17
Edo
In jener Nacht führte Hiraga seine Gruppe beim Schein eines halben Mondes lautlos über den Palisadenzaun eines Daimyo-Palastes im zweiten Ring vor den Burgmauern und huschte durch die Gärten zum Hintereingang des Herrenhauses. Alle sechs Mann trugen die gleichen kurzen, schwarzen Nachtkampf-Kimonos ohne Rüstung, alle waren mit Schwertern, Dolchen und Garrotten bewaffnet. Alle waren Choshu-Ronin, die Hiraga für diesen Überfall dringend aus Kanagawa angefordert hatte.
Das Herrenhaus war von einem weitläufigen Gelände mit Kasernen, Ställen und Dienerquartieren umgeben, in dem normalerweise fünfhundert Krieger sowie die Familie des Daimyo und seine Diener untergebracht waren, die nun aber unheimlich leer waren. Nur zwei verschlafene Wachtposten standen an der Hintertür. Doch diese Männer sahen die Angreifer zu spät, um noch Alarm zu schlagen, und starben lautlos. Dem einen zog Akimoto die Uniform aus, um sie selbst anzulegen; dann schleifte er die Leichen ins Gebüsch und kehrte zu den anderen auf der Veranda zurück. Sie warteten lauschend. Kein Warnruf ertönte, sonst hätten sie den Überfall abgebrochen.
»Wenn wir uns zurückziehen müssen, macht das nichts«, hatte Hiraga gegen Abend erklärt, als die anderen in Edo eintrafen. »Es reicht, daß wir so dicht an die Burg herankommen konnten. Unser Ziel heute nacht ist Terror. Wir wollen Tod und Terror verbreiten, damit sie sehen, daß niemand und kein Ort vor uns und unseren Spionen sicher ist. Terror, möglichst schnell hinein und hinaus, ein Maximum an Überraschung und keine Verluste. Heute nacht haben wir eine einmalige Gelegenheit dazu.« Er lächelte. »Als Anjo und die Ältesten das sankin-kotai abschafften, haben sie dem Shōgunat das Grab geschaufelt.«
»Stecken wir den Palast in Brand, Vetter?« erkundigte sich Akimoto erwartungsvoll.
»Nach dem Mord.«
»Und wer wird sterben?«
»Alt, graues, schütteres Haar, dünn und klein, Utani, der roju-Älteste.«
Allgemeines Atemanhalten. »Der Daimyo von Watasa?«
»Ja. Nori Anjos Laufhund. Leider habe ich ihn nie gesehen. Jemand von euch?«
»Ich glaube, ich würde ihn erkennen«, meldete sich ein Achtzehnjähriger mit einer schlimmen Narbe auf der einen Seite des Gesichts. »Dürr ist er, wie ein krankes Huhn, ich hab ihn einmal in Kyōto gesehen. Dann werden wir also heute nacht einen Ältesten über die Klinge springen lassen, einen Daimyo, eh? Gut!« Er grinste und kratzte sich die Narbe, Andenken an einen erfolglosen Choshu-Versuch, sich im letzten Frühling der Palasttore in Kyōto zu bemächtigen. »Nach heute nacht wird Utani nirgendwohin mehr fliehen. Er muß wahnsinnig sein, außerhalb der Mauern zu schlafen und es auch noch bekannt werden zu lassen! Und dazu noch ohne Wachen? Idiotisch!«
Joun, siebzehn Jahre und immer vorsichtig, sagte; »Entschuldigen Sie, Hiraga-san, aber sind Sie sicher, daß dies nicht eine Falle ist? Yoshi wird Fuchs genannt, Anjo noch Schlimmeres. Auf unseren Kopf sind hohe Preise ausgesetzt, eh? Ich stimme meinem Bruder zu: Wie kann Utani so dumm sein?«
»Weil er ein heimliches Stelldichein hat, ein sehr geheimes. Von Zeit zu Zeit ist er ein Päderast.«
Alle starrten ihn verständnislos an. »Warum sollte er das geheimhalten?«
»Weil der Knabe einer von Anjos Intimfreunden ist.«
»So ka!« Jouns Augen glitzerten. »Dann würde ich das, glaube ich, auch geheimhalten. Aber warum sollte sich ein hübscher Knabe jemandem wie Utani hingeben, wenn er bereits einen mächtigen Gönner hat?«
Hiraga zuckte die Achseln. »Geld, was sonst? Anjo ist ein Geizkragen, Utani großzügig – werden denn seine Bauern nicht am schwersten besteuert? Sind seine Schulden denn nicht Gebirge? Ist er nicht dafür bekannt, daß er Gold-Obans wie Reiskörner verbraucht? Anjo wird diese Erde, so oder so, bald verlassen. Vielleicht denkt dieser hübsche Knabe, daß Utani überleben wird, und meint, daß sich das Risiko lohnt. Seine Familie ist vermutlich verarmt und ersäuft in Schulden – leben nicht alle Samurai unter dem Hirazamurai-Rang am Rande der Armut?«
»Das stimmt«, erwiderten sie einstimmig.
»Das geht schon seit dem vierten Shōgun so«, sagte der Achtzehnjährige bitter, »seit fast zweihundert Jahren. Die Daimyos kassieren alle Steuern, verkaufen den Samurai-Status an stinkende Kaufleute, mit jedem Jahr mehr, und kürzen unseren Sold trotzdem immer weiter. Die Daimyos haben uns, ihre loyalen Gefolgsleute, betrogen!«
»Da hast du recht«, sagte Akimoto zornig. »Mein Vater mußte sich als Landarbeiter verdingen, um meine Brüder und Schwestern ernähren zu können…«
»Unserer hat nur noch seine Schwester und nur noch eine Hütte«, sagte Joun. »Seit Urgroßvaters Zeiten stecken wir so tief in Schulden, daß wir sie niemals abzahlen können. Niemals.«
»Ich weiß, wie man mit diesen dreckigen Geldanbetern umgehen muß«, behauptete ein anderer. »Entweder streicht man ihre Forderungen, oder man bringt sie um. Wenn die Daimyos ihre Schulden gelegentlich so begleichen, warum nicht auch wir?«
»Großartige Idee«, bestätigte Akimoto, »aber es würde dich den Kopf kosten. Herr Ogama würde an dir ein Exempel statuieren – für den Fall, daß seine eigenen Geldverleiher aufhören, ihm Geld vorzuschießen gegen – wie heißt das noch gleich? – gegen vier Jahre Steuern im voraus.«
Ein anderer sagte: »Meine Familienbezüge haben sich seit Sekigahara nicht verändert, dabei ist der Reispreis seit damals um eintausend Prozent gestiegen. Wir sollten Kaufleute werden oder Saké-Brauer. Zwei Onkel und ein älterer Bruder haben ihre Schwerter aufgegeben und genau das getan.«
»Schrecklich, ja, aber auch ich habe schon mal daran gedacht.«
»Alle Daimyos haben uns betrogen.«
»Die meisten«, berichtigte Hiraga, »nicht alle.«
»Stimmt«, bestätigte Akimoto. »Macht nichts, sobald wir die Barbaren vertrieben und das Toranaga-Shōgunat gebrochen haben, werden wir unseren eigenen Daimyo wählen. Der neue Shōgun wird uns genug zu essen geben, uns und unseren Familien, und bessere Waffen, bestimmt sogar Barbaren-Gewehre.«
»Die wird er für seine eigenen Männer behalten, wer immer er auch sein mag.«
»Warum sollte er, Hiraga? Es wird genug für alle geben. Horten die Toranagas nicht fünf bis zehn Millionen Koku jährlich? Das ist mehr als genug, um uns ausreichend zu bewaffnen. Hört mal zu, wenn wir uns im Dunkeln trennen – wo treffen wir wieder zusammen?«
»Im Haus ›Zu den grünen Weiden‹, südlich der Vierten Brücke, auf keinen Fall hier. Wenn das zu schwierig sein sollte, versteckt euch irgendwo und versucht, euch nach Kanagawa durchzuschlagen…«
Jetzt, auf der Veranda, lauschte Hiraga aufmerksam auf jedes Geräusch, das Gefahr bedeuten konnte; er genoß die Erregung, sein Herz schlug kräftig, er empfand Lebensfreude und spürte den herannahenden Tod, der mit jedem Tag näher kam. In wenigen Monaten gehen wir weiter. Endlich Taten…
Tagelang hatte er im Tempel neben der englischen Gesandtschaft ungeduldig auf eine Gelegenheit gewartet, sie in Brand zu stecken, doch immer waren zu viele feindliche Truppen dort, ausländische und Samurai. Täglich spielte er den Gärtner, spionierte, lauschte, plante – so leicht, den hochgewachsenen Barbaren zu töten, der dem Tokaidō-Überfall entkommen war.
Ach, Tokaidō! Tokaidō bedeutet Ori, und Ori bedeutet Shorin, und beide bedeuten Sumomo, die nächsten Monat siebzehn wird, und ich werde keine Rücksicht auf den Brief meines Vaters nehmen! Auf gar keinen Fall! Ich werde Ogamas Pardon nicht akzeptieren, wenn ich dafür sonno-joi abschwören muß. Ich werde seinem Stern folgen, und sollte er mich in den Tod führen.
Jetzt lebe nur noch ich. Ori ist tot oder wird morgen sterben, Shorin ist dahin. Und Sumomo?
Letzte Nacht hatten Tränen seine Wangen genäßt, Tränen aus dem Traum, in dem sie war, ihr Bushido, ihr Feuer, ihr Duft und ihr Körper, die ihn verlockten und dennoch auf ewig für ihn verloren waren. Unmöglich, im Lotussitz einzuschlafen und Zen zu benutzen, um Ruhe zu finden.
Dann, heute morgen, das Geschenk der Götter, die verschlüsselte Nachricht von Koikos Mama-san über Utani, die sie ebenso heimlich von Koikos Zofe empfangen hatte. Eeee, dachte er genüßlich, ich möchte wissen, was Toranaga Yoshi wohl tun würde, wenn er wüßte, daß unsere Tentakeln bis in sein Bett, ja sogar um seine Eier reichen!
Inzwischen überzeugt, daß sie noch nicht entdeckt waren, sprang er auf und ging zur Tür. Benutzte sein Messer, um den Riegel zurückzuschieben. Schnell hinein. Akimoto in seiner Wachsoldatenuniform blieb draußen. Die anderen folgten Hiraga lautlos auf dem ihm vorher beschriebenen Weg zum Quartier der Frauen. Alles war kostbar eingerichtet, nur edelste Hölzer, feinste Tatamis, reinstes Ölpapier für die Shoji und duftende Öle für Lampen und Kerzen. Dann eine Biegung des Korridors. Der arglose Wachtposten starrte ihn verständnislos an. Er öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Dafür sorgte Hiragas Messer.
Er trat über den Leichnam hinweg und schlich bis ans Ende des Korridors, wo er einen Moment innehielt, um sich zu orientieren. Nun eine Sackgasse. Beide Seiten des Ganges Shoji-Wände, dahinter mehrere Zimmer. Am Ende nur eine einzige, größer und kostbarer verziert als die anderen. Dahinter eine brennende Öllampe wie in einigen der anderen Räume, ein paar Schnarchlaute und schweres Atmen. Lautlos bedeutete er Todo und Joun, ihm zu folgen, und den anderen, Wache zu stehen; dann schlich er weiter wie ein nächtliches Raubtier. Das Geräusch schweren Atmens wurde lauter.
Ein Nicken für Joun. Lautlos glitt der junge Mann an ihm vorbei und kauerte neben der Endtür nieder, die er auf ein weiteres Zeichen von Hiraga aufschob. Hiraga sprang zuerst in den Raum, dann Todo.
Zwei Männer lagen auf den kostbaren Seidensteppdecken und Futons, nackt und vereinigt. Der Junge lag ausgestreckt, während der ältere ihn von hinten umklammerte und keuchend, blind gegen alles, in ihn hineinstieß. Hiraga stand vor ihnen, riß sein Schwert hoch empor, packte den Griff mit beiden Händen und trieb die Spitze unmittelbar über dem Herzen durch die Rücken beider Körper bis in den Tatamiboden hinein.
Der alte Mann keuchte auf und starb auf der Stelle, obwohl seine Glieder im Tod noch zuckten. Der Junge krallte hilflos um sich, unfähig, sich umzudrehen, unfähig, den Rumpf zu bewegen, nur Arme, Beine und Kopf. Er vermochte weder zu sehen noch zu begreifen, was geschehen war, nur daß sein Leben irgendwie aus ihm herausfloß, als sich sein ganzer Körper entspannte. Ein gräßliches Heulen sammelte sich in seiner Kehle, als Todo vorwärtssprang, um es mit der Garrotte zu ersticken – einen Sekundenbruchteil zu spät. Ein Teil des Schreis hing in der nun stinkenden Luft.
Sofort wirbelten sie zur Tür herum, alle Sinne aufs äußerste gespannt, Hiraga mit gezücktem Dolch. Todo, Joun und die anderen im Korridor mit erhobenen Schwertern, hämmernden Herzen, bereit zu Angriff, Flucht, Kampf, Tod, aber auf jeden Fall bereit, sich zu wehren und stolz zu sterben. Hinter Hiraga rissen die zarten Hände des Jungen an seinem Hals, gruben die langen, Perfekt lackierten Nägel tiefe Wunden rings um den Draht. Die Finger erzitterten, hielten inne, bebten, hielten inne, bebten. Und erschlafften.
Schweigen. Irgendwo machte ein Schlummernder Geräusche, um gleich darauf in den Schlaf zurückzusinken. Noch immer kein Alarm, keine Warnrufe. Allmählich erwachten die Angreifer, benommen und schweißnaß, aus ihrer Starre. Hiraga gab das Zeichen zum Rückzug.
Alle gehorchten sofort, bis auf Joun, der ins Zimmer zurücklief, um Hiragas Schwert zu holen. Breitbeinig stellte er sich über die beiden Leichen, vermochte aber trotz größter Anstrengung das Schwert nicht herauszuziehen. Hiraga winkte ihn zurück, versuchte es selbst und schaffte es ebensowenig. Auf einem niedrigen Lackgestell ruhten die Waffen der beiden Toten. Er nahm sich eine. An der Tür wandte er sich noch einmal um.
Im sauberen, ruhigen Schein der Öllampe wirkten die beiden Leichen wie eine einzige, monströse, vielbeinige Libelle mit zwei menschlichen Köpfen, die zerwühlten Steppdecken wie phantastische Flügel, sein Schwert wie eine riesige Silbernadel. Jetzt konnte er das Gesicht des Knaben sehen: Es war wunderschön.
Yoshi ging auf der Brustwehr spazieren, neben sich Koiko, die einen guten Kopf kleiner war. Der leichte Wind trug kühle Luft und den Geruch des Meeres bei Ebbe heran. Er bemerkte es nicht. Wieder wanderte sein Blick von der Stadt unten zum Mond, den er nachdenklich betrachtete. Koiko wartete geduldig. Ihr Kimono war aus feinster Shantungseide mit einem scharlachroten Unterkimono, die zwanglos aufgelösten Haare fielen ihr bis zur Taille. Sein Kimono war aus Seide, aber schlicht, seine Schwerter waren gewöhnlich, aber scharf.
»Woran denkst du, Sire?« fragte sie, als sie es an der Zeit fand, seine düsteren Gedanken zu vertreiben. Obwohl sie allein waren, dämpfte sie ihre Stimme, denn wie sie wußte, war es nirgendwo innerhalb der Burgmauern wirklich sicher.
»Kyōto«, antwortete er knapp und ebenso leise.
»Wirst du Shōgun Nobusada begleiten?«
Obwohl er inzwischen beschlossen hatte, noch vor der offiziellen Reisegruppe in Kyōto zu sein, ob sie nun Edo verließ oder nicht, schüttelte er den Kopf: Die Täuschung anderer war ihm zur Gewohnheit geworden.
Irgendwie muß ich diesen jungen Toren aufhalten und zur einzigen Verbindung zwischen dem Kaiser und dem Shōgunat werden, hatte er sich überlegt, und die Schwierigkeiten, mit denen er sich herumplagen mußte, brachen über ihn herein: der Wahnsinn dieses Staatsbesuchs; Anjo, der mit seinem Einfluß die Zustimmung des Rats erzwungen hat, Anjo mit seinem Haß und seinen Intrigen; die Falle, in der ich hier in der Burg sitze; die Vielzahl der Feinde im ganzen Land, vor allem Sanjiro von Satsuma, Hiro von Tosa und Ogama von Choshu, der nun im Besitz der Tore ist. Und zu allem Überfluß, lauernd wie blutlechzende Wölfe, die Gai-Jin.
Die müssen beseitigt werden, endgültig. Der Knabe Nobusada und die Prinzessin müssen neutralisiert werden, endgültig.
Die endgültige Lösung für die Gai-Jin liegt auf der Hand: Wir müssen auf jedem erdenklichen Weg, soviel es uns auch kosten mag, reicher werden als sie. Und besser bewaffnet. Das muß das Ziel unserer geheimen Staatspolitik sein. Wie das zu erreichen ist, weiß ich noch nicht. Aber zunächst einmal müssen wir ihnen schmeicheln, bis sie einschlafen, sie aus dem Gleichgewicht bringen, ihre eigene törichte Einstellung gegen sie kehren – und unsere überlegenen Fähigkeiten einsetzen, um sie kaltzustellen.
Nobusada? Ebenso klar. Aber er ist nicht die eigentliche Bedrohung. Das ist sie. Nicht über ihn muß ich mir Gedanken machen, sondern über sie, Prinzessin Yazu; sie ist die eigentliche Macht hinter ihm. Und vor ihm.
Er mußte über das Bild lächeln, das er plötzlich vor sich sah – sie mit einem Penis und Nobusada als der Empfangende. Das würde ein wundervolles ukiyo-e geben, dachte er belustigt. Ukiyo-e waren erotische, vielfarbige Holzschnitte, so beliebt und geschätzt bei den Händlern und Geschäftsleuten von Edo, daß sie vom Shōgunat seit über einem Jahrhundert verboten waren, weil sie für die unterste Klasse zu leicht als Schmähschriften gegen Höherstehende zu mißbrauchen waren. In Nippons starrer gesellschaftlicher Hierarchie kamen zunächst die Samurai, dann die Bauern, drittens die Handwerker jeglicher Art und zuletzt, von allen verachtet, die Kaufleute: ›Blutsauger an jeglicher anderer Arbeit‹ waren sie im Vermächtnis des Shōgun Toranaga genannt worden. Verachtet, weil alle anderen dennoch ihre Fähigkeiten und ihren Reichtum brauchten. Vor allem die Samurai.
Also konnte man Regeln, gewisse Regeln lockern. So wurden zum Beispiel in Edo, Osaka und Nagasaki, wo die wirklich reichen Kaufleute lebten, ukiyo-e, obwohl offiziell verboten, von den besten Künstlern und Druckherstellern des Landes gemalt, geschnitten und munter produziert. In jeder Epoche wetteiferten die Künstler miteinander um Ruhm.
Exotisch, deutlich, aber stets mit gigantischen Genitalien, über alle Maßen komisch, die besten im perfekten, feuchten und beweglichen Detail. Ebensosehr geschätzt waren die ukiyo-e-Porträts bekannter Schauspieler, ständiges Futter für Klatsch – da Schauspielerinnen per Gesetz verboten waren, spielten speziell ausgebildete Männer, die omagaki, die weiblichen Rollen –, und vor allem Drucke der berühmtesten Kurtisanen. »Ich möchte, daß dich jemand malt. Schade, daß Hiroshige und Hokusai tot sind.«
Sie lachte. »Und in welcher Pose, Sire?«
»Nicht im Bett.« Er stimmte in ihr Lachen ein, und da es ungewöhnlich war, daß er lachte, freute sie sich über diesen Sieg. »Einfach so, wie du auf der Straße gehst, mit einem Sonnenschirm in Grün und Rosenrot, in deinem rosenrot-grünen Kimono mit den goldgewirkten Karpfen.«
»Vielleicht, Sire, statt auf der Straße lieber in einem Garten, wie ich in der Abenddämmerung Glühwürmchen fange?«
»O ja, noch besser!« Er lächelte, weil er sich an die seltenen Tage seiner Jugend erinnerte, da er an Sommerabenden, wenn er von seinen Studien erlöst war, mit feinen Netzen auf die Felder hinauslief, die winzigen Insekten in winzige Käfige setzte und zusah, wie das Licht wundersamerweise an- und ausging, während er, fröhlich lachend und frei von Pflichten, Gedichte erfand. »Genauso, wie ich mich jetzt in deiner Nähe fühle«, sagte er leise.
»Sire?«
»Du befreist mich von mir selbst, Koiko.«
Erfreut über dieses Kompliment, berührte sie seinen Arm und sagte damit alles und nichts; sie konzentrierte sich ganz auf ihn, versuchte seine Gedanken und Wünsche zu erraten und wollte in allem perfekt sein.
Aber dieses Spiel ist ermüdend, dachte sie abermals. Dieser Kunde ist zu weitblickend, zu unberechenbar, zu ernst und zu schwierig zu unterhalten. Ich frage mich, wie lange er mich behalten wird. Ich beginne die Burg zu hassen, die Enge zu hassen, das ständige Auf-die-Probe-Stellen, ich hasse es, fern von zu Hause und dem fröhlichen Lachen und Geplauder der anderen Damen und vor allem fern von meiner Mama-san Meikin zu sein.
Ja, aber es ist ein wunderbares Gefühl, im Mittelpunkt der Welt zu stehen, ich liebe den einen Koku pro Tag, jeden Tag, genieße es, daß ich bin, wer ich bin, Dienerin des edelsten Herrn, der eigentlich auch nur ein Mann ist und, wie alle Männer, ein störrischer kleiner Junge, der vorgibt, kompliziert zu sein, den man aber, wie immer, durch Süßigkeiten und Prügel bändigen kann und der, wenn du es klug anstellst, immer nur das tut, was du zuvor schon beschlossen hast – was immer er sich dabei denkt.
Ihr Lachen tirilierte.
»Was ist?«
»Du machst mich fröhlich, Sire, von Leben erfüllt. Ich werde dich Herr Geber des Glücks nennen müssen.«
Ihm wurde warm ums Herz. »Und nun zu Bett?«
»Und nun zu Bett.«
Arm in Arm machten sie sich bereit, das Mondlicht hinter sich zu lassen. »Sieh doch, dort!« sagte er plötzlich.
Tief unten brannte einer der Paläste. Hoch hinaus schossen die Flammen, dann quollen dichte Rauchwolken auf. Jetzt hörten sie schwach die Feuerglocken, sahen Menschen wimmeln wie Ameisen, und gleich darauf formierten sich Ketten weiterer Ameisen, um die Brandstätte mit den Wassertanks zu verbinden. Nicht die Frau, sondern das Feuer ist unsere größte Gefahrenquelle, hatte Shōgun Toranaga in seinem Vermächtnis mit seltenem Humor geschrieben. Aber vor dem Feuer können wir uns schützen, vor der Frau niemals. Alle Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter sollen verheiratet sein. Alle Wohngebäude sollen über leicht erreichbare Wassertanks verfügen.
»Sie werden es nicht löschen können – oder, Sire?«
»Nein. Vermutlich hat irgendein Tölpel eine Lampe oder Kerze umgestoßen«, antwortete Yoshi mit verkniffenem Mund.
»Ja, du hast recht, Sire, ein ungeschickter Tölpel«, stimmte sie ihm sofort zu, um ihn zu besänftigen, denn sie spürte Hitze und wußte nicht, warum. »Ich bin so froh, daß du den Befehl über den Brandschutz in der Burg hast, damit wir ruhig schlafen können. Mit dem, der das gemacht hat, sollte man ein ernstes Wort reden. Ich möchte wissen, wessen Herrenhaus das ist.«
»Das ist die Tajima-Residenz.«
»Oh, Sire, du verblüffst mich immer wieder«, sagte Koiko mit rührender Bewunderung im Ton. »Wie wundervoll, wenn man unter den Hunderten von Palästen so schnell einen vom anderen unterscheiden kann, und aus so großer Ferne.« Sie verneigte sich, um ihre Miene zu verbergen, denn sie war sicher, daß es der Watasa-Palast war und daß Daimyo Utani inzwischen tot und der Überfall erfolgreich verlaufen war. »Du bist wundervoll.«
»O nein, du bist es, die wundervoll ist, Koiko-chan.« Lächelnd blickte er auf sie hinab, die so süß und zierlich, so aufmerksam beobachtend und so gefährlich war.
Drei Tage zuvor hatte ihm Misamoto, sein neuer Spion, der darauf aus war, seinen Wert unter Beweis zu stellen, von in den Kasernen umlaufenden Gerüchten über Utani und den hübschen Knaben berichtet. Daraufhin hatte er Misamoto angewiesen, sich so zu verhalten, daß Koikos Zofe das Geheimnis mithören konnte, weil er sicher war, daß die es entweder ihrer Herrin oder ihrer Mama-san oder beiden weitertragen werde, falls die Gerüchte zutrafen: daß diese Mama-san, Meikin, eine eifrige Helferin von sonno-joi sei und ihr Haus als Treffpunkt und Zuflucht für die Shishi zur Verfügung stellte. Die Nachricht würde dann an die Shishi weitergegeben werden, die auf eine so großartige Gelegenheit für einen wichtigen Mord sofort reagieren würden. Seit nahezu zwei Jahren hielten seine Spione sie und ihr Haus unter Beobachtung – sowohl aus diesem Grund als auch wegen der zunehmenden Bedeutung Koikos.
Aber kein einziges Mal war auch nur eine einzige Spur von Beweis zutage gekommen, der diese Theorie zu bestätigen und die Frauen zu überführen vermochte.
Oh, aber jetzt, dachte er, als er den Brand beobachtete, jetzt, da der Palast in Flammen steht, muß Utani tot sein, und ich werde endlich Beweise haben: ein leises Flüstern, von den Ohren einer Zofe belauscht, hat böse Früchte getragen. Utani war – ist – ein gelungener Coup für sie. Genauso, wie ich es sein würde, nur noch ein weitaus bedeutenderer. Ein leichter Schauer überlief ihn.
»Brände machen mir Angst«, behauptete sie, weil sie den Schauer falsch auslegte und sein Gesicht wahren wollte.
»Ja. Komm mit, überlassen wir sie ihrem Karma.« Arm in Arm gingen sie davon, während wieder ein Lächeln um seine Lippen spielte und er es schwer fand, seine Erregung zu kaschieren. Ich frage mich, was dein Karma ist, Koiko. Hat deine Zofe es dir erzählt, und hast du sie angewiesen, es der Mama-san zu erzählen? Bist du ein Teil dieser Kette?
Vielleicht ja, vielleicht auch nicht. Ich habe keine Veränderung an dir bemerkt, als ich Tajima statt Watasa sagte, dabei habe ich dich aufmerksam beobachtet. Ich frage mich. Natürlich bist du verdächtig, warst immer verdächtig, warum hätte ich dich sonst gewählt, verleiht das meinem Bett nicht Würze? Das tut es, und du bist deinem Ruf gerecht geworden. Ich bin wirklich mehr als zufrieden, deswegen werde ich noch warten. Inzwischen ist es leicht, dir eine Falle zu stellen, es tut mir leid: sogar noch leichter ist es, deiner Zofe die Wahrheit zu entlocken, deiner gar nicht so klugen Mama-san und dir, meine Hübsche! Viel zu leicht, es tut mir leid, wenn ich die Falle zuschnappen lasse.
Eeee, das wird eine schwere Entscheidung sein, denn dank Utani habe ich jetzt eine geheime und direkte Leitung zu den Shishi, die ich benutzen kann, um sie nach Belieben zu entlarven, sie zu vernichten oder sogar gegen meine Feinde zu benutzen. Warum nicht?
Verführerisch!
Nobusada? Nobusada und seine Prinzessin? Äußerst verführerisch! Er lachte auf.
»Ich freue mich, daß du heute abend so froh bist, Sire.«
Prinzessin Yazu war in Tränen aufgelöst. Seit fast zwei Stunden probierte sie es mit allen Praktiken, die sie jemals gelesen oder in Kopfkissenbüchern gesehen hatte, um ihn zu erregen, und obwohl es ihr gelungen war, ihn stark zu machen, hatte er sie, bevor er die Wolken und den Regen erreichte, schmählich im Stich gelassen. Dann war er, wie üblich, in Tränen ausgebrochen und hatte, immer wieder von einem nervösen Hustenanfall unterbrochen, schäumend geschrien, das sei einzig und allein ihre Schuld. Wie üblich, hatte sich der Sturm schnell wieder gelegt; er hatte sie um Verzeihung gebeten, sich an sie geschmiegt, um ihre Brüste zu küssen, und war, an einer Brustwarze saugend und auf ihrem Schoß zusammengerollt, allmählich eingeschlafen.
»Es ist einfach ungerecht«, wimmerte sie erschöpft und schlaflos, »ich muß einen Sohn haben, sonst ist er so gut wie tot, und ich bin es auch. Oder wenigstens so beschämt, daß ich mir den Kopf kahlrasieren und eine buddhistische Nonne werden muß… oh ko, oh ko…«
Selbst ihre Hofdamen konnten ihr nicht helfen. »Ihr seid alle erfahren, die meisten von euch sind verheiratet, es muß doch eine Möglichkeit geben, aus meinem Herrn einen Mann zu machen«, hatte sie nach wochenlangen Versuchen geschrien, und sowohl sie als auch ihre Damen waren entsetzt darüber, daß sie die Selbstbeherrschung verloren hatte. »Findet etwas! Es ist eure Pflicht, etwas zu finden!«
Im Laufe der Monate hatten ihre Hofdamen Kräutersammler, Akupunkteure, Ärzte, ja sogar Wahrsager konsultiert – ohne Ergebnis. An diesem Morgen hatte sie ihre Oberhofdame kommen lassen. »Es muß einfach eine Möglichkeit geben! Was raten Sie mir?«
»Sie sind erst sechzehn, Ehrenwerte Prinzessin«, hatte die Hofdame auf den Knien geantwortet, »und Ihr Herr ist erst sechzehnein…«
»Aber alle Frauen empfangen in diesem Alter, nein, schon weit früher, fast alle. Was ist los mit ihm oder mit mir?«
»Mit Ihnen gar nichts, Prinzessin, das haben wir Ihnen immer wieder gesagt, die Ärzte versichern uns, daß mit Ihnen alles in Ordnung…«
»Was ist mit diesem Gai-Jin-Doktor, dem Riesen, von dem ich gehört habe? Eine von meinen Zofen hat mir erzählt, daß er Wunderkuren für alle Leiden hat. Vielleicht könnte er meinem Herrn helfen.«
»Oh, tut mir leid, Hoheit«, hatte die Frau entsetzt ausgerufen, »aber daß er oder Sie einen Gai-Jin konsultieren, ist unmöglich! Bitte, haben Sie Geduld! Cheng-sin, der hervorragende Wahrsager, hat uns gesagt, mit Geduld würde bestimmt alles…«
»Es könnte heimlich gemacht werden, Sie Idiotin! Geduld? Ich habe monatelang gewartet!« hatte sie erregt gekreischt. »Monatelang Geduld, und trotzdem hat mein Herr auch nicht die leiseste Hoffnung auf einen Erben!« Und ehe sie sich zu beherrschen vermochte, hatte sie der Frau eine Ohrfeige versetzt. »Zehn Monate Geduld und schlechte Ratschläge sind zuviel, du dämliche Person, verschwinde! Geh! Verschwinde endlich aus meinen Augen!«
Den ganzen Tag hatte sie diesen Abend geplant. Hatte spezielle, mit Ginseng versetzte Speisen zubereiten lassen, die ihm schmeckten. Speziellen, mit Ginseng und pulverisiertem Rhinozeroshorn versetzten Saké. Spezielle, stark aphrodisierende Parfüms. Spezielle Gebete an Buddha. Spezielle Bitten an Amaterasu, die Sonnengöttin, Großmutter des Gottes Niniji – der vom Himmel herabstieg, um über Nippon zu herrschen, und Urgroßvater des ersten sterblichen Kaisers Jimmu-Tenno war, des Kaisers, der vor fünfundzwanzig Jahrhunderten ihre kaiserliche Dynastie begründete.
Doch alles war umsonst gewesen.
Inzwischen war es tiefe Nacht. Weinend lag sie auf ihren Futons, während ihr Ehemann schlafend neben ihr auf den seinen ruhte, nicht etwa in zufriedenem Schlaf, sondern dann und wann hustend und mit unaufhörlich zuckenden Gliedern. Im Schlaf war sein Gesicht ihr nicht einmal unsympathisch. Armer, dummer Junge, dachte sie verzweifelt, ist es dein Karma, wie so viele deiner Linie ohne Erben zu sterben? Oh ko oh ko oh ko! Warum habe ich mich aus den Armen meines geliebten Prinzen zu dieser Katastrophe überreden lassen?
Vier Jahre zuvor, im Alter von zwölf Jahren, war sie zu ihrer großen Freude mit Prinz Sugawara, ihrem Spielkameraden aus der Kinderzeit, verlobt worden – mit dem freudigen Einverständnis ihrer Mutter, der letzten und bevorzugten Konsortin ihres Vaters, des Kaisers Ninko, der im selben Jahr starb, in dem sie geboren wurde, und mit der ebenso erfreuten und notwendigen Zustimmung des Kaisers Komei, ihres weit älteren Stiefbruders, der ihm auf den Thron gefolgt war.
Das war das Jahr, in dem die Bakufu offiziell den Vertrag unterzeichneten, der Yokohama und Nagasaki gegen den Wunsch des Kaisers Komei, die Mehrheit des Hofes und den offen ausgesprochenen Rat der meisten Daimyos den Fremden öffnete. Das war das Jahr, in dem sonno-joi zum Schlachtruf wurde. Und das war das Jahr, in dem der damalige taikō Ii dem Fürstlichen Berater vorschlug, Prinzessin Yazu mit dem Shōgun Nobusada zu verheiraten.
»Tut mir leid«, hatte der Berater erwidert. »Das ist unmöglich.«
»Es ist durchaus möglich, und es ist außerdem dringend erforderlich, das Shōgunat mit der kaiserlichen Dynastie zu verbinden, um damit dem ganzen Land Frieden und Ruhe zu bringen«, hatte ihm Ii entgegnet. »Es gibt zahlreiche historische Präzedenzfälle, in denen sich Toranagas bereit erklärt haben, kaiserliche Familienmitglieder zu ehelichen.«
»Es tut mir leid.« Der Berater war schwächlich, kostbar gekleidet und frisiert, seine Zähne waren geschwärzt. »Wie Sie sehr wohl wissen, ist Ihre Kaiserliche Hoheit verlobt und wird sich, sobald sie die Pubertät erreicht hat, sogleich vermählen. Und wie Sie ebensogut wissen, ist Shōgun Nobusada ebenfalls verlobt – mit der Tochter eines Edlen aus Kyōto.«
»Es tut mir leid, aber Verlöbnisse hochgestellter Personen sind eine Frage der Staatspolitik und unterstehen von jeher der Kontrolle des Shōgunats«, antwortete Ii. Er war ein kleiner, doch würdevoller und unbeugsamer Mann. »Shōgun Nobusadas Verlöbnis ist auf seinen eigenen Wunsch gelöst worden.«
»Oh, tut mir leid, wie traurig! Ich hörte, es war eine gute Verbindung.«
»Shōgun Nobusada und Prinzessin Yazu sind im selben Alter, zwölf. Bitte, informieren Sie den Kaiser, der taikō möchte ihm mitteilen, daß der Shōgun sich geehrt fühlen wird, sie als Gemahlin zu akzeptieren. Sobald sie vierzehn oder fünfzehn ist, können die beiden heiraten.«
»Ich werde mit dem Kaiser sprechen, muß Ihnen aber leider sagen, daß Ihre Bitte unmöglich zu erfüllen ist.«
»Ich hoffe zuversichtlich, daß der Sohn des Himmels sich bei einer so wichtigen Entscheidung vom Himmel leiten läßt. Da die Gai-Jin vor unseren Toren stehen, müssen Shōgunat und Dynastie mit allen Mitteln gestärkt werden.«
»Es tut mir leid, aber die Kaiserliche Dynastie braucht nicht gestärkt zu werden. Und was die Bakufu betrifft, so würde Gehorsam den Wünschen des Kaisers gegenüber ganz zweifellos den Frieden des Reiches fördern.«
»Die Verträge müssen unterzeichnet werden«, erwiderte Ii barsch. »Was immer wir in der Öffentlichkeit behaupten – mit ihren Flotten und Waffen können die Barbaren uns demütigen! Wir sind wehrlos! Wir sind gezwungen zu unterzeichnen!«
»Es tut mir leid, das ist das Problem und die Schuld der Bakufu und des Shōgunats. Kaiser Komei hat die Verträge nicht gebilligt und nicht gewollt, daß sie unterzeichnet wurden.«
»Außenpolitik, überhaupt jegliche weltliche Politik, wie etwa die Vermählung, die ich so bescheiden vorschlage, fällt ausschließlich in den Bereich des Shōgunats. Der Kaiser…«, Ii wählte seine Worte sehr sorgfältig, »… hat Vorrang bei allen anderen Angelegenheiten.«
»Vor wenigen Jahrhunderten hat der Kaiser noch, wie es Jahrtausende üblich war, allein regiert.«
»Es tut mir leid, aber wir leben nicht vor wenigen Jahrhunderten.«
Als Iis Vorschlag, von allen Gegnern der Bakufu als Beleidigung der Dynastie empfunden, bekanntgemacht wurde, gab es einen allgemeinen Aufschrei. Innerhalb weniger Wochen wurde er von den Shishi für seine Arroganz ermordet, und die Angelegenheit war beendet.
Bis sie zwei Jahre später vierzehn wurde.
Prinzessin Yazu, noch immer keine Frau, war dennoch bereits eine erfolgreiche Dichterin, war mit allen für ihre Zukunft wichtigen Hofritualen vertraut und immer noch in ihren Prinzen genauso verliebt wie er in sie.
Anjo, der das Prestige des Shōgunats zu fördern trachtete und daher unter Druck stand, sprach abermals den Fürstlichen Berater an, der nur wiederholte, was er bereits gesagt hatte. Anjo wiederholte, was Ii bereits gesagt hatte, setzte zum Erstaunen seines Gegners jedoch hinzu: »Vielen Dank für Ihre Meinungsäußerung, aber leider ist der Kaiserliche Großkanzler Wakura nicht damit einverstanden.«
Wakura war ein Mann von hohem höfischem Rang, wenn auch nicht von Adel, der von Anfang an die Führung der fremdenfeindlichen Bewegung innerhalb des gegen die Verträge opponierenden mittleren Adels übernommen hatte. Als Großkanzler war er einer der wenigen, die Zutritt zum Kaiser hatten.
Innerhalb weniger Tage bat Wakura um ein Gespräch mit der Prinzessin. »Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß der Sohn des Himmels Sie ersucht, Ihre Verlobung mit Prinz Sugawara zu lösen und statt dessen Shōgun Nobusada zu heiraten.«
Prinzessin Yazu wäre fast ohnmächtig geworden. Ein kaiserlicher Wunsch war am Hof Befehl. »Das muß ein Irrtum sein! Vor zwei Jahren noch war der Sohn des Himmels aus offensichtlichen Gründen gegen diesen arroganten Vorschlag. Sie sind dagegen, jeder ist dagegen – ich kann nicht glauben, daß Seine Göttlichkeit etwas so Abscheuliches von mir verlangt.«
»Es tut mir leid, aber es ist nicht abscheulich, und es wird verlangt.«
»Aber ich weigere mich trotzdem – ich weigere mich!«
»Das können Sie nicht, tut mir leid. Darf ich Ihnen vielleicht erklären, daß…«
»Nein, dürfen Sie nicht! Ich weigere mich, weigere mich, weigere mich!«
Am Tag darauf wurde noch einmal ein Gespräch erbeten und verweigert, anschließend noch einmal und noch einmal. Die Prinzessin war nicht weniger unnachgiebig als Wakura. »Nein.«
»Es tut mir leid, Hoheit«, sagte ihre Oberhofdame nervös, »aber der Kaiserliche Großkanzler erbittet einen Moment, um Ihnen die Gründe dafür darzulegen, daß man dies von Ihnen verlangt.«
»Ich will ihn nicht sehen. Sagen Sie ihm, ich will meinen Bruder sehen!«
»Hoheit«, entgegnete die Oberhofdame entsetzt, »bitte, entschuldigen Sie, aber es ist meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, daß der Sohn des Himmels weder Freunde noch Verwandte hat.«
»Ich… Selbstverständlich, bitte entschuldigen Sie, das weiß ich. Ich bin… Ich bin sehr nervös, bitte, entschuldigen Sie mich.« Sogar am Hof durften nur die Ehefrau des Kaisers, seine Konsortin, seine Mutter, seine Kinder, seine Geschwister und zwei bis drei Berater ohne Erlaubnis sein Gesicht sehen. Außer diesen wenigen Vertrauten war es allen anderen verboten. ER war göttlich.
Wie alle Kaiser vor ihm war Komei von dem Moment an, da er die Rituale vollzogen hatte, die seinen Geist mystisch mit dem des jüngst verstorbenen Kaisers, seines Vaters, vereinigten, nicht mehr sterblich, sondern eine Gottheit, Hüter der Heiligen Symbole – der Scheibe, des Schwertes und des Spiegels.
»Bitte, entschuldigen Sie«, sagte Yazu demütig, entsetzt über ihr Sakrileg. »Es tut mir leid, daß ich… Bitte, ersuchen Sie den Großkanzler, den Sohn des Himmels zu bitten, er möge mir einen Augenblick seiner Zeit schenken.«
Jetzt erinnerte sich Yazu tränenüberströmt daran, daß sie viele Tage später vor dem Kaiser und der allgegenwärtigen Vielzahl seiner Höflinge mit tief gesenktem Kopf auf den Knien gelegen und ihn kaum erkannt hatte – es war das erstemal seit Monaten, daß sie ihn sah. Weinend hatte sie gebeten und gebettelt, immer in der erforderlichen Hofsprache, die von Außenseitern kaum verstanden wurde, bis sie erschöpft war: »Aber, Kaiserliche Hoheit, ich möchte nicht fort von Zuhause, ich möchte nicht in diese abstoßende Stadt Edo am anderen Ende der Welt, ich bitte Sie um Erlaubnis, daraufhinweisen zu dürfen, daß wir vom selben Blut sind, wir sind keine Emporkömmlinge und Kriegsherren wie die in Edo…« Am liebsten hätte sie geschrien: Wir stammen nicht von Bauern ab, die nicht korrekt reden, sich nicht korrekt kleiden, nicht korrekt essen, sich nicht korrekt verhalten, die nicht korrekt lesen oder schreiben können und nach daikung stinken – aber sie wagte es nicht. Statt dessen flehte sie: »Ich bitte Sie, lassen Sie mich in Ruhe.«
»Erstens: Bitte geh und hör dir aufmerksam und ruhig, wie es einer Kaiserlichen Prinzessin geziemt, alles an, was der Großkanzler Wakura zu sagen hat.«
»Ich gehorche. Kaiserliche Hoheit.«
»Zweitens: Ich werde nicht dulden, daß dies gegen deinen Willen geschieht. Drittens: Komm am zehnten Tag wieder, dann werden wir uns noch einmal unterhalten. Und nun geh, Yazu-chan.« Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß ihr Bruder ihr gegenüber diesen Diminutiv benutzte.
Also hatte sie Wakura angehört.
»Die Gründe sind kompliziert, Prinzessin.«
»Ich bin an Komplikationen gewöhnt, Kanzler.«
»Nun gut. Im Gegenzug zu der kaiserlichen Verlobung haben die Bakufu ihre Zustimmung zur endgültigen Vertreibung der Gai-Jin und zur Annullierung der Verträge gegeben.«
»Aber Nori Anjo sagte, daß das unmöglich ist.«
»Stimmt. Derzeit noch. Aber er hat sofort zugestimmt, mit der Modernisierung der Armee zu beginnen und eine starke Flotte zu bauen. In sieben, acht, vielleicht zehn Jahren werden wir, das hat er versprochen, stark genug sein, um unseren Willen durchzusetzen.«
»Oder in zwanzig, fünfzig oder hundert Jahren! Die Toranaga-Shōgune sind historische Lügner, man kann ihnen nicht trauen. Seit Jahrhunderten halten sie den Kaiser gefangen und haben sein Erbe usurpiert. Man kann ihnen nicht trauen.«
»Es tut mir leid, jetzt ist der Kaiser überzeugt, daß er ihnen trauen kann. Die Wahrheit ist, Prinzessin, daß wir keine weltliche Macht über sie haben.«
»Dann wäre ich töricht, mich ihnen als Geisel anzubieten.«
»Es tut mir leid, aber ich wollte hinzusetzen, daß Ihre Vermählung zu einer Versöhnung zwischen Kaiser und Shōgunat führen würde, die für die Ruhe im Staat wesentlich ist. Das Shōgunat würde dann auf den kaiserlichen Rat hören und die kaiserlichen Wünsche befolgen.«
»Aber wie könnte meine Vermählung das herbeiführen?«
»Würde der Hof durch Sie nicht in der Lage sein, einzugreifen, ja, sogar die Kontrolle über diesen jugendlichen Shōgun und seine Regierung zu übernehmen?«
Ihr Interesse war geweckt. »Kontrolle? Zugunsten des Kaisers?«
»Selbstverständlich. Wie könnte dieser Knabe – verglichen mit Ihnen, Hoheit, ist er ein Kind –, wie könnte dieser Knabe Geheimnisse vor Ihnen haben? Natürlich nicht. Mit Sicherheit erhofft sich der Erhabene, daß Sie, seine Schwester, als seine Vermittlerin fungieren. Als Gemahlin des Shōgun würden Sie von allem erfahren, und eine so bemerkenswerte Frau wie Sie könnte durch diesen Shōgun schon bald alle Fäden der Bakufu-Macht in den Händen halten. Seit dem dritten Toranaga-Shōgun hat es keinen starken Mann mehr gegeben. Wären Sie nicht am perfekten Platz, um die wirkliche Macht auszuüben?«
Darüber hatte sie lange nachgedacht. »Anjo und das Shōgunat sind keine Toren. Sie werden auch diesen Schluß gezogen haben.«
»Die kennen Sie nicht, Hoheit. Die glauben, Sie sind nichts als ein Schilfgras, das sie genauso nach Lust und Laune biegen, formen und benutzen können wie den Knaben Nobusada. Warum hätten sie ihn sonst gewählt? Sie wollen diese Vermählung, ja, um ihr Prestige zu steigern und um den Hof und das Shōgunat einander anzunähern. Und Sie, ein junges Mädchen, wären natürlich eine willfährige Marionette, um den kaiserlichen Willen zu unterlaufen.«
»Es tut mir leid, Sie verlangen zuviel von einer Frau. Ich möchte weder mein Heim verlassen noch meinen Prinzen aufgeben.«
»Der Kaiser bittet Sie darum.«
»Weil ihn das Shōgunat wieder einmal zwingt zu feilschen, obwohl sie ihm einfach gehorchen sollten«, entgegnete sie bitter.
»Der Kaiser bittet Sie, ihm zu helfen, sie zum Gehorsam zu zwingen.«
»Bitte, verzeihen Sie mir, aber ich kann nicht.«
»Vor zwei Jahren, in dem schlimmen Jahr«, fuhr Wakura ebenso gemessenen Tones fort, »im Jahr der Hungersnot, dem Jahr, in dem Ii die Verträge unterzeichnete, forschten bestimmte Bakufu-Gelehrte in der Geschichte nach Fällen der Absetzung eines Kaisers.«
Yazu hielt den Atem an. »Das würden sie niemals wagen – das nicht!«
»Das Shōgunat ist das Shōgunat und im Augenblick allmächtig. Warum sollten sie nicht erwägen, ein Hindernis zu beseitigen? Hat er, nachdem sein wa zerstört war, nicht schon erwogen, zugunsten seines Sohnes Prinz Sachi abzudanken?«
»Gerüchte!« fuhr sie auf. »Das kann nicht wahr sein!«
»Ich glaube doch, Kaiserliche Prinzessin«, entgegnete er tiefernst. »Und nun, ganz ehrlich, läßt er Ihnen sagen: Würdest du mir bitte helfen?«
Völlig außer sich, wußte sie dennoch: Was immer sie sagte, es würde stets auf dieses ›bitte‹ zurückgeführt werden. Nirgends ein Ausweg. Letzten Endes würde sie sich fügen oder Nonne werden müssen. Sie öffnete den Mund, um endgültig abzulehnen, tat es aber nicht. Irgend etwas schien in ihrem Kopf vorzugehen, und zum erstenmal begann sie völlig anders zu denken, nicht länger wie ein Kind, sondern wie eine Erwachsene, und diese Tatsache legte ihr die Antwort in den Mund. »Nun gut«, sagte sie, ihre Meinung für sich behaltend, »ich werde zustimmen – vorausgesetzt, daß ich in Edo so weiterleben kann wie im kaiserlichen Palast…«
Dieses Gespräch hatte zum Schweigen dieser Nacht geführt, durchbrochen nur von ihrem Schluchzen.
Yazu richtete sich im Bett auf und trocknete ihre Tränen. Lügner, dachte sie erbittert, alles haben sie mir versprochen, aber selbst damit haben sie mich betrogen. Ein leichtes Geräusch kam von Nobusada; er drehte sich im Schlaf um. Im Lampenschein, ohne den er nicht schlafen konnte, wirkte er noch knabenhafter als sonst, eher wie ein jüngerer Bruder denn wie ein Gemahl – so jung, so furchtbar jung. Freundlich und rücksichtsvoll hörte er stets auf sie, akzeptierte ihren Rat, hatte keine Geheimnisse vor ihr – alles genau, wie Wakura es ihr vorausgesagt hatte. Aber nicht zufriedenstellend.
Mein geliebter Sugawara, nunmehr unmöglich – in diesem Leben.
Ein Schauer überlief sie. Das Fenster stand offen. Gegen den Fenstersturz gelehnt, nahm sie kaum wahr, daß das Herrenhaus unten niedergebrannt und eine rauchende Ruine war, daß überall in der Stadt andere Feuer brannten und das Mondlicht auf dem Meer dahinter glänzte – daß der Wind Rauchgeruch herbeitrug und die Morgendämmerung den östlichen Himmel rötete.
An ihrem heimlichen Entschluß hatte sich seit jenem Tag mit Wakura nichts geändert, und er galt noch immer: daß sie ihr Leben damit verbringen würde, das Shōgunat zu vernichten, das ihr Leben vernichtet hatte, und daß sie vor keinem Mittel zurückschrecken würde, um diesen Männern die Macht zu entreißen und sie dem Göttlichen zurückzugeben.
Ich werde vernichten, was mich vernichtet hat, dachte sie, zu klug geworden, um es auch nur vor sich hinzuflüstern. Ich habe gefleht, nicht herkommen zu müssen, gefleht, diesen Knaben nicht heiraten zu müssen, und obwohl ich ihn mag, verabscheue ich diesen verhaßten Ort, verabscheue ich diese verhaßten Menschen.
Ich will nach Hause! Ich werde nach Hause gehen. Das wird mir helfen, dieses Leben zu ertragen. Ganz gleich, was Yoshi tut oder sagt, was jeder andere tut oder sagt – wir werden diesen Staatsbesuch machen. Wir werden nach Hause gehen – und dort bleiben!