duftend – und die blinde, halbnackte Masseuse, die reglos, mit schräggelegtem Kopf, aufmerksam neben ihr stand.
So leicht, das Mädchen und alle anderen zu töten, aber sein Auftrag lautete, ihr auf gar keinen Fall etwas anzutun. Trotzdem schien sein Kopf vor Wut darüber, daß sie hereingelegt worden waren – denn nicht nur ihre Zeitplanung, sondern auch ihre Informationen waren perfekt gewesen, und der Shōgun wich nie von seinen Gewohnheiten ab –, zu explodieren. Aber die Wut verwandelte sich in Begehren, ließ ihn erzittern, und nun verlangte sein ganzer Körper nach ihr, auf der Stelle, brutal, irgendwie, die Ehefrau vor dem Ehemann, Tod für beide, sie aber zuvor weit gespreizt.
Seine Lippen zogen sich von den Zähnen zurück, und er stürzte quer durch den Raum. Die Dienerinnen stoben auseinander, eine wurde ohnmächtig, die Prinzessin keuchte auf und lag reglos, vor Angst erstarrt da. Doch seine Fixierung auf den Shōgun lenkte ihn an ihr vorbei und in die Shoji-Tür, die er ebenfalls durchbrach, um wieder einmal, mit Tosa auf den Fersen, zielsicher über Veranden, Gärten rechts, Zimmer links, auf die Schlafräume und somit sein Opfer zuzulaufen – kein denkender Mensch mehr, sondern ein rasendes, blutrünstiges Tier. Die Shoji-Türen standen offen, Gesichter tauchten auf: Zofen, junge Männer, Hofdamen und Diener, angelockt von dem Tumult, ganz oder halb angekleidet für den Abend, fürs Bett oder fürs Bad.
Keine Wachen in diesen Räumen. Noch nicht.
Ein paar Zimmer noch zu durchmessen, Türen, Gesichter; gleich würde er um die letzte Ecke, die letzte Veranda biegen. Saigos erwartungsvolle Erregung stieg, denn dies war ein wunderschön gedeckter Durchgang, links und rechts Gärten, ohne weitere Räume mit mißtrauischen Wachtposten, und am Ende die Schlafräume des Shōgun, wo er selbst sich mit seiner Kurtisane heimlich aufs Kopfkissen gelegt hatte.
Alle Sinne für die zu erwartenden Gefahren geschärft, Tora, ebenso schnell, einige Schritte hinter ihm. Geräusche von Männern, die sich dem Feind näherten, hämmernde Füße. Ein weiterer Raum durchmessen. Nur noch eine Tür, die letzte Gefahr. Gesichter vor der Tür, ein Arzt und ein hustender Knabe, die ihn in abgrundtiefem Schrecken anstarrten; dann um die Ecke, um ihren letzten, endgültigen Angriff zu beginnen.
Unvermittelt machten die beiden Männer halt. Ihr Herz setzte aus. Aus der Tür zum Allerheiligsten, unmittelbar vor ihnen, traten mit gezogenem Schwert ein Offizier und drei Samurai, die dort stehenblieben und sie erwarteten. Ein kurzes Zögern, dann griff Saigo, gefolgt von Tora, blindlings an: Nur diese vier Männer standen noch zwischen ihnen und dem Shōgun, den sie beschützten. »Sonno-joi!«
Der Hauptmann stellte sich dem ersten Angriff, parierte den Schlag und blockierte das Schwert des anderen; dann drehte er sich heraus und hieb auf Saigo ein, während zwei andere Samurai Tora angriffen und der letzte, wie befohlen, als Reserve zurückblieb. Saigo wehrte den Hieb ab und schlug zurück, verfehlte aber sein Ziel. Ein weiterer wütender Schlagabtausch, bei dem Saigo, dem Ziel so nahe, souverän und selbstbewußt kämpfte, den Angriff vorwärtstrug, das Gefühl hatte, übermenschlich zu sein, mit einer Klinge, die von selbst das Fleisch des Feindes suchte, wie sie in wenigen Sekunden den Shōgun-Knaben töten würde…
Dann zuckte ein blendend-greller Blitz hinter seinen Augen auf, dröhnte in seinem Schädel, und plötzlich sah er wieder den Arzt und den Knaben vor sich und erinnerte sich daran, daß ihm jemand gesagt hatte, der Shōgun-Knabe habe Keuchhusten – ein Porträt von ihm gab es natürlich nicht, und natürlich hatte ihn keiner der Shishi jemals gesehen: »Wenn ihr ihn nicht im Badehaus erwischt«, hatte Katsumata gesagt, »erkennt ihr ihn an seinen geschwärzten Zähnen, dem Husten, seiner Nähe zur Prinzessin, der Qualität seiner Gewänder – und vergeßt nicht, daß er wie die Prinzessin keine Wachen um sich haben mag.«
Mit einer ungeheuren, neu gewonnenen Kraft hackte Saigo wie ein wildes Tier auf den Hauptmann ein, der auf dem blankpolierten Fußboden ausrutschte und sekundenlang hilflos war. Aber Saigo führte nicht den Todesstreich, sondern wirbelte herum, um zu dem Knaben zurückzueilen – und der letzte Samurai nutzte die Lücke, auf die zu warten ihm befohlen worden war. Sein Schwert bohrte sich tief in Saigos Seite, aber Saigo spürte es nicht, sondern hieb kraftlos auf das Shōgun-Gespenst vor ihm ein, wieder und wieder, bis er, noch immer zustoßend, zu Boden sank.
Der Hauptmann sprang auf die Füße, warf sich zu Tora herum, spießte ihn auf, zog die Klinge wie ein geschickter Schlachter heraus und enthauptete ihn mit einem einzigen Streich.
»Dasselbe für den da«, keuchte er und zeigte auf Saigo, während er mühsam um Atem rang; dann eilte er auf die Veranda zurück. An der Ecke sah er, daß vom Eingang, angeführt von seinem Stellvertreter, Männer herbeigelaufen kamen. Er beschimpfte sie alle, stieß seinen Stellvertreter beiseite und rief ihm im Vorbeilaufen zu: »Alle Mann dieser Wachschicht auf den Platz vor der Herberge, ohne Waffen und auf den Knien. Sie auch!«
Sein Herz hämmerte noch immer; er war rasend vor Wut und hatte seine Panik noch nicht überwunden. Kurz vor Sonnenuntergang hatte Nobusada ihn gereizt zu sich befohlen: »Ziehen Sie alle Wachen innerhalb der Hecke ab. Es ist lächerlich, sie hier zu postieren, die Zimmer sind so klein und scheußlich! Sind Sie so unfähig, daß Sie diese abscheuliche kleine Herberge nicht sichern können? Müssen wir mit Leibwachen baden, mit Leibwachen schlafen, müssen wir essen, während sie uns beobachten? Entfernen Sie sich, für heute abend verbiete ich mir jegliche Wachtposten!«
»Aber Sire, ich muß darauf bestehen…«
»Auf gar nichts werden Sie bestehen. Heute abend keine Wachen innerhalb der Hecke. Und damit ist diese Unterredung beendet!« Der Hauptmann war machtlos, aber er brauchte sich keine Sorgen zu machen, denn selbstverständlich war alles perfekt gesichert.
Als die ersten gedämpften Geräusche des Überfalls zu ihm durchdrangen, machte er mit vier Mann gerade einen letzten, zufriedenstellenden Rundgang innerhalb der Hecke, die natürlich auch einen großartigen Lärmschutz bildete. Als er das Eingangstor erreichte und hinausspähte, sah er zu seinem Entsetzen, daß vier Mann die Hecke zu stürmen versuchten, während zwei auf das Tor zuliefen. Sein erster Gedanke galt dem Shōgun, also eilte er zum Badehaus, aber der Kammerherr rief laut: »Was geht hier vor?«
»Angreifer sind eingedrungen. Holen Sie den Shōgun aus dem Bad!«
»Er ist nicht dort, er ist bei seinem Arzt…«
Weiterlaufen, wieder von Panik beflügelt, am Badehaus vorbei zu den inneren Räumen, die leer waren, während eine verängstigte Dienerin sagte, der Herr Shōgun befinde sich in einem der an die Veranda angrenzenden Räume; dann wieder hinaus, und da waren die beiden Angreifer, keine Möglichkeit, den Shōgun jetzt noch zu schützen, doch der Gedanke, daß die beiden, wenn sie hier angriffen, seinen Lehnsherren möglicherweise verpaßt hatten…
Er würde jedoch erst wirklich am Leben sein, wenn er sich persönlich davon überzeugt hatte, daß er noch lebte. Das dauerte nicht lange. Nobusada hustete und tobte, noch immer verängstigt, und die anderen, die ihn umringten, vergrößerten den Tumult nur noch. Rasch erfuhr er, daß die Prinzessin unversehrt, aber hysterisch war. Seine Panik legte sich. Er übersah Nobusadas Wut und befahl mit eiskalter Stimme, bei der alle Soldaten erzitterten: »Bringt mir sofort einen Kurier und vier Mann, um einen Report vorauszuschicken. Und alle Wachen, bis auf die gegenwärtige Schicht, haben sich unverzüglich hier zu melden, jeder einzelne Mann auf dem Gelände. Fünfzig Mann zum Schutz der Schlafräume, zwei Mann an jeder Ecke jeder Veranda. Und zehn Mann ständig in Sichtweite des Herrn Shōgun, bis er sich mit ihr innerhalb der Palastmauern befindet.«
Am Vormittag des folgenden Tages eilte Yoshi innerhalb der Palastmauern im leichten Regen durch den äußeren Ring der Gärten. Er wurde von General Akeda begleitet. »Was Sie vorhaben, ist außerordentlich gefährlich, Sire«, sagte dieser voll Angst, weil sich in jedem Dickicht, in jedem Busch ein Feind verbergen konnte.
Beide Männer trugen eine leichte Rüstung und Schwerter – eher ungewöhnlich hier, wo mit Ausnahme des herrschenden Shōgun und einer vierköpfigen Leibwache, dem Vorsitzenden des Ältestenrats und dem Vormund des Erben weder Samurai noch Waffen geduldet wurden.
Es ging auf Mittag. Die beiden Männer hatten sich verspätet und nahmen keine Notiz von der Schönheit, die sie umgab, von den Teichen und Brücken, den blühenden Büschen und Bäumen, die seit Jahrhunderten gehegt und gepflegt worden waren. Jeder Gärtner, der sie sah, machte Kotau, bis sie aus seiner Sichtweite verschwanden. Über ihrer Rüstung trugen sie regenabweisende Strohumhänge. Den ganzen Morgen über hatte es leichte Schauer gegeben. Yoshi beschleunigte seinen Schritt.
Es war nicht das erstemal, daß sie zu einem geheimen Treffen innerhalb der Palastmauern eilten – gesichert, aber nie wirklich sicher. Es war so schwer, irgendwo eine wirklich sichere geheime Zusammenkunft abzuhalten, beinah unmöglich, weil es überall Spione, Informanten oder Feinde gab und man ständig auf einen Hinterhalt, Gift, versteckte Bogenschützen oder Musketiere gefaßt sein mußte. Dasselbe galt für alle Daimyos. Sein Sicherheitsfaktor war, wie er wußte, sehr gering. Im Grunde so gering, daß sein Vater und sein Großvater ihn gelehrt hatten, die Tatsache zu akzeptieren, daß ein Tod aus Altersschwäche keinen Raum in ihrem Karma hatte.
»Wir sind hier so sicher, wie es nur möglich ist«, sagte er. »Hier einen Waffenstillstand zu brechen wäre unvorstellbar.«
»Ja, aber nicht für Ogama. Er ist ein Lügner und Betrüger, und er sollte den Aasgeiern zum Fraß vorgeworfen werden.«
Yoshi lächelte; ihm war wohler. Seitdem die erschreckende Nachricht von dem Shishi-Überfall mitten in der Nacht eingetroffen war, hatte er sich nervöser denn je gefühlt – schlimmer als damals, als er nach dem Tod seines Onkels bei der Wahl zum Shōgun übergangen und an seiner Stelle Nobusada eingesetzt worden war, mehr als damals, als taikō Ii ihn, seinen Vater und ihre Familien hatte verhaften und in kellerähnlichen Räumen dahinvegetieren lassen. Er hatte Vorbereitungen getroffen, der Reisegesellschaft zweihundert Mann bis zur Straßensperre von Kyōto entgegenzusenden, und bei Morgengrauen Akeda heimlich zu Ogama geschickt, damit er ihm berichte, was geschehen war und warum eine starke, zum Krieg gerüstete Truppe seine Quartiere verließ.
»Berichten Sie Ogama alles, was wir erfahren haben, und beantworten Sie all seine Fragen. Machen Sie keinen Fehler, Akeda.«
»Von mir wird es keinen Fehler geben, Sire.«
»Gut. Dann bringen Sie ihm das Schreiben und verlangen Sie sofort eine Antwort.« Was in dem Brief stand, hatte Yoshi Akeda nicht erklärt, und der General hatte nicht danach gefragt. Als Akeda zurückkehrte, hatte Yoshi von ihm verlangt: »Berichten Sie mir haargenau, wie er sich verhalten hat.«
»Ogama hat das Schreiben zweimal gelesen, ausgespuckt, zweimal geflucht, es seinem Berater Basuhiro zugeworfen, der es mit einem unbewegten Ausdruck auf dem pockennarbigen Gesicht gelesen und dann gesagt hat: ›Ich denke, Sire, darüber sollten wir unter vier Augen sprechen.‹ Ich habe erklärt, daß ich warten werde; nach einiger Zeit kam Basuhiro wieder heraus und sagte: ›Mein Herr ist einverstanden, wird aber, genau wie ich, bewaffnet kommen.‹ Was hat das alles zu bedeuten, Sire?«
Als Yoshi es ihm erklärte, wurde der Alte puterrot. »Sie haben ihn gebeten, sich allein mit Ihnen zu treffen? Mit mir als Leibwache? Das ist Wahnsinn! Nur weil er sagt, daß er nur mit Basuhiro…«
»Das reicht!« Yoshi wußte, daß sein Risiko groß war, mußte aber wieder hoch spielen, brauchte eine Antwort auf seinen Vorschlag bezüglich der Tore. Doch als er gerade gehen wollte und einer der zahlreichen Shōgunats-Spione von gewissen Gesprächen berichtete, die zwischen Katsumata und anderen Shishi in der Herberge ›Zu den Flüsternden Tannen‹ stattgefunden hatten, war er von freudiger Erregung gepackt worden und hatte um die Zusammenkunft gebeten. »Da ist er!«
Ogama stand, Basuhiro neben sich, im Schatten des weit ausladenden Baumes, unter dem sie sich verabredet hatten. Beide waren deutlich mißtrauisch und erwarteten Verrat, aber nicht so unverkennbar nervös wie Akeda. Yoshi hatte vorgeschlagen, daß Ogama durch das Südtor kommen sollte, während er selbst das Osttor benutzen, seine Sänfte wie seine Leibwachen zurücklassen und seine Sicherheit garantieren würde. Nach dem Treffen sollten sie alle vier zusammen durch das Osttor hinausgehen.
Wie schon einmal, schritten die beiden Gegner aufeinander zu, um sich unter vier Augen zu unterhalten. Akeda und Basuhiro beobachteten sie nervös.
»Also!« sagte Ogama nach der offiziellen Begrüßung. »Eine Handvoll Shishi können durch Hunderte von Wachen wie ein Messer durch Dung bis in Nobusadas Badehaus mitsamt seiner splitternackten Frau und seinem Bett vorstoßen, bevor sie erwischt werden. Zehn Mann, sagen Sie?«
»Drei davon waren Choshu-Ronin: Die beiden, die durch die Hecke kamen, waren Choshu. Einer davon war der Anführer.« Yoshi hatte seinen Schrecken über den Überfall noch nicht überwunden und fragte sich, ob er es wagen würde, bei dieser seltenen Gelegenheit Ogama allein herauszufordern und sein Schwert zu ziehen: Basuhiro würde, mit oder ohne Akeda, keine körperliche Gefahr darstellen.
So oder so, Ogama muß sterben, aber noch nicht jetzt, dachte er. Nicht, solange zweitausend Choshu die Tore besetzt halten und ich nichts dagegen machen kann. »Sie alle starben, ohne Schaden anzurichten, nur ein paar Wachen mußten dran glauben. Und die Überlebenden dürften auch nicht mehr lange auf dieser Welt verweilen. Wie ich hörte, haben Sie all Ihren Choshu-Ronin eine Amnestie angeboten.« Sein Ton wurde scharf, denn er fragte sich wiedereinmal, ob sich Ogama heimlich an der Planung beteiligt hatte, die so perfekt und nahezu erfolgreich gewesen war. »Shishi oder nicht.«
»Ja.« Nur Ogamas Mund lächelte. »Und das sollten die anderen Daimyos ebenfalls tun. Es ist eine schnelle und einfache Möglichkeit, alle Ronin, ob Shishi oder nicht, unter Kontrolle zu bringen. Sie sind eine Pest, und dem muß unbedingt ein Riegel vorgeschoben werden.«
»Ganz Ihrer Meinung. Aber die Amnestie wird sie nicht aufhalten. Darf ich fragen, wie viele von Ihren Ronin auf Ihr Angebot eingegangen sind?«
Ogama lachte rauh. »Eindeutig nicht diejenigen, die an dem Überfall beteiligt waren! Bisher ein oder zwei, Yoshi-donno. Wie viele gibt es insgesamt? Hundert? Keine zweihundert, von denen zwanzig oder dreißig Choshu sein könnten? Choshu oder nicht, das spielt, keine Rolle.« Seine Miene verhärtete sich. »Ich habe den Überfall nicht geplant, wenn es das ist, was Sie vermuten.« Wieder dieses grimmige Lächeln. »Unvorstellbar, sich so etwas Verräterisches auszudenken, eh? Ganz schön leicht, die Shishi zu brandmarken, wenn Sie und ich das wollten. Aber ihr Schlachtruf ist nicht so leicht zu unterdrücken, falls er denn unterdrückt werden sollte. Alle Macht zurück zum Kaiser, alle Gai-Jin außer Landes. Sonno-joi ist ein hervorragender Schlachtruf, nicht wahr?«
»Darauf könnte ich vieles antworten, Ogama-donno, aber Verbündete sollten einander nicht herausfordern. Und wir sind doch Verbündete, nicht wahr?«
Ogama nickte. »Im Prinzip, ja.«
»Gut«, sagte Yoshi und versuchte seine Verwunderung darüber zu kaschieren, daß Ogama sich auf seine Bedingungen eingelassen hatte. »Innerhalb eines Jahres werden Sie Vorsitzender des Ältestenrates sein. Von der Mittagsstunde an besitze ich die Kontrolle über die Tore.« Er wandte sich zum Gehen.
»Alles, wie Sie es verlangt haben. Bis auf die Tore.«
Die Ader auf Yoshis Stirn trat dick heraus. »Ich sagte aber, daß ich die Tore brauche.«
»Tut mir leid.« Noch umklammerte Ogamas Hand den Schwertgriff nicht fester; nur seine Füße hatte er in eine günstigere Kampfposition gebracht. »Heimliche Verbündete, ja; Krieg mit Tosa, ja, mit Satsuma, ja. Die Tore – nein. Tut mir leid.«
Sekundenlang erwiderte Yoshi Toranaga nichts. Sah ihn nur an. Furchtlos erwiderte Ogama seinen Blick, wartete, war kampfbereit. Dann seufzte Yoshi und wischte sich die Regentropfen von dem breitrandigen Hut. »Ich möchte, daß wir Verbündete sind. Verbündete sollten einander helfen. Möglicherweise habe ich einen Kompromißvorschlag, aber zunächst möchte ich Ihnen eine überraschende Information geben: Katsumata ist hier in Kyōto.«
Ogama schoß das Blut ins Gesicht. »Unmöglich! Meine Spione hätten mir davon berichtet.«
»Er ist hier, und zwar schon seit einigen Wochen.«
»Von Sanjiros Männern ist kein einziger in Kyōto, vor allem aber nicht dieser Mann! Sonst hätten mich meine Spione…«
»Oh, tut mir leid«, gab Yoshi gelassen zurück. »Er ist hier, nicht als Sanjiros Pfadfinder und Spion, jedenfalls nicht nach außen. Katsumata ist ein Shishi, ist der Anführer der Shishi hier. Sein Deckname ist ›der Rabe‹.«
Ogama starrte ihn an. »Katsumata ist der Shishi-Anführer?«
»Ja. Und mehr. Überlegen Sie einen Moment: Ist er nicht Sanjiros zuverlässigster, langjähriger Ratgeber und Taktiker? Hat er Sie nicht in Sanjiros Namen mit seinem falschen Pakt überlistet und bei Fushimi besiegt, um Sanjiro die Flucht zu ermöglichen? Bedeutet das nicht, daß Sanjiro von Satsuma insgeheim der wahre Anführer der Shishi ist und daß all ihre Morde zu seinem großen Plan gehören, uns alle zu stürzen, vor allem Sie, um selbst Shōgun zu werden?«
»Das war natürlich immer Sanjiros Ziel«, gab Ogama zu. Er war benommen, doch viele bisher unerklärliche Vorkommnisse paßten nun auf einmal ins Schema. »Wenn er auch über die Shishi befiehlt…« Er unterbrach sich, unvermittelt wütend darüber, daß Takeda ihm nichts davon gesagt hatte. Warum? Ist denn Takeda nicht mein Spion, mein wahrer, heimlicher Vasall? »Wo ist Katsumata jetzt?«
»Eine Ihrer Patrouillen hätte ihn vor ein paar Tagen bei der Herberge ›Zu den flüsternden Tannen‹ fast in einen Hinterhalt gelockt.«
Zornesröte stieg in Ogamas Zügen auf. »Er war dort?« stieß er hervor. »Wir hatten gehört, daß Shishi dort schliefen, aber ich wußte nicht…« Wieder einmal erstickte er fast an seiner Wut darüber, daß Takeda ihm nicht mitgeteilt hatte, daß der verhaßte Feind sich in seiner Reichweite befand. Warum? Macht nichts, mit Takeda werde ich mühelos fertig. Zunächst Katsumata. Ich habe nicht vergessen, daß Katsumata meinen Überraschungsangriff auf Sanjiro verhindert hat. Ohne Katsumata wäre Sanjiro tot, ich wäre Oberherr von Satsuma und hätte es nicht nötig, mich mit Toranaga Yoshi abzugeben, denn er würde vor mir auf den Knien liegen. »Wo ist er jetzt? Wissen Sie, wo er jetzt ist?«
»Ich kenne das sichere Haus, in dem er sich gestern nacht aufgehalten hat und möglicherweise heute nacht auch.« Dann setzte Yoshi leise hinzu: »Es sind über einhundert Shishi in Kyōto. Sie planen bereits einen Massenangriff auf Sie.«
Ogama lief es kalt über den Rücken; er wußte, daß es vor einem Mörder, der den Tod nicht fürchtete, keinen wirksamen Schutz gab. »Wann?«
»Er war für morgen bei Einbruch der Abenddämmerung angesetzt – wenn der Überfall auf den Shōgun erfolgreich gewesen wäre. Und sobald Sie tot wären, wollten sie die Tore erobern.«
Ogama mußte sich sehr beherrschen, um ihm nicht zu verraten, daß morgen bei Einbruch der Abenddämmerung ein heimliches Treffen mit Takeda verabredet war, ein perfekter Zeitpunkt für einen Überraschungsangriff. »Und nun, da er ein Mißerfolg war?«
»Meine Informationen lauten, daß die Führer heute abend zusammenkommen, um darüber zu beraten. Nun stehen Sie, nach Nobusada und mir, ganz oben auf der Liste der Opfer.«
»Warum?« stammelte Ogama. »Ich unterstütze den Kaiser, unterstütze den Kampf gegen die Gai-Jin.«
Yoshi, der das sehr gut wußte, verbiß sich ein Lächeln. »Tun wir uns heute abend zusammen. Ich weiß, wo sie sich treffen, wo Katsumata und die meisten Anführer sein werden – über jenen Teil der Stadt ist eine Ausgangssperre von Tagesanbruch bis zum Abend verhängt.«
Ogama stieß den Atem aus. »Und der Preis?«
»Zunächst weitere Informationen, die uns beide betreffen.« Und zu Ogamas wachsender Beunruhigung berichtete ihm Yoshi Einzelheiten über die Zusammenkunft der Ältesten mit Sir William und den anderen Gesandten, über seinen Spion Misamoto, über Sir Williams Drohung eines bewaffneten Vorstoßes hierher, sobald seine Flotte zurückkehrte, und wie trickreich Drohung und Bezahlung für den Augenblick abgewendet worden waren.
»Wenn ich es befehle, wird ihre Flotte niemals durch meine Shimonoseki-Meerenge gelangen.«
»Sie könnten den langen Weg um die Südinsel herum nehmen.«
»Langer Weg, kurzer Weg, kein Unterschied. Wenn sie in oder bei Osaka landen, werde ich oder werden wir sie vernichten.«
»Beim ersten Mal, ja. Unter großen Verlusten, aber immerhin werden die Gai-Jin zurückgeschlagen werden. Vor zwei Tagen jedoch erhielt ich einen geheimen Bericht aus der Abteilung der Bakufu hier, die sich mit China-Informationen befaßt.« Er zog die Schriftrolle heraus. »Hier, lesen Sie selbst.«
»Was steht da?« fragte Ogama barsch.
»Daß die Yokohama-Flotte, auf Strafexpedition für die Versenkung eines einzigen britischen Schiffes, zwanzig Leagues der chinesischen Küste nördlich von Shanghai verheert, alle Dörfer niedergebrannt und alle Schiffe versenkt hat.«
Ogama spie aus. »Piraten. Piratennester!«
»Piraten ja, aber dieses Gesindel ist nicht feige. Vor gar nicht so langer Zeit hat eine Armee dieser selben Gai-Jin China zum zweitenmal gedemütigt und den Sommerpalast des Kaisers und die Stadt Peking niedergebrannt. Ihre Flotten und Armeen sind schrecklich.«
»Wir sind in Nippon, nicht in China.« Ogama zuckte die Achseln, nicht bereit, sich aushorchen zu lassen oder seine Pläne für die Verteidigung von Choshu zu verraten. Aber er überlegte: Meine Küsten sind zerklüftet und felsig, schwierig zu erobern und überaus gut zu verteidigen; sobald alle Geschützstellungen und Bunker für die Kämpfer fertig sind, werden sie völlig uneinnehmbar sein. »Und wir sind keine Chinesen.«
»Ich dachte mir, daß wir Frieden zwischen allen Daimyos brauchen, um Zeit zu gewinnen, die Gai-Jin zu manipulieren, uns ihre Kanonen-, Gewehr- und Schiffsgeheimnisse anzueignen und zu erfahren, wie es kommt, daß dieses eine, stinkende kleine Inselvolk, kleiner als unser Land, offenbar zum reichsten von der Welt geworden ist und den größten Teil davon beherrscht.«
»Lügen. Lügen, die verbreitet werden, um die Feiglinge hier in Angst zu versetzen.«
Yoshi schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Zunächst müssen wir lernen, dann können wir sie vernichten. Jetzt können wir das nicht.«
»Können wir doch. Dies ist das Land der Götter. In Choshu habe ich eine Kanonenfabrik, bald werden andere hinzukommen. Satsuma besitzt drei kleine Dampfschiffe, der Beginn einer Flotte, bald werden es mehr werden.« Seine Miene verzerrte sich. »Wir können Yokohama und diese Flotte vernichten, und bis andere nachkommen, werden wir bereit sein.«
Yoshi, der sein Erstaunen über die Leidenschaft und Kraft des Hasses seines Gegners verbarg, war insgeheim hocherfreut darüber, eine weitere Waffe entdeckt zu haben, die er irgendwann einsetzen konnte. »Ich stimme zu. Das meine ich ja. Sehen Sie, Ogama-donno«, sagte er, als sei er zutiefst erleichtert, »wir sind derselben Meinung, obwohl wir aus verschiedenen Richtungen dahingelangen. Wir vernichten sie, aber zu gegebener Zeit, wir müssen den Zeitpunkt wählen, uns ihr Wissen aneignen und uns von ihnen die Mittel geben lassen, um ihre Kanonen und ihre Köpfe zu vernageln.« Sein Ton wurde fester. »In einem Jahr kontrollieren Sie und ich den Rat und die Bakufu. In drei bis vier Jahren können wir zahlreiche Kanonen, Gewehre und Schiffe kaufen.«
»Und wie bezahlen wir dafür? Die Gai-Jin sind raffgierig.«
»Eine Möglichkeit wäre Kohle für ihre Schiffe. Eine andere Gold.« Yoshi erklärte ihm sein Schürfsystem.
»Schlau.« Ogamas Lippen verzogen sich zu einem seltsamen Lächeln. »In Choshu haben wir Kohle, Eisen und Holz für Schiffe.«
»Und schon eine Rüstungsfabrik.«
Ogama lachte, ein gutes Lachen; Yoshi lachte ebenfalls und wußte, daß ihm ein Durchbruch gelungen war. »Stimmt, und meine Batterien werden mit jedem Monat mehr.« Unter dem unablässigen Regen rückte er seinen Umhang zurecht und setzte nachdrücklich hinzu: »Genau wie mein fester Entschluß zunimmt, auf feindliche Schiffe zu schießen, wenn ich das will. Sind das alle Ihre Informationen, Yoshi-donno?«
»Im Augenblick ja. Darf ich Ihnen raten, den Griff auf die Meerenge zu lockern? Sie gehört ja ohnehin Ihnen. Doch, das ist vorläufig alles, aber als mein Verbündeter werden Sie sämtliche vertraulichen Informationen erhalten.«
»Als Ihr Verbündeter erwarte ich sämtliche vertraulichen Informationen.« Ogama nickte vor sich hin. Er drehte sich zu Basuhiro um, ließ sich dann aber doch nicht von ihm beraten. Yoshi hat recht, dachte er, Führer sollten Geheimnisse haben. »Genug geredet. Katsumata: Ich habe nach dem Preis gefragt. Heute abend ein gemeinsamer Überfall.«
»Was würde ein ganz spezieller Verbündeter bieten?«
Ogama streckte sich, um die knirschende Spannung in Hals und Schultern zu lockern. Er hatte diese Frage erwartet, denn trotz seiner prahlerischen Drohungen war er kein Dummkopf. Zeit genug, ein Angebot zu variieren, dachte er, obwohl keiner von uns beiden sich herablassen würde, sein Gesicht zu verlieren, indem wir wie die verachteten Reishändler feilschen. »Sie dürfen die Tore einen Monat lang besetzen, nur zwanzig Mann an jedem der sechs Tore, zweihundert meiner Männer in der Nähe stationiert.« Ogama lächelte. »Nicht so nahe, daß Sie in Verlegenheit gebracht würden. Jede Person, die hinein oder hinaus will, wird von Ihrem Toroffizier, wie es sich gehört, einen Passierschein erhalten, der sich unauffällig mit meinem… Verbindungsoffizier beraten wird, bevor die Passierscheine ausgestellt werden.«
»Beraten?«
»Beraten wie zwischen heimlichen Verbündeten, damit man gemeinsam zu einem Ergebnis kommt.« Das freundliche Lächeln war verschwunden. »Wenn mehr als zwanzig von Ihren Männern auftauchen, übernehmen meine Männer wieder die Tore, und alle Vereinbarungen sind null und nichtig. Einverstanden?«
Yoshis Blick war eisig geworden. Unnötig, Drohungen auszustoßen, dachte er, denn ein Trick von einem der Beteiligten würde ohnehin alle Vereinbarungen beenden. »Ich würde vierzig Mann an jedem Tor vorziehen – die Einzelheiten des Wachwechsels können wir problemlos arrangieren –, und ich besetze die Tore so lange, wie Shōgun Nobusada und Prinzessin Yazu im Palast sind.«
Ogama hatte die Veränderung bemerkt. »Shōgun Nobusada, ja. Aber nicht die Prinzessin, die… die unter Umständen für immer bleiben wird, eh? Vierzig? Nun gut, vierzig an jedem Tor. Natürlich wird der Sohn des Himmels seinen Wunsch, daß ich die Tore verteidige, nicht widerrufen.«
»Der Sohn des Himmels ist der Sohn des Himmels, aber ich bezweifle, daß ein Widerruf kommt, während Shōgunats-Truppen ihre historischen Rechte ausüben.«
Sofort wurde Ogamas Miene ausdruckslos. »Vergessen wir doch dieses höfliche Hin und Her, und reden wir offen: Gegen Katsumata und alles übrige werde ich einen gesichtswahrenden Plan für die Tore akzeptieren. Ihre Männer übernehmen die Ehrenwache, Ihre Banner werden gehißt, und ich stimme fast allem zu, was Sie gesagt haben, aber ich werde meine Opposition gegen ›historische Rechte‹, Shōgunat und Bakufu niemals aufgeben…«, er hielt inne und machte, weil er, was ihm da geboten wurde, wirklich wollte, eine weitere Konzession, »… gegen das gegenwärtige Shōgunat und die gegenwärtigen Bakufu, Yoshi-donno. Bitte, entschuldigen Sie meine Offenheit, ich halte es für gut, Ihr Verbündeter zu sein, ich hätte nicht gedacht, daß es möglich wäre und daß ich irgendeinem Vorschlag zustimmen könnte.«
Mühsam seine Genugtuung unterdrückend, nickte Yoshi. »Ich freue mich, daß wir uns einigen konnten, und erkläre Ihnen ebenfalls offen, daß wir großen Veränderungen und kleinen zustimmen können. Zum Beispiel«, ergänzte er leichthin, »daß es sich, wenn ein solcher ›Wunsch‹ des Kaisers eintreffen sollte, um eine Fälschung handeln würde.«
Jetzt war Ogamas Lächeln aufrichtig, denn er hatte das Gefühl, einen perfekten Kompromiß geschlossen zu haben. »Gut. Und nun Katsumata.«
Der Überfall auf das Shishi-Versteck begann wenige Stunden vor Tagesanbruch. Die Überraschung war perfekt. Im Haus befanden sich Katsumata, alle Unterführer und andere Männer. Und Sumomo.
Die ersten Anzeichen von Gefahr registrierten die beiden Wachtposten, als eine der Hütten ein Stück weiter die vom Regen aufgeweichte Gasse entlang unter den erstickten Schreien der Bewohner und ihrer unmittelbaren Nachbarn in Flammen aufging. Augenblicklich begannen diese Männer und Frauen – allesamt heimlich durch die Bakufu eingeschleust – in vorgetäuschter Panik auf die Gasse hinauszulaufen und halfen damit, das lautlose Vorrücken der Angriffstruppen zu kaschieren. Als die Wachtposten nachsehen gingen, kamen Pfeile aus der Nacht und warfen sie nieder. Einer von ihnen brüllte noch einen Warnruf, bevor er starb.
Sofort kam die Haupttruppe aus dem Dunkel gestürmt und umzingelte das gesamte Slumviertel. Die meisten Soldaten waren – auf sein Verlangen – Ogamas Männer; Yoshi hatte diesem Wunsch zugestimmt und erklärt, er werde eine symbolische Truppe von vierzig handverlesenen Männern unter Akeda mitschicken. Sekunden später hatten viele Männer der Angriffsgruppe Fackeln entzündet. Diese beleuchteten vorn und hinten einen Teil der Zielhütte, so daß ein Hagel von Pfeilen in jede Öffnung und jede schwache Stelle eindrang. Dann eilten unerwartet vier Yoshi-Scharfschützen auf ihre Position, zwei hinter den Hütten und zwei vorn, und feuerten mehrere Salven durch die Papierwände.
Sekundenlang herrschte entsetzte Stille – Samurai, Shishi und alle nahen Slumbewohner waren gleichermaßen erschrocken –, denn der Lärm schnellen Gewehrfeuers war ihnen unbekannt. Dann brach das Schweigen, als alle außer der Angriffsgruppe Deckung suchten, während von drinnen die Schreie und Rufe der Verwundeten kamen. Eine an die erste Brandstelle angrenzende Hütte fing Feuer, und dieser Brand verbreitete sich als Lauffeuer von einem Haus zum anderen, bis beide Seiten am anderen Ende der Gasse zu einem Inferno wurden, in dem zahlreiche Familien eingeschlossen waren.
Der Ogama-Hauptmann, der die Angriffsgruppe führte, schenkte dieser Gefahrenquelle keine Beachtung, sondern gab der ersten Angriffswelle den Befehl zum Vordringen, obwohl Yoshi ihm geraten hatte, die Hütten in Brand zu stecken und es seinen Gewehrschützen zu überlassen, die Shishi, die aus der Vordertür und den Seitenfenstern flohen, einzeln aufs Korn zu nehmen. Ein allgemeiner Kampf entwickelte sich hier und in der Hintergasse, als ein weiterer wütender Ausfall zurückgeschlagen wurde, weil die um sich schlagenden Männer von dem engen Raum, dem Schlamm und dem Halbdunkel behindert wurden. Zwei Mann durchbrachen den Kordon, um sofort von anderen, die im Hinterhalt lauerten, niedergeschlagen zu werden. Einer weiteren Salve in die Hütte folgte ein weiterer Ausbruchsversuch einer verzweifelten Gruppe Shishi, ein hoffnungsloses Unterfangen, denn dahinter wurden sie von einem weiteren Kreis erwartet und dahinter von einem dritten. Der Rauch der Brände begann die Angreifer und die Angegriffenen zu behindern.
Ein Befehl von Akeda. Seine Männer mit den Fackeln liefen auf die Hütte zu, die sie aufs Dach und durch die Shoji schleuderten, und machten stehenden Fußes kehrt, um ihren Kameraden mit den Gewehren freies Schußfeld zu geben. Weitere Schüsse, weitere Tote, als eine Schar von Shishi herausgelaufen kam, um sich in das brüllende, schreiende Gewimmel zu stürzen. Der Gestank von Rauch, Abfall, Feuer, brennendem Fleisch und Tod begann die Nacht zu füllen. Der Regen wurde zu leichtem Nieseln.
Gut beschützt von ihren Leibwachen beobachteten Ogama und Yoshi die Szene auf ihrem Befehlsstand in sicherer Entfernung von der Flammenglut und den Kämpfen. Beide trugen Rüstung und Schwerter, und Yoshi hatte sein Gewehr umgehängt. Neben ihnen standen ein paar Bakufu-Beamte. Alle waren überrascht, als sie inmitten des tobenden Durcheinanders einen Shishi sahen, der den Kordon durchbrach, die Gasse entlangrannte und Kurs auf eine Nebengasse nahm, die den angreifenden Choshu-Samurai verborgen geblieben war.
»Ist das Katsumata?« rief Ogama, doch seine Worte gingen unter, weil Yoshi ohne Zögern zielte und schoß, nachlud und abermals schoß. Schreiend fiel der Mann zu Boden. Ogama und alle Umstehenden erschraken über das Tempo, mit dem dies geschah, denn keiner hatte erwartet, daß Yoshi persönlich eingreifen würde. Gemächlich zielte Yoshi abermals auf den Mann, der sich hilflos im Schlamm wand. Die Kugel schleuderte den Körper nach hinten. Ein letzter, qualvoller Schrei, dann blieb er reglos liegen.
»Das ist nicht Katsumata«, stellte Yoshi enttäuscht fest.
Ogama fluchte; er konnte im Dunkeln nicht sehr gut sehen. Er riß den Blick von dem Leichnam los und betrachtete, einen Schauder unterdrückend, das Gewehr, das locker in Yoshis Händen lag. »Sie können gut damit umgehen.«
»Leicht zu lernen, Ogama-donno. Viel zu leicht.« Fast sicher, daß dies das erste Gewehr war, das Ogama zu Gesicht bekam, schob Yoshi mit betonter Nonchalance eine neue Patrone ins Verschlußstück. Er hatte dieses Gewehr und seine Schützen bewußt mitgebracht, um ihn zu beeindrucken, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und dafür zu sorgen, daß er sich einen Mordversuch an ihm dreimal überlegte. »So zu töten ist abscheulich, feige und unehrenhaft.«
»Ja. Ja, das ist es. Dürfte ich das Gewehr bitte sehen?«
»Selbstverständlich.« Yoshi legte den Sicherheitsbügel um. »Es ist amerikanisch, der neueste Hinterlader. Von denen werde ich demnächst fünftausend erhalten.« Er lächelte dünn, als er daran dachte, daß er sich der Bestellung bemächtigt hatte, die eigentlich Ogama gehörte. »Mein Vorfahr hat klug daran getan, alle Gewehre zu verbieten – jeder kann damit umgehen und töten, aus der Nähe wie aus der Ferne, Daimyo, Kaufmann, Räuber, Ronin, Bauer, Frau, Kind. Mein Vorfahr war wirklich sehr klug. Schade, daß wir nicht dasselbe tun können, aber das haben die Gai-Jin unmöglich gemacht.«
Das Gewehr war ungewohnt für Ogama, schwerer als ein Schwert, gut geölt und tödlich, aber das erhöhte seltsamerweise die Erregung des Überfalls, des Tötens, der Schreie, der Kämpfe und des Bewußtseins, daß seine Spione berichtet hatten, Katsumata befinde sich tatsächlich in der Hütte, so daß der Kopf seines verhaßten Feindes nun bald zur Schau gestellt werden würde.
Gut, so zu töten, ohne Gefahr für das eigene Leben, sagte er sich, während seine Finger den Lauf streichelten, aber Yoshi hat mal wieder recht. In den falschen Händen… und alle anderen Hände würden falsch sein. Fünftausend? Eeee, das würde mir den Kampf sehr erschweren. Ich habe nur zweihundertfünfzig bestellt – woher hat er das Geld, seine Ländereien sind ebenso mit Schulden belastet wie die meinen… Ah ja, ich vergaß, er verhökert Schürfrechte. Gerissen. Ich werde das wohl ebenfalls tun. Wie sieht sein geheimer Plan aus? Hat er auch einen ›Roten Himmel‹? Wenn Yoshi fünftausend bekommt, muß ich zehn haben. Heute abend hat er vierzig Mann mitgebracht. Wieso vierzig? Um mich daran zu erinnern, daß ich ihm vierzig für jedes Tor zugestanden habe? Vierzig Gewehrschützen könnten leicht meine zweihundert dezimieren, es sei denn, wir wären ebenso gut bewaffnet.
»Sie haben noch mehr hier?« erkundigte er sich.
Yoshi beschloß, ehrlich zu sein. »Im Augenblick nicht.«
Nachdenklich gab ihm Ogama das Gewehr zurück und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Elendshütten.
Der Lärm der Schlacht ließ allmählich nach, jener der Brände nahm jedoch zu, und immer mehr Bewohner versuchten sie mit Eimerketten zu bekämpfen. Auch die Dächer der Zielhütte und der beiden Hütten rechts und links davon brannten jetzt. Wieder kam es zu einem Kampf Mann gegen Mann, als weitere Shishi die brennende Hütte verließen, die zum Teil bereits verwundet waren. »Katsumata ist nicht dabei«, sagte Yoshi.
»Vielleicht hat er versucht, auf der Rückseite durchzubrechen.«
Dort, außerhalb ihrer Sichtweite, lagen schon fünf Shishi zusammen mit acht Ogama-Samurai tot im Schlamm, während sechs Samurai verwundet waren. Ein weiterer Kampf zwischen drei Shishi und zehn Ogama-Samurai ging seinem unvermeidlichen Ende zu. Dreißig Choshu-Samurai erwarteten, in Reihen hintereinandergestaffelt, den nächsten Ausbruch. Rauch drang aus den Rissen in den Shoji. In der Luft lag der Gestank von brennendem Fleisch. Drinnen schien sich nichts mehr zu regen. Ein Offizier deutete auf einen Samurai. »Berichte dem Hauptmann, was hier geschehen ist, und frage ihn, ob wir warten oder eindringen sollen.« Der Mann eilte davon.
Vorn endete der Kampf wie alle anderen. Die drei Shishi starben tapfer. Noch zwölf andere lagen hier tot, siebzehn Choshu und einer von Yoshis Männern waren über die Walstatt verteilt. Vierzehn waren verwundet, drei Shishi hilflos, aber noch am Leben. Der Hauptmann lauschte dem Bericht. »Sag dem Offizier, er soll warten, aber jeden, den wir aufstöbern, sofort töten.« Einer Reservetruppe rief er zu: »Leert diese Hütten, solange noch Zeit ist. Tötet jeden, der sich nicht ergeben will, nicht aber die Verwundeten.«
Sofort stießen die Männer zur Hüttentür vor. Drinnen ertönten einzelne Rufe und Gegenrufe, dann herrschte Stille. Einer der Männer kam wieder heraus; aus einer tiefen Schwertwunde in seiner Seite strömte Blut. »Ein halbes Dutzend Verwundete, viele Tote.«
»Bringt sie heraus, bevor das Dach einbricht.«
Die Toten und Verwundeten wurden vor Yoshi und Ogama auf den Boden gelegt; die Beamten standen daneben. Neunundzwanzig Tote. Elf hilflos verwundet. Katsumata war nicht unter ihnen.
»Wo ist er?« schrie Ogama den obersten Beamten wutentbrannt an. Yoshi war nicht weniger zornig, denn niemand wußte genau, wie viele Feinde drinnen gewesen waren, als der Kampf begann.
Der Mann fiel auf die Knie. »Ich schwöre, Sire, daß er anfangs dort gewesen ist, und herausgekommen ist er bestimmt nicht.«
Ogama stapfte zu dem nächstliegenden verwundeten Shishi hinüber. »Wo ist er?«
Trotz seiner Schmerzen funkelte ihn der Mann wütend an. »Wer?«
»Katsumata!«
»Wer? Ich kenne keinen… keinen Katsumata. Sonno-joi, Verräter! Töte mich, damit es vorbei ist!«
»Bald«, zischte Ogama durch die Zähne.
Jeder Verwundete wurde befragt. Ogama hatte jedem ins Gesicht gesehen – kein Katsumata. Kein Takeda. »Tötet sie alle.«
»Lassen Sie sie ehrenhaft sterben, wie Samurai«, verlangte Yoshi.
»Selbstverständlich.« Beide wandten sich um, als das Dach der Hütte zusammenbrach, die Wände in einem Funkenregen einstürzten und die angrenzenden Hütten mitrissen. Das Nieseln wurde wieder zu Regen. »Hauptmann! Löschen Sie die Brände. Wenn dieser Haufen Dung kein unfähiger Dummkopf ist, muß es irgendwo einen Keller geben, ein Versteck.« Damit marschierte Ogama wütend davon, weil er sich irgendwie hintergangen fühlte.
Nervös erhob sich der Beamte von den Knien und schob sich näher an Yoshi heran. »Entschuldigen Sie, Sire«, flüsterte er, »aber die Frau ist auch nicht dabei. Es muß irgendwo ein…«
»Welche Frau?«
»Sie war jung. Eine Satsuma. Sie war schon seit einigen Wochen bei ihnen. Wir glauben, daß sie Katsumatas Begleiterin war. Und leider muß ich sagen, daß auch Takeda nicht mehr da ist.«
»Wer?«
»Ein Choshu-Shishi, den wir beobachtet haben. Möglicherweise war er Ogamas Spion – er wurde gesehen, wie er sich an dem Tag, bevor unser Überfall auf Katsumata fehlschlug, in Ogamas Hauptquartier schlich.«
»Sie sind sicher, daß Katsumata und die anderen beiden hier waren?«
»Ganz sicher, Sire. Alle drei, Sire.«
»Dann muß es einen Keller oder einen geheimen Fluchtweg geben.«
Sie fanden ihn im Morgengrauen. Eine Falltür über einem engen Tunnel, gerade groß genug, um durchzukriechen, der weit entfernt im unkrautüberwucherten Garten eines leeren Schuppens endete. Wütend trat Ogama gegen den getarnten Deckel. »Baka!«
»Wir werden einen Preis auf Katsumatas Kopf aussetzen«, schlug Yoshi vor. Er war verärgert. Offensichtlich hatte dieser Fehlschlag der so mühsam manipulierten und begonnenen Beziehung geschadet. Aber er war zu klug, um Takeda oder die Frau zu erwähnen – die hatte keine Bedeutung. »Katsumata muß noch in Kyōto sein. Die Bakufu werden Befehl erhalten, ihn zu suchen, zu fangen oder uns seinen Kopf zu bringen.«
»Meine Anhänger werden denselben Befehl erhalten.« Auch Ogama hatte an Takeda gedacht und sich gefragt, ob seine Flucht Gutes oder Schlechtes bedeutete. Er sah den Hauptmann an, der herüberkam. »Ja?«
»Wünschen Sie die Köpfe jetzt, Sire?«
»Ja. Yoshi-donno?«
»Ja.«
Die verwundeten Shishi hatten ehrenhaft und ohne weiteren Schmerz sterben dürfen. Sie waren rituell enthauptet, ihre Köpfe waren gewaschen und in einer Reihe ausgelegt worden. Vierzig. Schon wieder diese Zahl, dachte Ogama voll Unbehagen. Ist das ein Omen? Aber er verbarg seine Gefühle und erkannte keinen einzigen.
»Ich habe sie gesehen«, erklärte er offiziell, während das Morgengrauen von einem leichten Regen verschleiert wurde.
»Ich habe sie gesehen«, erklärte Yoshi ebenso feierlich.
»Spießt die Köpfe auf Stangen, zwanzig vor meinem Tor, zwanzig vor dem Herrn Yoshis.«
»Und die Tafel, Sire?« erkundigte sich der Hauptmann.
»Was würden Sie vorschlagen, Yoshi-donno?«
Nach einer kurzen Pause sagte Yoshi, der wußte, daß er wieder einmal auf die Probe gestellt wurde: »Die beiden Tafeln sollten lauten: Diese Gesetzlosen wurden für Verbrechen gegen den Kaiser bestraft. Hütet euch vor Missetaten. Ist das zufriedenstellend?«
»Ja. Und die Unterschrift?« Beide wußten, daß dies eine äußerst wichtige Frage war. Wenn Ogama allein unterzeichnete, ließ das daraufschließen, daß er der legale Besitzer der Tore war; wenn Yoshi unterzeichnete, ließ das daraufschließen, daß ihm Ogama unterstellt war – legal zutreffend, aber unmöglich. Ein Bakufu-Siegel ließ denselben Schluß zu. Ein Hofsiegel würde ungerechtfertigtes Eingreifen in weltliche Angelegenheiten signalisieren.
»Vielleicht verleihen wir diesen Dummköpfen zu viel Bedeutung«, sagte Yoshi, Verachtung vortäuschend. Seine Augen wurden zu Schlitzen, als er über Ogamas Schulter hinweg sah, daß Basuhiro und einige Wachen im Laufschritt um die entfernte Ecke der regennassen Hauptgasse gebogen kamen. Er richtete den Blick wieder auf Ogama. »Warum nicht einfach die Köpfe hier aufspießen? Warum ihnen die Ehre einer Tafel erweisen? Jene, die wir es wissen lassen wollen, werden es früh genug erfahren – und sich gedemütigt fühlen. Neh?«
Ogama war von dieser diplomatischen Lösung erfreut. »Ausgezeichnet. Ich bin einverstanden. Treffen wir uns doch bei Einbruch der Dunkelheit und…« Er unterbrach sich, als er entdeckte, daß Basuhiro schwitzend und atemlos auf sie zugelaufen kam. Er ging ihm entgegen.
»Kurier aus Shimonoseki, Sire«, keuchte Basuhiro.
Ogamas Gesicht wurde zur Maske. Er nahm die Schriftrolle entgegen und trat damit in die Nähe einer Fackel. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, als er sie öffnete, während Basuhiro höflich einen Schirm über ihn hielt.
Die Nachricht kam von dem Hauptmann, der die Meerenge befehligte, und war acht Tage alt, per Expreßkurier mit höchster Prioritätsstufe überbracht.
Sire, gestern lief die heimkehrende feindliche Flotte, ein Flaggschiff und sieben weitere Kriegsschiffe, allesamt Dampfer, von denen einige Kohlekähne zogen, in die Meerenge ein. Ihren Anweisungen zufolge, daß wir feindliche Kriegsschiffe nicht ohne Ihren schriftlichen Befehl beschießen sollten, ließen wir sie passieren. Wir hätten sie alle versenken können. Das haben uns unsere holländischen Berater bestätigt.
Als die Armada vorüber war, kehrte eine Dampffregatte unter französischer Flagge unverschämterweise zurück und feuerte eine Breitseite nach der anderen auf die vier Geschützstellungen am Ostende der Meerenge, durch die die Stellungen mitsamt ihren Kanonen zerstört wurden. Dann dampfte sie wieder davon. Abermals enthielt ich mich, Ihren Befehlen entsprechend, einer Vergeltung. Für den Fall eines zukünftigen Angriffs erbitte ich Erlaubnis, den Angreifer zu versenken.
Tod allen Gai-Jin, hätte Ogama gern gebrüllt. Er war blind vor Wut, daß er eine ganze Flotte ebenso zum Greifen nahe vor sich gehabt hatte wie jetzt Katsumata und daß sie dennoch seiner Rache entkommen war – wie Katsumata. Schaumflocken bildeten sich in seinen Mundwinkeln. »Bereiten Sie neue Instruktionen vor: Alle feindlichen Kriegsschiffe beschießen und versenken.«
Basuhiro, der immer noch um Atem rang, entgegnete: »Dürfte ich vorschlagen, Sire, daß Sie hinzufügen, ›falls es zu irgendeinem Zeitpunkt mehr sind als vier‹? Sie haben es immer auf eine Überraschung angelegt.«
Ogama wischte sich den Mund und nickte; sein Herz hämmerte bei dem Gedanken an so viele Schiffe, die er hätte zerstören können. Der Regen nahm zu; er trommelte jetzt auf seinen Schirm. Hinter Basuhiro sah er Yoshi und die anderen Offiziere warten und überlegte, von den zu erwartenden Folgen der Flottendurchfahrt, der Unverschämtheit und der eigenen Ohnmacht überwältigt, ob er Yoshi als Feind oder als Verbündeten behandeln sollte. »Yoshi-donno!« Er winkte ihm und zog sich mit Basuhiro weiter von den anderen zurück. »Lesen Sie, bitte.«
Yoshi überflog das Schreiben. Und wurde trotz seiner Selbstbeherrschung blaß. »Nimmt die Flotte über das Binnenmeer Richtung auf Osaka? Oder wird sie nach Süden mit Richtung auf Yokohama abbiegen?«
»Nach Süden oder nicht, das nächste Kriegsschiff in meinen Gewässern wird in Grund und Boden geschossen! Basuhiro, schicken Sie sofort Männer nach Osaka und…«
»Augenblick, Ogama-donno«, unterbrach ihn Yoshi hastig, weil er Zeit zum Nachdenken brauchte. »Basuhiro, was meinen Sie?«
Der kleine Mann antwortete prompt: »Im Moment, Sire, nehme ich an, daß es Osaka ist und daß wir uns gemeinsam sofort bereitmachen sollten, es zu verteidigen. Ich habe bereits Spione mit dem dringenden Befehl ausgesandt, den Kurs der Flotte auszumachen.«
»Gut.« Zitternd wischte sich Ogama den Regen aus dem Gesicht. »Die ganze Flotte in meiner Meerenge… Ich hätte unbedingt dort sein müssen!«
»Viel wichtiger ist, daß Sie den Kaiser vor seinen Feinden beschützen, Sire«, sagte Basuhiro. »Und Ihr Befehlshaber hatte recht, nicht auf ein einzelnes Schiff zu feuern. Mit Sicherheit war das ein Lockvogel, der Ihre Kampfstärke ausloten sollte. Er hatte recht, Ihre Verteidigungskraft nicht offenzulegen. Nun ist ein saftiger Köder in der Falle, für den Fall, daß Sie sie zuschnappen lassen wollen. Denn da nur ein einziges feindliches Kriegsschiff umgekehrt ist, ein paar leicht zu entdeckende Stellungen beschossen und sich eiligst wieder zurückgezogen hat, nehme ich an, daß der Flottenkommandeur nur Angst hatte und nicht darauf vorbereitet war, anzugreifen oder Truppen an Land zu bringen, um den Krieg auszulösen, den wir beenden werden.«
»O ja, das werden wir. Eine List? Ich stimme zu. Yoshi-donno«, sagte Ogama entschlossen, »wir sollten kurzen Prozeß machen und den Krieg beginnen. Mit einem Überraschungsangriff auf Yokohama, ob sie nun in Osaka landen oder nicht.«
Yoshi, dem von einer plötzlichen Angst, die er zu verbergen trachtete, fast übel wurde, antwortete nicht sofort. Acht Kriegsschiffe? Das sind vier mehr, als nach China gefahren sind; also haben die Gai-Jin ihre Flotte verstärkt. Warum? Um Vergeltung für die Satsuma-Morde und für Ogamas Angriffe auf ihre Schiffe zu üben. Und sie werden es genauso machen wie in China. Das Gai-Jin-Schiff wurde in der Meerenge von Taiwan versenkt, sie aber haben Hunderte von Leagues entfernt die Küste verwüstet.
Was ist ihr leichtestes Ziel in Nippon? Edo.
Hat Ogama das erkannt, und dient sein geheimer Plan nur dazu, die Gai-Jin zu provozieren? Wenn ich Anführer der Gai-Jin wäre, würde ich Edo zerstören. Sie wissen es zwar nicht, aber Edo ist untrennbar mit unserem Shōgunat verbunden. Wenn Edo fällt, fällt das Toranaga-Shōgunat, und dann ist das Land der Götter jeder Vergewaltigung hilflos ausgeliefert.
Darum muß das um jeden Preis verhindert werden!
Denk nach! Wie kann man die Gai-Jin und Ogama erwischen, dessen Lösung für dieses Problem lautet, daß wir den Kopf hinhalten sollen – nicht er. »Ich stimme Ihrem klugen Berater zu: Wir sollten uns bereitmachen, Osaka zu verteidigen«, begann er, während sich sein Magen umdrehte. Dann kam seine Angst um die Sicherheit von Edo hoch. »Ob Osaka jetzt oder später, eine Kriegsflotte ist zurückgekehrt. Wenn wir nicht sehr vorsichtig sind, wird ein Krieg unvermeidlich sein.«
»Ich hab’s satt, vorsichtig zu sein!« Ogama beugte sich zu ihm hinüber. »Ich sage, ob sie in Osaka landen oder nicht – wir stechen das Geschwür an unseren Eiern auf und vernichten Yokohama. Jetzt! Wenn Sie es nicht tun – tut mir leid, aber dann tu ich’s!«