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39

»Der Schutzzauber!«, rief Hirad, als es hinter ihnen Glas und Balken regnete.

Vor ihnen griffen die Dordovaner wieder an. Im Obstgarten war helles Licht zu sehen, und man hörte Schreie.

»Ilkar!«, rief der Unbekannte, »nimm den Schild weg und sieh dich hinten um.«

»Nein und ja«, sagte Ilkar.

Hirad wich einem schwachen Angriff aus und trieb dem Gegner sein Schwert in die Brust. Hinter ihm explodierten weitere Sprüche.

»Unbekannter!«, rief er, während er einen Schlag abwehrte. »Zweite Rückzugsposition.«

»Noch nicht. Mach weiter. Wir können sie hier noch aufhalten.«

Und tatsächlich, es gelang ihnen. Die Protektoren verbreiteten Angst und Schrecken in den Reihen der angreifenden Dordovaner, ihre Magier konnten keine Sprüche abfeuern, weil sie im Gedränge sonst ihre eigenen Männer getroffen hätten, und nachdem die Toten und Verletzten fortgeschleppt worden waren, war der Boden glitschig von ihrem Blut.

»Bericht, Ilkar«, sagte der Unbekannte, während er mit dem Dolch zustieß. Aeb hackte einem Dordovaner den Schwertarm ab, zog sich dabei aber einen Schnitt am rechten Arm zu.

»Die Gildeelfen sind geschlagen, Magier besetzen den Garten. Ich halte die Tür.«

»Der Rabe, eng zusammenbleiben«, rief der Unbekannte. »Und noch einmal, los!«

Hirad brüllte, schlug zu und achtete nicht auf seine protestierenden Muskeln.

 

Lyanna war sehr unglücklich. Sie hatte versucht, am Tisch sitzen zu bleiben, Figuren zu malen und mit ihrer Puppe zu spielen, aber der Krach ringsum war schrecklich. Sie hatte zugesehen, wie die alten Frauen in den Betten Geräusche machten, als wären sie verletzt worden, während es knallte, dass die Tassen auf dem Tisch klirrten und der Boden unter ihrem Stuhl wackelte.

Sie wusste, dass dies alles mit Magie zu tun hatte. Sie konnte es spüren, verstand aber nicht, wie es gemacht wurde, und wenn sie versuchte, in die Köpfe der alten Frauen zu kommen, stieß der Wind sie weg, und sie bekam Kopfschmerzen. Sie weinte leise und hoffte, einer der komischen Männer würde kommen und nach ihr sehen, aber sie standen nur da und beobachteten die Fenster und die offenen Türen zum Ballsaal und zum Esszimmer.

Der magische Lärm hatte jetzt aufgehört, aber die alten Frauen waren ganz still geworden. Sie atmeten noch, aber ihre Gesichter sahen nicht richtig aus. Sie waren feucht und ganz weiß. Lyanna stand auf und ging zu ihnen.

»Ephy?«, sagte sie. Sie kniete sich vor die gebrechliche Elfenfrau. »Geht es dir nicht gut, Ephy?«

Ephemeres Augen öffneten sich flatternd, und sie versuchte zu lächeln. Sie hob die Hand, und Lyanna konnte sehen, dass die Hand zitterte, als sie ihre Wange streichelte.

»Wir sind so müde, Lyanna«, sagte Ephemere. »Ist es in Ordnung, wenn wir eine Weile schlafen?«

»Aber Mami hat gesagt, ich könnte zu euch kommen, wenn ich Angst habe«, sagte Lyanna.

»Bald«, versprach Ephy, und ihre Hand sank kraftlos herunter. »Sehr bald schon«, sagte sie mit brüchiger Stimme.

Lyanna stampfte mit dem Fuß auf. Das war gemein. Es war niemand da, der ihr half, und sie brauchte jetzt jemanden. Sie brauchte Mami. Sie wusste, was man ihr gesagt hatte, aber das war egal. Sie ging zur Tür, die zum Esszimmer führte. Einer der maskierten Männer stand davor. Sie wollte sich an seinen Beinen vorbeischieben, aber er legte ihr eine Hand auf die Schulter und sah sie an.

»Du sollst hier bleiben«, sagte er. »Es ist gefährlich da draußen.«

»Nein«, sagte Lyanna. Sie wurde wütend. »Ich will sofort zu meiner Mami. Ich habe Angst.«

»Hier in der Küche ist es sicherer«, widersprach der Mann. »Ich darf dich nicht hinauslassen.«

Lyanna wich zurück, und der Mann ließ ihre Schulter los. Sie wollte an ihm vorbeilaufen, doch er hielt sie mühelos auf und stieß sie energisch zurück.

»Nein!«, rief sie. »Lass mich gehen!«

Der Mann hockte sich hin und sah sie an, und sie konnte ihm in die Augen sehen. Sie waren schrecklich, als sei ein Teil von ihm nicht mehr da.

»Deine Mutter wird sehr böse sein, wenn du hier weggehst. Du musst hier bleiben.«

»Du darfst mich gar nicht aufhalten«, sagte Lyanna. Sie verstand nicht genau, was sie sagte, sie wusste nur, dass es richtig war. »In deiner Nähe sind Dinge, die dir wehtun können.«

Der Mann zuckte zusammen. »Bleibe bitte hier.«

»Ich will aber nicht.«

Der Mann schwieg eine Weile. Hinter ihr kamen all die anderen Männer auf sie zu. Lyanna bekam noch mehr Angst. Sie sah sie an, die riesigen, fremden Männer. Sie wollten sie aufhalten. Vielleicht wollten sie ihr sogar wehtun. Das war nicht nett.

»Ich habe es dir gesagt, aber du wolltest ja nicht hören«, sagte Lyanna. Auf einmal fühlte sie sich losgelöst von ihrem Bewusstsein und ihrem Körper. »Und ich bleibe nicht hier, ich bleibe nicht hier.«

Der Wind in ihrem Kopf wurde lauter, und sie hörte ein Plappern. Da waren die Dinge, und es gab einen Weg, sie freizulassen, es war ganz einfach.

Der Mann vor ihr presste die Hände an die Schläfen und kreischte. Er kippte um und wand sich auf dem Boden, seine Beine zuckten wild, er zitterte und wälzte sich hin und her. Lyanna wich zurück und sah die anderen Männer an, die reglos in der Küche standen und die Hände zu Fäusten ballten und wieder öffneten. Ihr Kinn bebte, und sie begann zu weinen, als sie die Laute hörte, die der Mann machte. Er hörte nicht zu kreischen auf.

»Es tut mir Leid«, sagte sie. Dann rannte sie ins Esszimmer. »Es tut mir Leid, Mami!« Ihre Schreie hallten durch das umkämpfte Haus.

Aeb zögerte neben dem Unbekannten und konnte einen Hieb erst im letzten Augenblick abwehren. Die Schwertspitze traf seine Hüfte, und er grunzte vor Schmerzen.

»Aeb, Aeb«, sagte der Unbekannte. Er schlug heftig um sich, um die Dordovaner auf Abstand zu halten. Sie drangen auf ihn ein, und er und Hirad wurden müde. Hinter ihnen hielt Ilkar den Schild gegen die Magier im Obstgarten. Er verließ sich auf die unerschütterliche Kraft der Protektoren, doch sie waren deutlich langsamer geworden, griffen nicht mehr mit der gewohnten Kraft an. »Aeb, sprich.«

Der Protektor schüttelte den Kopf und trieb eine Axt in die Schulter des Gegners vor ihm.

»Lyanna hat sich aus der Küche befreit«, sagte er. »Sie hat die Strafe der Dämonenkette verhängt.«

»Was?« Der Unbekannte stach zu, doch sein Angriff wurde abgewehrt. Er konnte nicht glauben, was er hörte.

»Unser Bruder leidet. Wir spüren seinen Schmerz. Es ist … es lenkt uns ab.«

Die Protektoren waren einen halben Schritt zurückgewichen und zwangen den Unbekannten und Hirad, ihrem Beispiel zu folgen. Sie liefen Gefahr, ihre Position sehr schnell zu verlieren. Immer mehr Dordovaner drängten nach, und ihr Selbstvertrauen stieg. Hirad verrenkte sich das Handgelenk, als sein Schwert gegen die Waffe eines Gegners prallte. Er hatte einen frischen Schnitt auf der vernarbten Wange.

»Erienne!«, rief der Unbekannte. »Beende deinen Spruch und gehe in den Ballsaal. Ilkar, begleite sie. Lyanna ist draußen.«

Erienne stand auf, schleuderte Feuerkugeln über die Köpfe des Raben hinweg und hielt nicht einmal inne, um zu sehen, wo sie landeten, sondern drehte sich sofort um und rannte den Flur hinunter.

»Ich kann die Tür nicht aufgeben«, sagte Ilkar.

»Geh!«, rief der Unbekannte. »Sichere den zweiten Rückzugspunkt. Sage Darrick, dass wir kommen.«

Eriennes Feuerkugeln schlugen ein und deckten die dritte Reihe der Dordovaner mit Flammen ein. Neue Brände entstanden im ohnehin schon verkohlten Fachwerk des Hauses. Die Panik trieb die Dordovaner vor die Waffen des Raben. Der Unbekannte stieß dem Mann vor ihm die Klinge in die Seite und zog ihm den Dolch quer über den Hals. Neben ihm duckte sich Hirad und schlug nach den Beinen des Gegners. Die Protektoren erwachten wieder zum Leben und griffen mit erneuerter Kraft an.

»Auf mein Kommando aus dem Kampf lösen«, sagte der Unbekannte. Er hörte, wie Denser hinter ihm aufstand. »Jetzt!«

Ein Schritt zurück, dann drehten sie sich um und rannten. Der Unbekannte war zwar langsam, doch zwei Protektoren nahmen ihn in die Mitte und trugen ihn.

»Magier im Ballsaal. Magier folgen uns durch den Obstgarten«, sagte Aeb. Seine Stimme war trotz des Durcheinanders ruhig.

»Bei den Göttern«, murmelte der Unbekannte. »Denser, halte den Schild oben.« Er starrte nach vorn, als sie um die Ecke bogen und den Flur zum Obstgarten überblicken konnten.

»Darrick!«, brüllte der Unbekannte. »Zweite Rückzugsposition. Ärger im Ballsaal. Wir haben den Obstgarten verloren.«

Darrick war vor ihnen, sein Schwert bewegte sich eifrig, während er einen Angriff aus dem ersten Flügel abwehrte. Der Gang brannte, das Feuer breitete sich an der Wand zum Obstgarten in Richtung Ballsaal aus, die Hitze war kaum zu ertragen. An den Eingängen zu den beiden anderen Flügeln waren die Protektoren in heftige Kämpfe verwickelt.

Der Unbekannte sah Ilkar und Erienne am dritten Gebäudeflügel vorbeilaufen. Einige Augenblicke später ertönte eine Detonation, und eine Feuerwalze schlug ein. Die vier Protektoren, die dort standen, hatten keine Chance. Sie wurden gegen die Wand geschleudert, ihre Körper verbrannten, und sie waren tot, bevor sie zu Boden sanken. Flammen loderten unter der Decke, und das Nachbeben der Explosion löste den Putz von den Wänden, dessen Staub sich mit dem erstickenden Rauch mischte. Die Dordovaner drängten von beiden Seiten in die Lücke.

Noch bevor er etwas sagen konnte, ließen die Protektoren den Unbekannten los und rannten mit Hirad weiter. Die Rückendeckung blieb dem Unbekannten, Aeb, Darrick und Denser überlassen. Er betete, dass Hirad vor ihnen nicht zu schnell durchbrach, denn sonst saßen sie in der Falle.

 

Lyanna blieb mitten im dunklen Ballsaal stehen. Hier waren noch mehr maskierte Männer, die sich genau wie die in der Küche nicht bewegten. Sie wusste nicht genau, was sie gerade eben getan hatte, aber sie wusste, dass es falsch war, und sie hatte keine Ahnung, wie sie es wieder gut machen konnte.

»Mami, wo bist du?«, heulte sie. Sie hielt sich an der Puppe fest.

Auf der anderen Seite des Ballsaales hörte sie Leute rufen; dort wurde gekämpft, und die Flammen zuckten und loderten hoch. Dort mussten Mami und Papi sein, die dabei halfen, dass ihr nichts passierte. Unschlüssig nagte sie an der Unterlippe. Sie sollte eigentlich zu den alten Frauen in die Küche zurückkehren und sehen, ob es dem komischen Mann wieder besser ging. Aber sie wollte auch bei Mami sein. Wahrscheinlich wurde ihre Mami gar nicht so wütend, aber Lyanna wollte nicht noch mehr Schelte bekommen.

Jetzt passierte etwas. Sie blickte zur Decke des Ballsaales hoch, in der ein großes Loch klaffte. Der Himmel war stark bewölkt, und es würde bald wieder stark regnen, aber das war es nicht, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Männer mit Flügeln kamen durch das Loch herunter. Einer von ihnen trug sogar einen anderen Mann in den Armen.

Es waren sechs, und Lyanna beobachtete sie und wünschte, sie könnte fliegen wie sie. Links und rechts von ihr setzten sich zwei Männer mit Masken in Bewegung. Sie kamen zu ihr. Sie kreischte und rannte weg, und die Männer verfolgten sie. Einer hob sie auf, während der andere zu den fliegenden Männern ging. Sie landeten, die Flügel verschwanden, und der Mann, der getragen worden war, zog ein langes Schwert. Sie wollte sich befreien, aber der Mann mit der Maske hielt sie fest.

»Mami, hilf mir!«, rief sie. »Hilfe!«

Es wurde kalt im Raum, und der erste Mann stürzte. Derjenige, der sie trug, rannte zur Tür des Ballsaales. Wenn sie laut genug schrie, würde ihre Mami sie hören.

 

Ilkar rannte hinter Erienne und schaffte es nicht, zu ihr aufzuschließen.

»Erienne, langsam! Die Protektoren erledigen das!«, rief er, doch sie wollte nicht hören.

Als sie noch zwanzig Schritt von der Tür des Ballsaales entfernt war, tauchte ein Protektor auf. Er hatte die kreischende Lyanna in den Armen. Er rannte, aber mitten in der Bewegung zuckte er heftig und stürzte nach vorn. Ilkar spürte den kalten Hauch, der einem Eiswind folgte. Der Protektor hatte Lyanna mit seinem Körper geschützt. Er brach zusammen, das Mädchen war unter ihm begraben. Die Kleine schrie und wand sich, doch er war zu schwer, und ihre Beine steckten fest.

»Lyanna!«, rief Erienne und wurde noch schneller.

Ilkar lief ihnen hinterher und betete, dass Hirad ihnen folgte. Die Götter mochten wissen, wie viele Feinde inzwischen im Ballsaal waren. Er rannte jetzt mit voller Geschwindigkeit, doch die Zeit schien zu kriechen. Ein dordovanischer Magier, der noch die Schattenschwingen auf dem Rücken hatte, kam durch die Tür heraus, sah sich um und blieb stehen, um den Körper des Protektors beiseite zu ziehen. Erienne stürmte weiter und rief immer wieder Lyannas Namen. Die Kleine streckte ihrer Mutter die Arme entgegen und flehte um Hilfe, doch Erienne würde sie nicht rechtzeitig erreichen.

Hinter Ilkar ertönte eine Explosion. Auf einmal wurden seine Gedanken schrecklich klar. Vor ihm beugte sich ein dordovanischer Magier hinunter, um das Kind der Nacht zu schnappen und nach Dordover zu bringen, wo die Bedrohung durch den Einen Weg ein für alle Mal beseitigt werden sollte. Es wäre leicht, den Magier das Kind nehmen zu lassen und ihn nicht aufzuhalten. Er musste nur den Versuch eines Eingreifens demonstrieren, damit niemand ihm einen Vorwurf machen konnte, wenn Lyanna verloren wurde. Das konnte die Kollegien retten. Es konnte das gerade wieder entstehende Julatsa retten.

Für einen julatsanischen Magier war es die einzige Entscheidung, die er überhaupt treffen konnte. Was hatte der Unbekannte über ihn gesagt? Er würde sich nicht in den Weg stellen, wenn jemand anders das Kind zu töten versuchte. Was bedeutete, dass ihm die Rettung seines Kollegs wichtiger war das Leben des Mädchens.

Zum Teufel damit.

Ilkar wusste nicht einmal, was in ihn fuhr. Es war etwas, das zu versuchen er sich nicht einmal in seinen Träumen vorgestellt hätte, doch sein Unterbewusstsein gab dem Körper Anweisungen, ohne den rationalen Teil seines Bewusstseins zu fragen. Er zog das Schwert, seine einzige Waffe, und schleuderte es durch den Flur. Die Zeit schien still zu stehen.

Das Schwert drehte sich um sich selbst. Es war kein großartiger Wurf, aber er erfüllte seinen Zweck. Es prallte von der Wand zum Obstgarten ab und traf den Magier mit der flachen Seite. Der Dordovaner taumelte zurück, seine Konzentration und die Schattenschwingen waren dahin. In diesem Moment erreichte Erienne Lyanna und zog sie unter dem toten Protektor hervor. Der dordovanische Magier rappelte sich wieder auf, doch inzwischen hatte Ilkar ihn erreicht, packte ihn und taumelte mit ihm zusammen zurück in den Ballsaal.

 

Hirad hackte dem nächstbesten Dordovaner das Schwert in den Hals und durchtrennte Schlagader und Luftröhre. Der Mann brach im Flur zusammen, aus dem er gekommen war. Neben ihm holte ein Protektor zu einem Überkopfschlag aus und spaltete dem nächsten den Helm und den Kopf darunter. Er ließ die Waffe stecken, riss das Schwert aus der Scheide und trieb es hüfthoch in den Leib eines dritten.

Der Barbar brüllte, das Blut rauschte in seinen Adern, er war voller Energie und sehr, sehr wütend. Er wehrte einen Schwerthieb gegen seine Hüften ab und verpasste dem Mann einen Faustschlag auf die Nase. Von seinem eigenen Schwung weitergetragen, drehte er sich um, traf mit dem linken Ellenbogen und dann mit dem rechten noch zweimal das Gesicht des Gegners und brachte ihn durch einen Rückhandschlag mit der rechten Faust endgültig zur Strecke. Der Dordovaner ging mit blutigem, zerschmettertem Gesicht zu Boden, und dann war Hirad mitten zwischen den Feinden, ehe sie wussten, wie ihnen geschah.

»Kommt schon, ihr Hunde.«

Er wandte sich dem nächsten Gegner zu, zog das Schwert herunter und traf die Stirn des Mannes. Der Knochen platzte auf, und die Gehirnmasse quoll aus dem zerschmetterten Schädel. Er trat in Hüfthöhe zu, um den Toten wegzudrücken und freie Bahn zu haben.

»Ilkar, ich komme!«

Vor ihm waren noch mehr Dordovaner. Zwei Protektoren rannten an ihm vorbei und nahmen sich die Gegner vor, die Erienne und Ilkar verfolgen wollten. Hirad schloss zu ihnen auf; er sah nur noch rot, und suchte sich den nächsten Gegner aus.

 

»Los doch, bewegt euch!«, rief Denser, der mühsam den harten Schild hielt, von dem ständig Pfeile und Armbrustbolzen abprallten. »Bleibt hinter mir und greift nur an, wenn sie nicht mehr als ein paar Schritte entfernt sind.«

Der Unbekannte humpelte den Gang hinunter, Aeb schützte seine linke und Darrick seine rechte Seite. Hirad war vor ihnen und stiftete Verwirrung unter den Dordovanern, die aus den Seitengängen kamen. Sie wussten nicht, wen sie angreifen sollten. Aeb erleichterte ihnen die Entscheidung, indem er sich einschaltete und einen Dordovaner mit einem sauberen Axthieb enthauptete.

Der Unbekannte ignorierte seine Verletzungen und rannte ihnen hinterher. Bei jedem Schritt wurde ihm fast schwindlig vor Schmerzen.

»In die Küche. Dritte Rückzugsposition. Dritte Rückzugsposition!«

Aeb blockte mit dem Schwert ab, schlug tief mit der Axt zu und durchtrennte das Bein eines dordovanischen Magiers, der zu Boden sank und den blutigen Stummel umklammerte. Der Protektor hackte ihnen den Weg frei, doch sie waren in der Unterzahl. Der Unbekannte drängte sie weiter.

»Denser, bleib bei mir«, quetschte er hervor. Jeder Schritt ließ einen stechenden Schmerz durch sein verletztes Bein bis in den Rücken schießen.

»Ich bin hinter dir, Unbekannter. Ich sage dir, wann du rennen musst.«

Der Unbekannte erreichte die Kampfzone und lenkte die Aufmerksamkeit von zwei Soldaten auf sich. Mit erhobenem Schwert ging der Erste auf ihn los. Der große Mann war langsam, aber ein Krüppel war er nicht. Er holte rechts aus, zog das Schwert nach links und schlitzte dem Mann den Bauch auf, als dieser gerade den tödlichen Schlag loslassen wollte. Der zweite Gegner war vorsichtiger, doch er wurde von Aeb abgelenkt, dessen Axt knapp an seiner Nase vorbei in die Schulter eines dritten Dordovaners fuhr. Der Unbekannte ergriff seine Chance und warf den Dolch, den der Soldat im letzten Moment abwehren konnte, doch dadurch war seine Deckung völlig offen. Der Rabenkrieger stieß ihm das Schwert in den Bauch. Inzwischen war dem Unbekannten übel vor Schmerzen. Die Stiche liefen in Wellen seinen Rücken hinauf bis in den Kopf, und er war der Ohnmacht nahe.

»Lauft!«, rief Denser.

Der Unbekannte sah sich um und schluckte schwer. Die Dordovaner griffen jetzt in großer Zahl an, sie verzichteten auf die Fernwaffen und wollten die Gegner durch ihre schiere Überzahl überrennen. Darrick rannte an ihm vorbei und rief etwas, das er nicht verstand.

»Aeb, wir müssen laufen«, sagte der Unbekannte.

»Ja.« Aeb knallte einem Soldaten den Schwertgriff ins Gesicht und schob ihn gegen die Meute, die ihm folgte.

Dann drehte er sich um, fasste den Arm des Unbekannten und rannte mit ihm den Flur hinauf.

»Macht die Türen auf!«, rief der Unbekannte. Er musste gegen den Drang ankämpfen, sich vor Schmerzen zu übergeben. Er wusste nicht, wie lange er noch stehen konnte, vom Rennen ganz zu schweigen.

Hinter ihnen holten die Dordovaner rasch auf. Es wurde sehr knapp.

 

Ilkar rollte sich ab und landete auf dem Dordovaner. Er knallte dem Magier beide Fäuste ins Gesicht und hörte, wie sein Hinterkopf auf die Bodenplatten schlug und sein Körper erschlaffte. Hinter ihm stolperte Erienne aus dem Ballsaal. Er sah sich um. Überall Dordovaner.

»Bei den Göttern«, sagte er. Er stand auf, stürzte geduckt zum nächsten Magier und hoffte, er werde es schaffen, bevor der Gegner seinen Spruch vorbereitet hatte.

Lyanna klammerte sich an ihre Mutter, die mit ihr zusammen durch den Ballsaal in Richtung Küche lief. Auf einmal tauchte der Mann mit dem Schwert auf und schlug Erienne von der Seite ins Gesicht. Sie stürzte schwer, Lyanna flog kreischend aus den Armen ihrer Mutter und rutschte über den Boden des Ballsaales. Sie weinte nicht, sondern stand gleich wieder auf und wollte zu Erienne zurück, doch der Mann hielt sie auf und stieß sie weg.

»Du fährst nach Hause und wirst dort sterben, Kleine. Aber vorher sollst du noch sehen, wie ich dein Miststück von Mutter umbringe.«

Seine Stimme war nicht richtig, aber sie verstand ihn trotzdem.

»Du darfst meiner Mami nichts tun«, sagte sie. Dann noch einmal, viel lauter und kreischend: »Du darfst meiner Mami nichts tun!«

 

Ilkar taumelte unter dem enormen Druck des Mana, als er sich auf das Spektrum einstellen und im Laufen einen Spruch vorbereiten wollte. Vor ihm wiegten sich sechs Magier im Takt und hatten die Hände auf die Ohren gepresst. Was sie auch wirken wollten, es war vergessen. Ilkar hätte sie am liebsten auf der Stelle getötet, doch der Sturm, der im Mana tobte, zwang ihn auf die Knie. Er tastete umher und suchte Hilfe. Hirad stürzte durch die Tür, gefolgt von einigen Protektoren, und inmitten von allem war Lyanna, in die das Mana-Licht strömte.

 

Hirad sah Selik vor der am Boden liegenden Erienne stehen, als er in den Ballsaal stürmte. Lyanna stand allein in der Nähe und kreischte, doch um das Kind konnte er sich jetzt nicht kümmern.

»Selik!«, rief er, als er in den Raum eindrang. »Ich wusste doch, dass es noch eine weitere Gelegenheit geben würde.«

Der Anführer der Schwarzen Schwingen drehte sich, das Schwert in der Hand, zu ihm um. Sein verschmiertes Gesicht verzog sich zu einem garstigen Lächeln.

»Mir war klar, dass ich hier nicht lebend herauskomme, aber wenigstens habe ich dem Raben das Herz aus dem Leib gerissen. Erst dir und dann der Hexe.« Er trat zu und traf ihren Bauch. Erienne krümmte sich und stöhnte, Lyanna schrie noch lauter.

»Träum weiter, Schwarze Schwinge«, knurrte Hirad. Er rannte los.

Alle noch vorhandenen Glasscheiben im Haus zersprangen in tausend Stücke. Der Putz, der noch an den Wänden hing, bekam Risse und fiel herunter. Balken rissen, Dachschindeln regneten herunter, unter ihnen bebte der Boden.

Ein gewaltiger Wind heulte durchs Haus. Die Mauern des Obstgartens explodierten förmlich, der Gang neigte sich, das Dach wellte sich und stürzte ein. Hirad und Selik wurden von den Beinen geworfen. Der Barbar rollte sich ab, sah Lyanna stocksteif inmitten des Durcheinanders stehen, und dann bemerkte er Ilkar, der vor Schmerzen schrie. Das Blut lief ihm aus Nase und Ohren.

Der Wind riss ihm die Worte von den Lippen, doch Hirad konnte sehen, wie Ilkar litt.

»Ilkar!« Der Elf konnte ihn nicht hören. Hirad musste ihn in Sicherheit bringen.

Er kam mühsam auf die Beine und kämpfte gegen den schneidenden Wind an, um die paar Meter zu seinem Freund zu überwinden, der zusammengerollt und mit verzerrtem Gesicht am Boden lag. Er wollte noch einmal rufen, doch es war sinnlos. Er sah sich um. Den dordovanischen Magiern erging es nicht besser. Dann fiel sein Blick auf Lyanna. Wenn man sie nicht aufhielt, würden alle Magier im Haus sterben.

 

Denser stürzte, als der Boden sich hob und ein Riss entstand. Der Unbekannte drehte sich um und half ihm, während über ihnen das Dach abgerissen wurde und auf ganzer Länge zusammenbrach. Überall regneten Balken und Dachziegel herab. Der dordovanische Angriff war zum Erliegen gekommen, die Männer schützten ihre Köpfe mit erhobenen Händen und rannten nach rechts und weiter nach hinten, um den Zerstörungen zu entgehen.

Ein Stück Holz traf die Schulter des Unbekannten, als er sich vorbeugte, um den liegenden Magier aufzuheben. Vor Schmerzen drehte sich alles in seinem Kopf. Ein Wind, wie er ihn noch nie gehört oder gespürt hatte, drückte ihn auf den Boden, bis sein Gesicht dicht neben dem des Xeteskianers lag.

»Denser, was ist das?«, rief er.

»Lyanna«, knirschte der Magier durch zusammengebissene Zähne. Ein Blutfaden rann aus seiner Nase. »Erienne muss sie abschirmen. Sie zieht alles in sich hinein, aber sie wird … sie kann es nicht halten. Bring sie in die Küche zu den Al-Drechar.«

Der Unbekannte glaubte zu verstehen.

»Darrick, hilf mir!«

»Nein«, brüllte Darrick ihm ins Ohr. »Ich muss Ren finden. Ich kann sie nicht da draußen lassen.« Er rannte zum Obstgarten.

Der Unbekannte hob Denser auf und drehte sich um. Aeb kämpfte sich zur Tür des Ballsaales durch. Der große Mann torkelte ihm hinterher, drehte das Gesicht in den Sturm und hob einen Arm, um die Putzbrocken abzuwehren, die ihm entgegenflogen.

Drinnen war der Lärm sogar noch größer.

Aeb, wenn du mich hören kannst, bringe das Mädchen und Erienne her. Wir müssen sie zu den Al-Drechar schaffen.

Aeb blickte zum Unbekannten und nickte. Sofort drehten sich einige Protektoren um und krochen über den Boden herbei. Einer legte einen riesigen Arm um Lyanna, zwei andere hoben Erienne auf. Hinter dem Unbekannten rückten die Dordovaner wieder vor. Sie stemmten sich gegen den Wind und bahnten sich zwischen ihren gefallenen Kameraden einen Weg durch den Schutt. Lyanna hatte den Verteidigern etwas Zeit erkauft, doch nach ihrem schmerzvoll verzogenen Gesicht zu urteilen, zerstörte dies auch ihr Bewusstsein.