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Denser hatte keine Probleme, Zugang zur Bibliothek des Kollegs von Dordover zu bekommen, obwohl es schon dunkel war und genau genommen bis auf die Magier und Mitarbeiter des Kollegs niemand mehr das Gelände betreten durfte. Als der Rabe am Vortag in der Stadt angekommen war, hatte Vuldaroq sich sehr bemüht, ihnen bei ihren Nachforschungen zu helfen und alle Informationen zu beschaffen, die sie brauchten. Er stimmte sogar Densers und Ilkars Wunsch zu, die Tinjata-Prophezeiung zu lesen, hatte aber die offizielle Einladung nur an Denser gerichtet.
Natürlich war Denser ausgesprochen misstrauisch. Da jedoch der Unbekannte und Ilkar in den Straßen der Stadt nach Kontakten und nach allem suchten, was die Dordovaner möglicherweise übersehen hatten, konnte er nichts weiter tun als lesen und hoffen, dass früher oder später schon herauskäme, warum Vuldaroq sich so entgegenkommend zeigte.
Das Original der Tinjata-Prophezeiung wurde in einem luftdichten Glasbehälter in einem anderen Teil des Kollegs aufbewahrt. Denser bekam vom zuständigen Archivar ein großes, in hellbraunes Leder gebundenes Buch, dessen Einband mit goldenem Laub geschmückt war. Es enthielt mehr als sechzig dicke Pergamente. Links stand jeweils die Transkription der eigentlichen Überlieferung, rechts eine offenbar lückenhafte Übersetzung.
Denser hatte sich erkundigt, was es mit diesen willkürlich im Text verteilten leeren Stellen auf sich hatte, und erfahren, dass diese Teile der Überlieferung nur für die Augen der Hüter der Überlieferung zugänglich seien. Er hatte die Stirn gerunzelt, weil seine Neugierde geweckt war, und gelesen, was er lesen konnte.
Die ersten Seiten enthielten einen ausufernden Bericht über die Gefahren einer sexuellen Vereinigung von Angehörigen verschiedener Kollegien und über die Gefahren, falls Balaia zum Einen Weg der Magie zurückkehren sollte, außerdem die Aufforderung, solche Magier zu identifizieren und ihre weitere Entwicklung zu unterbinden, sobald man sie identifiziert hatte.
Denser zog die Augenbrauen hoch. Es kam ihm vor, als habe das dordovanische Denken in den letzten Jahrtausenden keine großen Fortschritte gemacht.
Er las weiter, übersprang einige leere und unvollständige Abschnitte der Übersetzung, und kam zu der Stelle, an der über die wahrscheinlichen Resultate gesprochen wurde, falls man diese Bedrohung ignorierte oder den sich entwickelnden Magier nicht kontrollieren konnte. An dieser Stelle begann Densers Herz schneller zu schlagen, und sein Mund wurde trocken. Balaia war bereits von Flutwellen, Wirbelstürmen und tagelangen, ununterbrochenen Gewittern heimgesucht worden, und hier war alles Wort für Wort beschrieben. Es war kaum zu glauben, dass es eine Prophezeiung und kein Tagebuch war, denn Tinjata hatte nicht nur die Wetterbedingungen vorhergesehen, sondern auch angegeben, wo welche Phänomene sichtbar werden sollten.
»Das Meer wird sich erheben und den Mund des Landes zerschmettern.« Man musste kein Genie sein, um zu folgern, dass Tinjata damit Sunatas Zähne meinte. »Die Sonne wird ihr Gesicht verbergen, und der Himmel wird überschäumen und Sintfluten auf die Erde schicken. Und wenn die Götter seufzen, dann werden die Großen gestutzt, wo sie sich am sichersten fühlten, die Stolzen werden niedergedrückt, und ihre steinernen Tempel sollen zu den Grabstätten ihrer Angehörigen werden.«
Schaudernd las Denser, was noch alles kommen sollte. »Die Bestien der Unterwelt werden sich erheben und sich gegenseitig verschlingen, die Berge werden zu Staub zerfallen, den niemand sehen kann, denn die Augen der Welt werden geblendet sein vom erneuerten Glanz des Einen. So wird das Licht der Hölle auf das Antlitz der Erde scheinen.«
»Bei allen Göttern.« Er schaute auf und bemerkte, dass der Archivar ihn beobachtete. »Die Prophezeiung erfüllt sich wirklich, nicht wahr?« Der Archivar nickte. »Gibt es noch mehr?«
»Es lohnt sich, den Text ganz zu lesen«, erklärte der Archivar. »Es hilft Euch vielleicht, unsere Ängste besser zu verstehen.«
Denser blies die Wangen auf. »Ich verstehe sie jetzt schon. Ich bin nur nicht mit Euren Methoden einverstanden. Wir reden hier immerhin über meine Tochter.«
»Was soll ich dazu sagen?«
»Ihr könntet sagen: ›Darf ich Euch einen Kaffee und ein Brot holen?‹«
»Ich bin gleich zurück, aber verlasst einstweilen nicht die Bibliothek. Es gibt immer noch einige Leute, die sehr verärgert darüber sind, was bei Eurem letzten Besuch in unserem Turm geschehen ist.«
Der Archivar verneigte sich leicht und entfernte sich. Denser hörte, wie er leise die Tür hinter sich schloss. Er nahm an, dass es nicht so sehr um ihm persönlich ging, sondern eher um die Tatsache, dass sein Hausgeist auf seinen Befehl hoch oben im Turm von Dordover einen dordovanischen Magier getötet hatte. Denser hatte kein großes Mitleid für den Mann empfunden, der so dumm gewesen war, den Dämon zu fangen, der mit Denser eine geistige Verbindung eingegangen war. Dennoch hatte er es bedauert, ihn töten zu müssen. Dawnthief und die Rettung Balaias hatten jedoch auf dem Spiel gestanden, und in diesem Moment war ein derartiges Opfer notwendig gewesen.
Denser richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Prophezeiung und blätterte die Seiten durch, die in der Bindung knarrten. Er runzelte die Stirn und betrachtete noch einmal eine der teilweise leeren Seiten. Mit dem Pergament stimmte etwas nicht. Er zog die Lampe näher heran, drückte das Blatt auf der gegenüberliegenden Seite glatt und sah noch einmal hin. Er entdeckte verschiedene Farben; die Übersetzung war mit hellerer Tinte geschrieben als die Transkription. Der letzte überzeugende Beweis waren der Buchrücken und die Bindung. Er überprüfte rasch die ganz oder teilweise leeren Seiten. Sechs Blätter waren verändert worden. Kein Zweifel, sie waren jüngeren Datums als die anderen.
Ihm blieb nichts anderes übrig. Mit pochendem Herzen und angestrengt lauschend, ob der Archivar zurückkehrte, zog Denser einen Dolch aus der Tasche und schnitt die nicht übersetzten Seiten aus dem Buch. Er faltete sie hastig zusammen und stopfte sie sich ins Hemd. Als er den Dolch eingesteckt hatte und eine unbeschädigte Seite aufschlug, wurde die Tür wieder geöffnet.
»Danke«, sagte er, als ein Tablett mit Kaffee und Brot auf den Schreibtisch gestellt wurden. Mit leicht zitternder Hand schenkte er sich einen Becher ein. Es war knapp gewesen.
»Braucht Ihr noch meine Hilfe?«, fragte der Archivar.
»Nein«, sagte Denser lächelnd. »Ich bin so gut wie fertig. Nur noch ein paar Abschnitte.«
Der Dordovaner entfernte sich. Denser lehnte sich zurück und sah ihm nach, blies auf seinen Kaffee und trank einen Schluck. Er war nicht zu heiß, und er trank die halbe Tasse aus. Dann biss er in das Brot mit kaltem Fleisch. Der Archivar verschwand hinter einem Regal, und Denser ergriff die Gelegenheit, klappte den Band zu und legte die Klammern um. Für ihn schien es offensichtlich, dass Seiten fehlten. Wer nicht genau hinschaute, bemerkte möglicherweise nicht, dass etwas nicht in Ordnung war. Möglicherweise.
Denser wollte kein Risiko eingehen. Er trank seinen Kaffee aus, biss noch einmal ins Brot und stand auf. Der Stuhl kratzte leicht auf dem glatten Holzboden. Er nahm das Buch auf und ging zu dem Regal, in den die Prophezeiung gehörte. Der Archivar fing ihn ab.
»Macht Euch nicht die Mühe, ich nehme es schon«, sagte er. Er streckte die Hände aus.
»Das ist keine Mühe.«
»Ich bestehe darauf.«
Denser lächelte so großzügig, wie er es in diesem Moment konnte. »Vielen Dank.« Er folgte dem Dordovaner zur Lücke in dem acht Fächer hohen Regal. Der Mann hob das Buch, um es hineinzuschieben, hielt inne und runzelte die Stirn. Er wog es in der Hand und fühlte das Gewicht. Denser hielt den Atem an. Es dauerte nur einen Herzschlag lang, aber Denser kam es vor wie ein ganzes Leben. Schließlich zuckte der Archivar mit den Achseln und verstaute das Buch endgültig im Regal. Denser lächelte.
»Vielen Dank für Eure Hilfe«, sagte er.
»Es war mir ein Vergnügen.« Der misstrauische Ausdruck war noch nicht ganz verschwunden. »Nehmt das Essen mit, wenn Ihr geht. Der Wächter begleitet Euch zum Tor.«
Denser bot ihm die Hand, die der Dordovaner schüttelte.
»Auf Wiedersehen«, sagte Denser. »Wir wollen hoffen, dass es für alle gut ausgeht.«
»Dem kann ich nur beipflichten.« Ein letztes Lächeln.
Denser ging so ruhig er konnte zum Ausgang der Bibliothek und rief den Wächter, der ihn nach draußen begleiten sollte, bis er wieder in die Straßen von Dordover entlassen wurde. Erst dort draußen entspannte er sich, und ein breites Grinsen erschien in seinem Gesicht. Er musste jetzt schleunigst die anderen finden. Gut möglich, dass Vuldaroq ihnen bald seine Gastfreundschaft entzog.
Erst am nächsten Morgen in der Frühe trieben die beharrlich nagenden Zweifel den Archivar wieder zum Regal, wo er die Tinjata-Prophezeiung noch einmal in Augenschein nahm. Seine Flüche störten die Stille der Bibliothek erheblich.
Der Rabe, falls man die Truppe noch so nennen konnte, war binnen zwei Tagen gekommen und wieder verschwunden. Soweit Vuldaroq und seine Spione es sagen konnten, hatten die Rabenkrieger nichts Neues herausgefunden, was zwar schade, aber eigentlich nicht sonderlich überraschend war. Die dordovanische Kollegwache und die Magier-Spione hatten alle möglichen Kontaktpersonen und alle zwielichtigen Gestalten der Stadt verhört. Spione und Auftragsmörder gingen allen Spuren nach, aber bisher wusste man nichts über Eriennes Ziel, auch wenn man eine Vorstellung hatte, in welche Richtung sie zunächst gereist war.
Er war zufrieden, dass seine Pläne sich so gut entwickelten. Der Köder war geschluckt worden, und Vuldaroq konnte sich in dem Wissen, dass Balaias beste Männer sich an der Suche beteiligten, behaglich zurücklehnen. Ihn störte nur, dass Denser aus der Prophezeiung nicht nur die Informationen gewonnen hatte, die Vuldaroq ihm zukommen lassen wollte, sondern auch noch etwas gestohlen hatte. Der Herr des Turms wollte nicht das Risiko eingehen, dass Denser jemanden fand, der ihm die Überlieferung übersetzen konnte. Beispielsweise jemanden wie seine Frau Erienne, die als Hüterin der Magie das nötige Wissen besaß.
Er hatte eine Schänke aufgesucht, die ein gutes Stück vom Kolleg entfernt östlich des zentralen Tuchmarktes in einem wohlhabenden Viertel lag, wo ein Seniormagier sich ungestört entspannen und sich diskret treffen konnte, mit wem er wollte. Dieses Mal war sein Gegenüber bei weitem nicht so frech und überheblich wie bei ihrer ersten, schwierigen Begegnung, doch er war nicht weniger fanatisch.
»Ihr müsst verstehen, dass sich die Einstellung der Magier nach der Invasion der Wesmen verändert hat. Wir können es uns nicht erlauben, einander willkürlich zu opfern, nur um den Verstellungen eines entstellten Mitglieds der Schwarzen Schwingen Genüge zu tun. Wir versuchen, unsere Kräfte zu stärken, statt sie zu vermindern.« Vuldaroq trank einen großen Schluck aus seinem Kelch und füllte aus der Karaffe den sehr teuren roten Blackthorne nach. Die Bedienung brachte eine neue Schale mit Muscheln und Austern aus der Bucht von Korina. »Ausgezeichnet.«
»Aber Ihr versteht, dass mein Preis nicht herabgesetzt werden kann«, erwiderte Selik, der sein Gesicht unter einer Kapuze verbarg. »Ich will die Hexe bekommen, ob mit oder ohne Euren Segen, aber wenn wir zusammenarbeiten, können wir leichter unsere jeweiligen Ziele erreichen.«
Vuldaroq kicherte. Selik konnte von Glück reden, dass er das Kolleg überhaupt lebendig verlassen hatte. Dies war nur dank Vuldaroqs persönlicher Intervention möglich gewesen. Der Kämpfer der Schwarzen Schwingen war bleich und zitternd entlassen worden, nachdem man ihn aus den Bannsprüchen befreit hatte, mit denen er blitzschnell festgesetzt worden war. Es hatte laute Rufe, ein Gedränge und Schuldzuweisungen gegeben, aber vor allem hatte Fassungslosigkeit vorgeherrscht, und diese Schrecksekunde hatte ausgereicht, damit Vuldaroq Selik fortschaffen konnte.
»Erienne ist nach wie vor eine unserer begabtesten und fruchtbarsten Magierinnen. Ihr Tod wäre ein herber Schlag für das Kolleg. Ich teile allerdings nicht unbedingt die Ansicht der anderen Magier.«
»Und, weiter?«
»Nun, ich werde Euren Preis zahlen, aber Ihr dürft nur mit mir zusammenarbeiten. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass Ihr ein wenig Unterstützung bekommt.«
»Wen denn?« Seliks einsames Auge starrte scharf aus der Kapuze heraus.
»Den Raben.«
Selik lachte. Es war ein schmerzvolles, rasselndes Geräusch, das die zerstörte Lunge beben ließ. »Wie könnten die mir schon helfen? Ich bin näher an Eurer kostbaren Beute dran, als sie es je sein werden.«
»Ich würde Euch raten, niemals den Raben und seine Entschlossenheit zu unterschätzen. Und obwohl Ihr den Elf, den Ihr verdächtigt habt, zur Gilde der Drech zu gehören, ausgiebig gefoltert habt, ist nichts herausgekommen. Der Rabe ist eine wertvolle Verstärkung. Beobachtet ihn, wie ich es tun werde, und benutzt, was Ihr für nützlich haltet. So werde ich es auch tun.«
Selik stand auf. »Dann muss ich mich sputen. Der Rabe ist schon vor einigen Stunden aufgebrochen.«
»Und zwar nach Süden«, sagte Vuldaroq. »Noch etwas, Mann der Schwarzen Schwinge. Vergesst nicht, mit wem Ihr es zu tun habt. Erienne ist geflohen, weil sie ein Signal bekommen hat, das so leicht durch unseren Mana-Schirm gedrungen ist, als hätte man mit einem Messer ins Wasser gestochen. Sie besitzen große magische Kräfte, und ich muss wissen, wo sie sind. Sorgt dafür, dass Erienne nicht stirbt, bevor sie Euch ihren Aufenthaltsort verraten hat. Aber sorgt dafür, dass sie anschließend ihr Leben beendet.«
Selik verneigte sich leicht. »Mein Lord Vuldaroq, so seltsam diese Zusammenarbeit auch ist, wir begreifen beide, dass die Magie eine notwendige Kraft ist. Die Schwarzen Schwingen wollen nur den Schimmel von einer sonst gesunden Frucht schneiden. Wir kämpfen beide für die gleiche Sache.« Er verließ den Gasthof. Vuldaroqs Blickte folgten ihm bis zum Ausgang.
»Ich glaube nicht, Selik«, murmelte der Magier, als er die nächste Auster knackte. Unerwartete Elemente fügten sich zusammen, und ein höchst befriedigender Abschluss schien zum Greifen nahe. Vielleicht konnte man sogar mit einem Streich gleich mehrere Feinde zur ewigen Ruhe betten. Bald musste er den Raben abfangen lassen und das gestohlene Pergament wieder in seinen Besitz bringen, aber im Augenblick konnte er noch einige Austern genießen, und Vuldaroq war kein Mann, der sich eine solche Gaumenfreude entgehen ließ.
Draußen frischte der Wind wieder auf und rüttelte an den Fenstern des Gasthofs. Es sah aus, als sollte Dordover eine stürmische Nacht erleben.
Hell brach die Morgendämmerung an, das Licht fiel durch die Fugen zwischen den Brettern in die Scheune. Der Unbekannte, Ilkar und Denser hatten bei einem Bauern Unterschlupf für die Nacht gefunden, nachdem sie spät am Abend und vom Wind gebeutelt sein Gehöft erreicht hatten. Sie hatten sich rasch schlafen gelegt, und jetzt war der vergangene Abend nur noch eine unangenehme Erinnerung.
Ilkar rollte sich herum, setzte sich in seinem improvisiertem Bett auf dem Heuboden über dem Vieh aufrecht und sah Denser vor sich.
»Bei den Göttern, ich hätte Julatsa nicht verlassen sollen«, sagte er. »Seit mehreren Tagen bin ich jeden Morgen neben einem hübschen Gesicht und einem begehrenswerten Körper aufgewacht, aber das habe ich aus irgendeinem unerfindlichen Grund gegen deinen verdammten Bart und den Gestank deiner Achselhöhlen eingetauscht.«
»Du weißt einfach nicht, was du an mir hast«, gab Denser zurück. Er kratzte sich am kurz getrimmten Bart.
»Nein«, entgegnete Ilkar, der schon zur Leiter unterwegs war. »Das weiß ich wohl wirklich nicht.«
»He!«, rief der Unbekannte von unten herauf. »Lasst das Schwatzen und setzt euch in Bewegung.«
»Hör auf den Mann«, sagte Ilkar lächelnd.
»Genau wie in alten Zeiten«, murmelte Denser.
»Nein, es ist ganz sicher nicht wie in alten Zeiten«, widersprach Ilkar.
Draußen vor der Scheune folgten sie dem Unbekannten, der schon über eine leere Koppel zum Bauernhaus marschierte. Die Pferde waren noch in den Ställen. In der Küche des zweistöckigen Hauses stand ein dampfender Teller mit Schinken auf dem langen Tisch, und der Duft von süßem Kräutertee erfüllte die Luft. Ilkar zog die Augenbrauen hoch.
»Das ist aber nett von ihm.« Er setzte sich neben den Unbekannten und schaufelte etwas Fleisch auf eine dicke Brotscheibe.
»Eigentlich nicht«, erklärte der Unbekannte. »Ich habe ihn dafür bezahlt.«
Der Hof gehörte zu einem Dorf, das fünfzehn Meilen südlich von Dordover in der Nähe der Hauptstraße nach Lystern in einem kleinen Tal lag. Der Ort hatte unter der Invasion der Wesmen gelitten, war aber inzwischen wieder aufgebaut worden. Die Felder waren bestellt, das Vieh ergänzt, und das Dorf war wieder in der günstigen Lage, gleich zwei Kollegien mit Lebensmitteln beliefern zu können. Da man hier mit Magiern einen freundschaftlichen Umgang pflegte, war Ilkar sicher gewesen, auf einem der Bauernhöfe aufgenommen zu werden, und da weder er noch Denser scharf darauf waren, länger in Dordover zu verweilen als unbedingt nötig, war diese Ansiedlung die beste Wahl gewesen.
»Hört zu«, erklärte der Unbekannte. »Es ist offensichtlich, dass die Dordovaner große Anstrengungen unternehmen, um Erienne und Lyanna zu finden, und das bedeutet, dass wir uns keine Fehler erlauben dürfen. Bisher haben sie ihren Vorsprung von fünfzig Tagen nicht nutzen können, aber das wird nicht ewig so bleiben, und ihre Magier-Spione dürften überall sein und die Ohren aufsperren. Wir sollten auch mit der Möglichkeit rechnen, dass wir beschattet werden.
Nun hat uns Wills neugieriger Freund erzählt, dass es in der Nacht, als Erienne aufbrach, im Süden der Stadt eine gewisse Unruhe gab, sofern man dem Mann überhaupt glauben kann, was er sagt. Dazu kommt noch der Säufer, den du aufgetrieben hast, Denser. Er ist sogar noch unzuverlässiger, aber er meint, er habe eine Frau und ein Mädchen ungefähr in dieser Gegend in eine Kutsche steigen sehen.«
»Und was jetzt?«, fragte Denser. »Wir wussten ja schon, dass sie Dordover verlassen haben. Das ist doch nichts Neues.«
Der Unbekannte schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Tee. »Denk doch nach, Denser. Du hast zu viel Zeit mit den Ränkeschmieden in Xetesk verbracht. Wir wissen zwei Dinge und können daraus auf ein drittes schließen. Zuerst einmal hatten sie Hilfe, wohin sie auch gegangen sind. Zweitens lässt eine Kutsche auf eine längere Reise schließen. Drittens sind die nach Süden gefahren.« Er hob die Hand, um Denser am Sprechen zu hindern. »Ich bin sicher, dass die Dordovaner dies ebenfalls erraten haben, und zweifellos haben sie ihre Vertreter in alle Städte und Orte im Süden geschickt. Sie haben aber nicht die Informationen, die ich gestern Nachmittag bekommen habe.«
»Welche Informationen meinst du?« Ilkar runzelte skeptisch die Stirn.
»Es tut mir Leid, dass ich es euch noch nicht gesagt habe, aber ich bin in Dordover einfach nicht dazu gekommen. Ich habe dort einen alten Freund getroffen, einen Kaufmann, der häufig zwischen Greythorne und Dordover reist. Er hat eine Kutsche gesehen, die von einem Elf gelenkt wurde. Sie hat vor drei Wochen Greythorne verlassen und war nach Arlen unterwegs. Mir ist klar, dass dies nicht viel ist, aber es ist immerhin mehr, als Vuldaroq weiß. Ich denke, wir sollten uns nach Arlen wenden.«
»Wird dein Freund es auch anderen Leuten erzählen?«
Der Unbekannte legte den Kopf schief. »He, das geht gegen mich persönlich.«
»Arlen ist weit von Xetesk und den Balan-Bergen entfernt«, sagte Ilkar.
»Genau das macht mir auch Sorgen«, stimmte der Unbekannte zu. »Ich schlage Folgendes vor. Denser, du solltest so schnell wie möglich nach Xetesk reisen. Am besten mit Schattenschwingen. Wir nehmen einstweilen dein Pferd. Ilkar und ich werden zu den Balan-Bergen reiten und mit Hirad reden. Es könnte unangenehm werden, aber wir brauchen seine Klinge und seine Kraft. Dann treffen wir uns so bald wie möglich in Greythorne.«
»Glaubst du denn, du kannst Hirad überzeugen?«, fragte Denser.
»Na ja, ich will es mal so sagen: Wir haben jedenfalls bessere Chancen bei ihm, wenn du nicht dabei bist«, sagte der Unbekannte. »Er hat da einige keineswegs völlig unberechtigte Vorbehalte.«
»Ich weiß, ich weiß«, gab Denser scharf zurück. »Aber du kennst die Politik auf dem Berg, Unbekannter. Bei allen Göttern, wie weit bist du damit gekommen, Druck auszuüben, damit sie weiter forschen und die gesamte Protektorenarmee freilassen?«
»Die Gruppe, die ich finanziere, ist erheblich weiter als deine, die versucht, ein Verständnis für die Ausrichtung der Dimensionen zu gewinnen. Davon abgesehen, kann ich mich nicht lange in Xetesk aufhalten. Im Gegensatz zu dir lebe ich nicht dort. Und so gut Diera auch meinen Wunsch versteht, den Protektoren wenigstens die Entscheidungsfreiheit zu geben – ich bin offiziell im Ruhestand. Wie auch immer, ich glaube, es ist nicht der richtige Augenblick, um über das Für und Wider der Verwaltung auf dem Berg zu diskutieren«, sagte der Unbekannte. »Aber du hast in der Tat etwas Wichtiges versäumt, Denser. Du hast ihn nicht auf dem Laufenden gehalten, und deshalb ist er losgezogen und hat sich seine Informationen selbst gesucht. Er hat bisher lediglich gehört, dass du ins Umfeld des Kreises der Sieben aufgestiegen bist, dass es aber hinsichtlich der Dimensionsforschung nichts Neues gibt.«
»Er muss eben Geduld haben«, protestierte Denser. »Das ist ein schwieriges …«
»Denser, versuch das lieber gar nicht erst bei mir«, fauchte der Unbekannte. »Hirad hat noch nie viel Geduld gehabt, und das hättest du berücksichtigen müssen. Zweitens sind mehr als fünf Jahre vergangen, ohne dass irgendetwas geschehen ist. Die Drachen haben Balaia gerettet, und wenn du ihn fragst, dann wurden sie von Balaia und besonders von Xetesk im Stich gelassen. Und ich muss sagen, dass ich das gut nachvollziehen kann.«
»Wir brauchen ihn, Unbekannter. Dordover ist eine echte Bedrohung für meine Familie. Ich kann es fühlen.«
»Das ist mir bewusst. Ich kann nur sagen, dass wir tun, was wir können, und dass wir uns in etwa vierzehn Tagen in Greythorne sehen.«
»Das ist lange hin«, sagte Ilkar.
»Dann sollten wir uns besser auf den Weg machen«, sagte der Unbekannte. »Komm schon, iss auf. Es ist Zeit, dass wir uns in Bewegung setzen.«
Erienne rannte durch den Obstgarten und riss die Tür auf. Die Schreie ihrer Tochter klangen noch in ihren Ohren nach. Sie wandte sich nach rechts und eilte den Gang hinunter zu den tief die Hügel hineinführenden Lehrsälen der Al-Drechar.
Lyanna schluchzte jetzt, und das Geräusch war eine Folter für Eriennes Ohren. Wutentbrannt stürzte Erienne durch eine weitere Doppeltür und hätte beinahe Ren’erei umgerannt, die sie am Arm festhielt.
»Lass mich los, Ren’erei«, zischte sie.
»Beruhige dich, Erienne. Was ist denn nur los mit dir?«
Erienne wehrte sich gegen den Griff, konnte sich aber nicht befreien.
»Diese verdammten Hexen tun meiner Tochter weh.«
»Erienne, ich kann dir versichern, dass es das Allerletzte ist, was sie wollen.« Doch ihr Widerspruch und ihre Heiterkeit brachten Eriennes Blut erst recht zum Kochen.
»Lass mich los, lass mich sofort los.«
»Erst wenn du dich beruhigt hast.«
Jetzt sah sie Ren böse an, die ängstlich zusammenzuckte. »Lass mich los, oder ich lege dich um, wo du stehst. Ich will sofort meine Tochter sehen.«
Ren’erei trat zur Seite, und ohne einen zweiten Blick rannte Erienne los. Sie folgte den Geräuschen, die sie gehört hatte, erreichte die Tür des Unterrichtsraums und riss sie auf.
»Was ist hier los?«, rief sie, doch die letzten Worte blieben ihr beinahe im Hals stecken. Anscheinend bester Stimmung malte Lyanna etwas mit bunter Kreide auf eine Schiefertafel. Die Al-Drechar hatten sich rings um ihren Schreibtisch versammelt und beobachteten aufmerksam, was sie zeichnete.
Ephemere schaute auf. »Erienne, du scheinst so aufgeregt. Ist etwas passiert?«
Erienne runzelte die Stirn. Das Schluchzen war in ihrem Kopf verstummt, und die Schreie waren nur noch ein fernes Echo.
»Ich habe gehört …«, begann sie und machte einen Schritt. »Lyanna, ist alles in Ordnung?«
»Ja, Mami«, sagte Lyanna nickend, ohne von ihrer Arbeit aufzuschauen.
Erienne wandte sich wieder an Ephemere, die zusammen mit Aviana durchs kahle, von einem Kaminfeuer erwärmte Zimmer zu ihr kam. Die Flammen tanzten auf den polierten Steinwänden und der Decke.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte sie.
»Nein, ich …« Erienne kniff die Augen zusammen. »Ich habe gehört … da war etwas in meinem Kopf. Lyanna hat geweint und geschrien. Es war schrecklich.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Aviana. »Wahrscheinlich waren es nur Erinnerungen, von denen sie sich im Unterbewusstsein gelöst hat. Es tut mir Leid, dass es bis zu dir durchdringt. Mit so einer Nebenwirkung hatten wir nicht gerechnet. Aber wie du sehen kannst, geht es Lyanna ganz gut.«
Die beiden Al-Drechar kamen weiter auf sie zu und drängten Erienne zur Tür zurück.
»Es war kein Traum«, sagte sie. »Ich habe es mir nicht eingebildet.«
»Das hat auch niemand behauptet«, erwiderte Ephemere. Sie streckte den Arm aus und bugsierte Erienne weiter zur Tür. »Vielleicht solltest du etwas frische Luft schnappen.«
»Ja, du hast Recht«, sagte Erienne. »Lyanna, brauchst du deine Mami?«
»Nein«, kam ohne Zögern die muntere Antwort.
»Gut.« Sie konnte es nicht begreifen. Sie hatte Schreie gehört, die nach Schmerzen und Furcht klangen. Sie hatte es gefühlt, und sie war zu ihr gerannt, wie sie es schon hundertmal vorher in Dordover getan hatte. Doch Lyanna war, wenigstens äußerlich, völlig ruhig. Erienne begriff es einfach nicht. Das Ablösen von Erinnerungen. Vielleicht. Sie musste nachdenken. »Ich werde jetzt den Rundflug über das Haus machen, wenn ihr nichts dagegen habt«, sagte sie.
Ephemere lächelte. »Aber natürlich nicht. Das ist eine ausgezeichnete Idee. Mach deinen Kopf frei und komm danach wieder hierher. Bis dahin wird sicher auch Lyanna hier fertig sein.«
»Bis nachher dann, Liebes.
»Hmm-hmm.« Lyanna malte weiter.
Ein lautes, trockenes Knacken, das aus einer größeren Entfernung zu kommen schien, versetzte Lord Denebre, der am lodernden Kaminfeuer im Sessel saß, in einen leicht verwirrten Wachzustand. Wie gewöhnlich hatte der alte Lord nach dem Mittagessen im freundlich geschmückten Turmzimmer, das durch ein eigens erweitertes Fenster viel Sonnenlicht bekam, ein Nickerchen gehalten. Er schüttelte den Kopf und fragte sich, ob er das Geräusch nicht vielleicht doch nur geträumt hatte. Nach der Besetzung seiner Stadt durch die Wesmen war er nicht wieder völlig genesen, und die heftigen Bauchschmerzen, die ihn regelmäßig quälten, wurden immer schlimmer und ausgedehnter, je mehr Jahreszeiten vergingen. Der Besetzung war auch Genere zum Opfer gefallen, mit der er fünfundvierzig Jahre verheiratet gewesen war, und so wurden die Schmerzen in seinem Bauch von denen, die er im Herzen spürte, sogar noch in den Schatten gestellt.
Lord Denebre erhob sich aus seinem Sessel und ging langsam zum Turmfenster, das den Burghof und seine geliebte Stadt überblickte. Alle Narben der Invasion durch die Wesmen waren inzwischen verheilt. Es war ein warmer Nachmittag, obschon hier und dort von Süden her Wolken aufzogen, die nach Regen aussahen.
Als er zur hübschen, am See gelegenen Stadt hinabschaute, erkannte Denebre, dass er das Geräusch keineswegs geträumt hatte. Überall waren die Menschen stehen geblieben und sahen sich um. Denebre war alt, doch seine Augen waren scharf wie eh und je. Er konnte erkennen, dass die Stadtbewohner hierhin und dorthin deuteten, mit den Achseln zuckten oder die Köpfe schüttelten und ihres Weges gingen. Auf dem Markt herrschte jetzt, nach der Mittagspause, wieder etwas Betrieb, die Rufe der fliegenden Händler übertönten den allgemeinen Lärm, Männer und Frauen verließen die Gasthöfe, und der Verkehr bewegte sich gemächlich auf den gepflasterten, makellos sauberen Straßen.
Lord Denebre war nicht übermäßig reich, doch was er entbehren konnte, das gab er dafür aus, den Ort seiner Geburt so zu erhalten, wie er ihn seit seiner Kindheit in Erinnerung hatte. Sein Volk achtete und beschützte die Stadt, und wer etwa als Reisender in den Ort kam und glaubte, die vermeintlich verweichlichten Städter übervorteilen zu können, der bekam rasch die harte Hand zu spüren, mit der, wenn nötig, der Lord durchaus zu regieren wusste. Zwar ließ er keine öffentlichen Galgen in der Stadt aufstellen, doch an den Zufahrtsstraßen wurden hin und wieder Räuber oder Diebe gehenkt. In seiner Naivität hatte der Lord zunächst geglaubt, einige abschreckende Beispiele müssten ausreichen, doch über die Jahre sollte er immer neuen Anlass bekommen, über die Dreistigkeit und Dummheit der Spitzbuben zu staunen.
Sein Leben war überwiegend erfreulich verlaufen, und seine Söhne und Töchter hatten sich verpflichtet, die Idylle auch nach seinem Tod zu erhalten. Dies hatte es nur noch schwerer gemacht, als die Wesmen gekommen waren und alles, woran sein Herz hing, zu vernichten drohten.
Gewiss, sie waren wieder abgezogen, zurück über die Blackthorne-Berge. Er glaubte nicht, dass sie noch einmal eine Invasion versuchen würden, und wenn, dann gewiss erst lange nachdem er in die Gruft gelegt worden war. Denebre lächelte in sich hinein und holte am Fenster tief Luft. Ein zweites Knacken durchbrach die Ruhe des Tages, und auf dem Markt wurde es still. Es war ein unheimliches Geräusch, das sich durch den Boden fortpflanzte und sogar die Burgmauern leicht beben ließ.
Denebre runzelte die Stirn und spähte hinaus, beschattete die Augen mit zitternder, altersfleckiger Hand und starrte zu den niedrigen Hügeln am Südufer des kleinen Sees, wo er als Junge geangelt hatte.
Eine schwarze Narbe lief durch den mit Gras und Farn bewachsenen Hang. Denebre konnte sich nicht erinnern, diese Spur schon einmal dort gesehen zu haben … vielleicht war sie während des heißen, trockenen Sommers durch einen Brand entstanden. Sofort verwarf er den Gedanken wieder. So etwas hätte er keinesfalls übersehen.
Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, dann raste es. Die Narbe bewegte sich. Sie bewegte sich schräg nach unten, verschlang immer mehr vom satten Grün und spie eine Staubwolke in die Luft.
»Nein, nein«, keuchte er. Sein Atem ging stoßweise. Noch zwei weitere Male knackte es, und zwei weitere Risse tauchten auf. Das Land stürzte in die Abgründe, die sich auftaten, und die entsetzlichen braun-schwarzen Linien rasten den Hügel hinunter, während ein tiefes, tödliches Grollen zu hören war.
Die Vibrationen in der Burg wurden stärker. Auf dem Markt wurden jetzt besorgte, fassungslose Rufe laut. Stände schepperten, ein Orangenstapel geriet ins Rutschen, und die Früchte hüpften über die Straße. Die Standbesitzer eilten, ihre Waren wieder einzusammeln. Der erste Instinkt galt dem Schutz des Geschäfts, nicht dem eigenen.
Die Risse, die für die Menschen in der Stadt noch nicht zu sehen waren, bewegten sich unglaublich schnell. Sie erreichten das Südufer und verschwanden unter dem See. Einen glücklichen Moment lang dachte Denebre, das Wasser habe ihren Vormarsch aufgehalten, doch das Grollen hörte nicht auf, und das Beben wurde sogar noch stärker. Hinter ihm fiel ein Bild von der Wand, im Kamin rutschten die Holzklötze ineinander.
Die friedliche Oberfläche des Sees geriet in Wallung. Vom Zentrum aus liefen Wellen in alle Richtungen, riesige Blasen stiegen an die Oberfläche, und schließlich schoss mit einem dumpfen Knall und einem lauten Schmatzen eine Wassersäule empor, deren Gischt als heftiger Regen wieder herunterkam.
Denebre hielt sich an der Fensterbank fest, weil er wegen der Vibrationen im Boden nicht mehr sicher stehen konnte. Staub wallte aus allen Spalten, und sein Sessel klapperte auf den Steinfliesen.
Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Das Ackerland nördlich des Sees stürzte in den Abgrund, als sei es hinuntergezogen worden. Tränen liefen dem alten Lord übers Gesicht. Was die Wesmen nicht erreicht hatten, holte die Natur in einem Augenblick nach.
Er beugte sich aus dem Fenster. Unten in der Stadt brach mittlerweile das Chaos aus. Die Menschen schrien oder riefen Warnungen. Füße glitten auf den bebenden Straßen aus, Türen fielen zu, Fenster kippten aus dem Rahmen, und das Brüllen des nahenden Untergangs hatte immer noch kein Gesicht.
»Lauft, lauft«, fluchte Denebre hilflos. Seine Stimme war schwach vor Alter und konnte den Lärm nicht übertönen. Er winkte hektisch, doch selbst wenn jemand hochschaute, konnte er nicht erkennen, was der alte Lord meinte. Er musste ohnmächtig zuschauen, wie die Erde seine Stadt verschlang.
Das Land kippte an den Rändern der Risse nach innen. Jetzt wurden die ersten Häuser der Stadt hinabgezogen, und weiter ging es, schnurgerade in Richtung Burg und schneller, als ein Pferd rennen konnte. Die ganze Welt bebte jetzt. Plötzlich sackte der Boden unter ihm weg, Denebre konnte sich nicht mehr festhalten und stürzte schwer zu Boden. Er spürte, wie ein Knochen in seiner Hand brach, als er den Sturz abzufangen versuchte.
Er schrie, sein Atem kam in kurzen Stößen, aber niemand konnte ihn hören. Das Grollen war zu einem ohrenbetäubenden Brüllen angeschwollen, als sei ein in der Erde lebender Leviathan an die Oberfläche gekommen. Denebre richtete sich mühsam wieder auf. Der Boden bebte, die Fensterrahmen krachten, die Scheiben waren längst gesprungen. Hinter ihm fiel ein Balken aus der Decke und krachte ins Feuer, brennende Scheite flogen durchs Zimmer, die Glut verteilte sich im kleinen Raum. Der alte Lord achtete kaum darauf.
Die Panik griff auf den Straßen und dem Marktplatz um sich. Männer, Frauen und Kinder rannten blindlings vor der Gefahr weg, die keine Gnade kannte. Balken splitterten, Steine zerbrachen, ganze Gebäude schüttelten sich unter den mächtigen Zuckungen des Landes, bevor sie im Schlund der Bestie verschwanden, die alles verschlang, was auf ihrem Weg lag.
Dichte Staub- und Rauchwolken ballten sich über Denebres Stadt zusammen. Die Menschen krochen umher und versuchten verzweifelt, aus dem versinkenden Land zu fliehen, doch sie verloren den Halt und rutschten kreischend in den Abgrund der Erde. Das Torhaus der Burg bebte heftig und zerfiel, riesige Spalten klafften in den Mauern rings um den Burghof, die Befehle der Wächter gingen in den schrecklichen Schreien der Pferde und im Durcheinander von hundert armen Seelen unter, die versuchten, sich vor einem Schicksal zu retten, vor dem es kein Entrinnen gab.
Lord Denebres Turm schwankte gefährlich. Hinter ihm brach ein zweiter Balken aus der Decke. Dachziegel fielen am Fenster vorbei in den Spalt, der sich direkt vor der Tür seines Hauses auftat und unter dem Bergfried hindurch weiterlief.
»Mögen die Götter uns gnädig sein«, flüsterte er.
Plötzlich bebte der Turm wieder, der Fensterrahmen löste sich vollends aus dem Mauerwerk und fiel hinunter. Die Luft war voller Staub, überall ächzten und krachten Stein und Holz. Denebre blieb unerschütterlich stehen und lehnte sich an die bebende Wand, doch der ganze Turm stöhnte jetzt, nachdem seinen Fundamenten eine tödliche Wunde zugefügt worden war.
Draußen war der Marktplatz inzwischen verschwunden. Nur noch Schutthaufen lagen dort. Der Leviathan hatte Erdwälle aufgetürmt und das Gelände mit Körpern übersät, von denen sich nur noch sehr wenige bewegten.
Lord Denebre warf einen letzten Blick zum Himmel, der blau und friedlich war. Die Sonne schien. Unter seine Füßen machte der Turm eine Schwindel erregende seitliche Bewegung, die ihn abermals den Halt an der losen Fensterbank verlieren ließ. Seine Knie gaben nach, und er kippte nach vorn. Er war fest entschlossen, seine geliebte Stadt nicht aus dem Auge zu lassen. Ein dumpfer Knall weit unter ihm, den er in den Füßen spürte, verriet ihm, dass die zentralen Stützen des Turms zerbrachen.
Der Turm schwankte, ein Höllenlärm schlug ihm in die Ohren, überall stürzten die Mauern zusammen. Sein ganzes Zimmer ruckte und sank hinab. Steine brachen durch die Decke, prallten auf den Fußboden und durchschlugen ihn; draußen fielen die Dachziegel wie ein Regenschauer.
Ein dritter heftiger Ruck, und der Turm legte sich schief, kippte und rutschte unaufhaltsam weiter. Denebre wischte sich Staub und Tränen aus dem Gesicht. »Jetzt bin ich bald bei dir, Genere, meine Liebe. Bald bin ich bei dir.«
Klar und warm und rein war die Luft, die Erienne tief einatmete, als sie mit Schattenschwingen langsam höher flog und nach und nach das außergewöhnliche Gebäude überblickte, das sich auf Herendeneths einsamem, flachem Gipfel ausbreitete.
Sie wollte sich vom frischen Wind umwehen lassen und ihre Verwirrung vertreiben, damit sie wieder klar denken und herausfinden konnte, was im Argen lag. Doch der Anblick unter ihr veränderte alles und erfüllte, wie es schien, für eine Ewigkeit ihre Augen und ihr Bewusstsein.
Das Haus der Al-Drechar war weitläufig, unregelmäßig gebaut und wundervoll. Sie schwebte darüber und fand den Obstgarten, in dem Lyanna so gern spielte. Von dort aus flog sie weiter nach außen.
Direkt unter ihr und in Richtung der Anlegestelle sah sie etwas, das vermutlich direkt nach dem Bau der ursprüngliche, prunkvolle Eingang des Hauses gewesen war. Türmchen und großzügige Räume waren mit Schiefer gedeckt, auf dem wiederum eine sichtlich gut gedeihende grüne Kriechpflanze wuchs. Ein niedriger Seitenflügel aus Glas und Holz war offenbar erst später angebaut worden. Dort fand sie auch den langen, schmalen Zugang, durch den sie bei ihrer Ankunft, die jetzt schon so lange zurückzuliegen schien, hinter Ren’erei hergerannt war.
Links vom Obstgarten waren drei mit Schiefer gedeckte Seitenflügel zu sehen, die hinausragten wie die Beine eines riesigen Insekts. Sie waren nicht völlig gerade gebaut, sondern erweckten eher den Eindruck, sie seien um natürliche Gegebenheiten herum angelegt worden. Als sie näher heranflog, konnte sie sehen, dass es dort tatsächlich Wasserbecken mit sanfter Strömung und anmutige Wasserfälle gab, die nur ein Narr zerstört hätte.
Die rechte Seite wurde von einem einzigen massiven Gebäude eingenommen. Sie flog langsam darüber hinweg und konnte Innenhöfe und architektonische Verrücktheiten ausmachen, die zu einem mehrstöckigen Gebäude aus weißem Stein, grauem Schiefer und dunklem Holz gehörten. Dazwischen gab es Blumen in einer Masse, als hätten die Götter sie aus dem Himmel heruntergeworfen. Es war ein prächtiges Durcheinander von roten, gelben blauen und purpurnen Farbtönen, hin und wieder sah man auch ein lebendiges, reines und strahlendes Smaragdgrün.
Doch die wirkliche Majestät zeigte sich hinter dem Obstgarten, und ihr gegenüber wirkte der Rest des Hauses geradezu winzig. Auf Terrassen, die sich über die ganze, nicht sehr steile Neigung des Hügels bis zum Gipfel erstreckten, waren unzählige Bögen, Statuen, Säulen und kleine Tempel mit Kuppeldächern, Grotten, Teiche, wunderschöne Steingärten und makellos gestutzte Bäume angelegt. Auf dem Gipfel stand eine dreißig Fuß hohe und an der Basis sechs Fuß breite Steinsäule. Sie war von Efeu überwuchert, und dort, wo man es sehen konnte, strahlte von verwitterten gemeißelten Inschriften eine tiefe, uralte Aura magischer Kraft aus.
Erienne flog tiefer hinunter und streckte die Flügel aus, um in einem langen, langsamen Gleitflug die außergewöhnlichen architektonischen und kulturellen Leistungen betrachten zu können. Gleichzeitig sah sie sich nach einem geeigneten Landeplatz um und dachte schon daran, dass sie in dieser Stille ein wenig umherlaufen könnte, um ein paar kostbare Momente für sich allein zu haben und wieder zu sich zu kommen. Doch als sie sich näherte, wurde die Luft merklich kälter, und sie zog sich wieder zurück. Sie hatte das Gefühl, ein Eindringling zu sein.
Sie flog nicht etwa über die hübschen Einfälle von Künstlern hinweg, sondern über Gräber. Dort ruhten die Al-Drechar, die von der Wiedervereinigung der Kollegien geträumt hatten. Ihre Träume hatten sich nicht erfüllt, und sie waren in der Angst gestorben, das Ende all dessen, woran sie glaubten, sei nahe.
Erienne hätte den Ort entweiht, wenn sie gelandet wäre. Zuerst einmal musste sie sich trotz ihrer zunehmenden unguten Vorahnungen um ihre wichtigste Aufgabe kümmern. Sie flog wieder etwas höher und versuchte, sich innerlich wie äußerlich einen Überblick zu verschaffen.
Lyanna hatte sich, wie von Erienne befürchtet, gleich nach Beginn ihrer Ausbildung verändert. Verschwunden war das unbeschwerte kleine Mädchen, das Fantasielieder für seine Puppe sang. Lyanna war jetzt nachdenklich, fast introvertiert und still. Sie redete noch mit ihrer Mutter, doch Erienne konnte sehen, dass hinter ihren Augen ganz andere als nur die Gedanken eines Kindes umgingen. Es war, als nähme sie alles auf, was sie sah, fühlte und hörte, und wahrscheinlich galt das Gleiche auch für das Mana-Spektrum.
Erienne hatte einerseits Angst vor dem, was aus ihrer Tochter werden konnte, und war andererseits stolz, dass Lyanna die Zukunft des Einen Weges war; und sie war auch eifersüchtig auf die Wunder, die ihr Kind schauen mochte.
Es war ganz anders als die Zeit in Dordover, wo Lyannas Ausbildung auf einer Generationen langen Erfahrung mit der Entwicklung von Kindern beruht hatte, sodass ihre kindliche Unschuld erhalten blieb, während sie lernte, das Mana zu akzeptieren. Erienne bekam Schuldgefühle, als sie in der warmen Thermik über Herendeneth schwebte. Lyanna hatte in Dordover gelitten, und die Entscheidung, von dort fortzugehen, war richtig gewesen. Aber war es hier wirklich besser? Lyanna schrie immer noch in Träumen auf, sie erwachte immer noch weinend, weil sie Kopfschmerzen hatte. Allerdings gab es auch einen Trost. Hier hatte Lyanna wenigstens eine Chance zu überleben und Balaia eine Gabe zu schenken, die beinahe ausgerottet worden wäre.
Es gelang Erienne nicht, ihre Sorgen abzuschütteln. Sie hatte gesehen, wie die Al-Drechar den Unterrichtsraum verlassen hatten. Die alten Frauen hatten die Besorgnis, die in ihren Gesichtern zum Ausdruck kam, nicht verbergen können, und obwohl die Ausbildung erst vor sieben Tagen begonnen hatte, wurden sie mit jedem Tag hinfälliger und schwächer. Erienne hatte auch geflüsterte Unterhaltungen beobachtet, die abrupt beendet wurden, wenn man sie bemerkte.
Sie nahm sich vor, später mit Ephemere zu reden, und stieg etwas höher, weil sie herausfinden wollte, in welcher Höhe die Illusion begann. Als sie höchstens fünfzig Fuß über dem Boden schwebte, konnte sie das Gebäude nur noch verschwommen sehen. Wie von grauen Wolken wurden die Einzelheiten verdeckt. Mit jedem weiteren Schlag ihrer Schattenschwingen verschwand das Haus unter dem gewaltigen, komplizierten Spruch. Als sie etwas mehr als sechzig Fuß hoch war, konnte sie nur noch den Gipfel eines von Nebel umhüllten, lange erloschenen Vulkans sehen.
Die Illusion flackerte und stabilisierte sich wieder. Zuerst dachte sie, ihre Augen hätten ihr einen Streich gespielt, doch dann wiederholte sich das Flackern. Links von ihr wurde der Spruch durchlässig, und ein Gebäudeflügel war mehrere Herzschläge lang sichtbar. Das Licht fiel durch den falschen Fels hindurch.
Eriennes Herz begann zu rasen. Sie flog eilig zum Obstgarten hinunter. Sie hatte genügend schlecht unterhaltene statische Sprüche gesehen, um zu erkennen, dass diese Illusion zerfiel und früher oder später völlig zusammenbrechen würde.
Da stimmte etwas nicht. Die Kräfte der Al-Drechar konnten sich nicht so schnell so sehr erschöpft haben. Eine sich auflösende Illusion war schlimmer als überhaupt keine, weil das Flackern des instabilen Mana im ganzen Spektrum zu sehen war. Für das geübte Auge wäre es wie ein Leuchtfeuer mitten in der Nacht. Es brauchte nichts weiter als einen Meister der Magie, der an der Südküste von Balaia und auf dem Meer nach ihnen suchte.
Und dann würde Dordover mit aller Macht hier einfallen. Über den Ausgang konnte kein Zweifel bestehen.