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27

Darrick und Denser hatten die Mannschaft der Calaianische Sonne gefangen genommen. Denser war aufs Schiff geflogen und hatte den schweren ehemaligen General über die glücklicherweise nur kurze Entfernung getragen. Sie waren mitten auf dem Hauptdeck gelandet.

Sie hatten so getan, als gehörten sie zu den Dordovanern, die an Bord erwartet wurden, und waren mühelos bis zum Ruderdeck vorgedrungen. Darrick hatte einige Entschuldigungen gemurmelt, dem Kapitän das Schwert an den Hals gesetzt und ihn aufgefordert, seine Mannschaft in den Laderaum zu schicken. Unterdessen hatte Denser neben ihm gestanden und der besseren Wirkung halber keimende Feuerkugeln zwischen den Händen gehalten.

Jetzt wurde eine Laufplanke heruntergelassen, und der Rabe kam mit achtundzwanzig Protektoren an Bord. Die Mannschaft wurde freigelassen und setzte mürrisch und finsteren Blickes die Segel.

Der Unbekannte und Thraun waren in Kabinen gelegt worden, die übrigen Rabenkrieger, Darrick und Ren’erei saßen am Tisch des Kapitäns. Der Kapitän selbst, ein großer, kräftiger Mann mit braunen Haaren namens Jevin, saß am Kopfende und versuchte zu verstehen, was man ihm erklärt hatte.

Im Grunde hatte er nur Ren’erei wirklich zugehört. Die beiden wechselten in einem Elfendialekt, den offenbar nicht einmal Ilkar verstehen konnte, einige Worte. Der Barbar hatte die Elfenfrau, die Aeb und Thraun gerettet hatte, bereits ins Herz geschlossen. Sie war ernst und immer bei der Sache und hatte die wütende Elfenmannschaft allein schon durch ihre Gegenwart und einige offensichtlich sehr gut gewählte Worte beschwichtigt.

»Und diese unglaublichen Wetterumschwünge haben wirklich nur mit einem einzigen Mädchen zu tun?« Jevin hielt einen Zeigefinger hoch.

»Ja«, bestätigte Denser.

»Und Ihr sagt, sie sei eine Al-Drechar?« Er zog die Augenbrauen hoch.

»Ja«, sagte Denser noch einmal.

»Warum beschützen die Elfen sie dann nicht? Sie muss ihnen doch sehr wichtig sein.«

»Sie beschützen sie ja«, sagte Ren’erei. »Aber die Gilde ist nicht stark genug, und wir brauchen mehr Unterstützung. Erienne hat Denser und den Raben gerufen, und dies hat wiederum dazu geführt, dass wir die Protektoren als Hilfe gegen die Dordovaner brauchten.«

»Die Protektoren kommen aber aus Xetesk«, wandte Jevin ein. »Xetesk verfolgt nicht weniger selbstsüchtige Ziele als Dordover.«

»Abgesehen von einem wichtigen Punkt«, entgegnete Denser. »Wir wollen Lyanna nicht töten. Wir wollen, dass sie überlebt und ihre Fähigkeiten entwickelt.«

»Wenn er ›wir‹ sagt, dann meint er in diesem Fall Xetesk«, ergänzte Ilkar. »Wir hier sind allerdings der Rabe, und wir arbeiten nicht für Xetesk. Es ist eben nur so, dass sich unsere Vorstellungen in gewisser Weise ähneln.«

Jevin nickte. »Es scheint so, als hätte ich es hier mit dem kleineren von zwei Übeln zu tun.«

»Werdet Ihr uns helfen?«, fragte Ilkar.

»Ich lasse das Auslaufen vorbereiten«, fauchte Jevin. »Was wollt Ihr denn sonst noch?«

»Das meinte er nicht«, sagte Denser. Er sprach bewusst ruhig. »Es tut mir Leid, dass wir Euch dies zumuten müssen. Wir wollen wissen, ob Ihr uns freiwillig helfen wollt. Wir können dafür sorgen, dass Ihr bezahlt werdet, aber noch wichtiger ist, dass Ihr Dordover daran hindert, ein Verbrechen an ganz Balaia zu begehen. Und Ihr würdet mir helfen, meine Tochter zu retten.«

Endlich lächelte Jevin. »Dann sollte die Bezahlung aber wirklich gut sein.«

»Das Doppelte von dem, was die Dordovaner Euch versprochen haben.«

»Das müsste reichen«, meinte Jevin. »Um ehrlich zu sein, ich wollte schon immer mal den Raben kennen lernen. Ich hatte mir die Begegnung zwar anders vorgestellt, aber nun seid ihr da. Hier sind meine Bedingungen. Ihr lasst mich das Schiff so führen, wie ich es für richtig halte. Ich kenne den Weg nach Ornouth und werde nur um Rat fragen, wenn ich ihn brauche. Ich werde unter keinen Umständen das Schiff gefährden. Ihr werdet die Protektoren sofort zurückziehen, und erst dann werden wir auslaufen.

Ihr seid meine Gäste und nicht meine Wächter. Deshalb werdet Ihr die Regeln an Bord befolgen, über die Euch mein Erster Maat unterrichten wird, sobald wir unterwegs sind. Ich werde meine Mannschaft versammeln und den Leuten die Lage erklären. Habt Ihr Fragen?«

Die Anwesenden schüttelten die Köpfe.

»Dann sind wir uns einig.« Er streckte die Hand aus, die Hirad in Abwesenheit des Unbekannten schüttelte.

Die Tür der Kapitänskajüte wurde geöffnet, und Aeb bückte sich, als er unter der niedrigen Tür durchging.

»General Darrick, ein Mann fragt nach Euch. Er gehört zu Eurer Kavallerie.«

Darrick stand rasch auf. »Ich kümmere mich darum. Denser, ich glaube, du solltest lieber die Protektoren vom Deck rufen, damit das Schiff ablegen kann.«

»Ja, das sollte ich wohl machen«, antwortete Denser.

Der Rabe folgte Darrick aus der Kajüte. Draußen ging es einen kurzen Flur entlang, dann eine Holztreppe hinauf bis zum Deck. Ein halbes Dutzend Reiter stand im Licht von zwei Fackeln unten vor dem Schiff. Hirad erkannte Izack an der Spitze.

»Kommandant Izack«, sagte Darrick, als er ans Geländer trat. »Ist das die Abteilung, die mich verhaften soll?«

Izack kicherte. »Nein, Sir, ganz sicher nicht. Wir haben die Waffen und die Rüstungen des Raben mitgebracht und wollen uns Euch anschließen.«

»Ersteres nehme ich dankbar an. Das Zweite muss ich ablehnen, auch wenn mich eure Loyalität berührt.« Er hob eine Hand, als Izack widersprechen wollte. »Izack, Ihr seid ein guter Soldat und ein treuer Freund, und gerade deshalb will ich nicht, dass Ihr hier hineingezogen werdet, so verlockend es auch wäre, einen Mann von Euren Fähigkeiten an meiner Seite zu wissen.

Ich habe ein Verbrechen gegen Lystern begangen, auch wenn Ihr und ich es nicht so sehen. Ich bin flüchtig, und Lystern braucht gute Männer wie Euch, um die Verteidigung zu verstärken.«

»Die Verteidigung?«, fragte Izack.

»Es wird Auseinandersetzungen zwischen den Kollegien geben, Izack. Wer das Kind auch bekommt, es wird Ärger geben. Ich habe meine Entscheidung getroffen, und ich werde meinen Kampf im Ornouth-Archipel ausfechten. Ihr müsst nach Hause zurückkehren und mit den Vorbereitungen beginnen. Sorgt dafür, dass Heryst auf Euch hört. Er ist ein guter Mann, obschon er manchmal zu Fehlurteilen neigt. Man kann den Dordovanern nicht mehr trauen, auch wenn er dies anders sehen mag. Was sagt Ihr dazu?«

»Wenn Ihr mich darum bittet, General, dann will ich es tun.«

»Danke, Izack.« Darrick entspannte sich ein wenig und stützte sich auf die Reling. »Passt auf Euch auf. Lystern wird Euch brauchen.«

Izack nickte. »Was soll ich sagen, wenn ich nach Eurem Verhalten heute Abend gefragt werde?«

»Sagt ihnen die Wahrheit.« Darrick richtete sich wieder auf. "Viel Glück, Izack. Wir sehen uns sicher bald wieder.«

»Das will ich doch hoffen, Sir. Viel Glück auch für Euch.«

Er zog sein Pferd herum und führte seine Männer fort. Sie ließen ein verschnürtes Bündel auf der Mole liegen. Hirad sah den Griff des Zweihandschwerts herausragen, das dem Unbekannten gehörte. Er betete, dass er eines Tages wieder die Spitze auf den Boden tippen hörte.

 

Inzwischen versuchten sie nicht einmal mehr, den Schild aufrechtzuerhalten. Ephemere wusste, dass ihre Feinde kamen. Die Frage war nur noch, ob Hilfe vor ihnen eintraf. Wie ein Vulkanausbruch – und für einen aufmerksamen Magier ebenso offensichtlich – brodelte das Mana aus Lyannas Bewusstsein. Mit jeder Stunde wurden die Zerstörungen, die dadurch entstanden, umfangreicher.

Inzwischen war die Anstrengung für sie so groß geworden, dass immer nur eine von ihnen bei Lyanna wachen konnte, während die anderen schliefen oder die Brühe zu sich nahmen, die von den Elfen der Gilde für sie zubereitet wurde. Die Elfen versuchten zu lächeln, doch Ephemere konnte sehen, wie behutsam sie mit ihnen umgingen, und sie durchschaute die freundlichen Lügen, wie gut sie sich schlugen.

Ephemere saß mit der Lemiir-Pfeife im Esszimmer. Im benachbarten Vorraum hatte sich Myriell bei Lyanna niedergelassen. Es war sinnlos, sie in ihrem eigenen Schlafzimmer zu lassen. Die Kleine bemerkte es in ihrem derzeitigen Zustand ohnehin nicht, und so war es wenigstens für die sterbenden Hüterinnen ein wenig leichter.

Das Gesicht der alten Al-Drechar verzog sich zu einem unsicheren Lächeln, als sie einen tiefen Zug aus der Pfeife nahm. Die Kräuter vertrieben die schlimmsten Schmerzen, die sie sonst in jedem wachen Augenblick spürte. So viele Stunden hatten sie hier zu viert gesessen und gestritten, geredet, gescholten und gehofft. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie glücklich diese Zeit gewesen war.

Das Lächeln verschwand. Seit fünf Tagen hatte sie auf dem Weg nach draußen kaum mehr als ein aufmunterndes Wort mit Aviana gewechselt oder Myriell auf dem Weg zu Lyanna einen ruhigen Schlaf gewünscht. Cleress hatte sie die ganze Zeit über gar nicht mehr gesehen. Mit jedem Tag, der verging, wurden sie schwächer, und es sah keineswegs danach aus, als sollte Lyannas Nacht bald vorbei sein.

Ihr einziger Trost war, dass ein neues Stadium begonnen hatte, aber diese Entwicklung bedeutete vorerst nur, dass sich das Elend noch verschlimmerte. Bisher hatten die ungezielten Ausbrüche von Lyannas Begabung ihre Heimat Balaia getroffen, doch inzwischen hatte die Reichweite zugenommen, und jetzt war auch Herendeneth betroffen. Dies zeigte, dass das Unterbewusstsein des Mädchens an Verständnis, Kontrolle und Zielstrebigkeit gewonnen hatte, doch die Folge war, dass der ganze Archipel aus heiterem Himmel von Unwettern heimgesucht wurde.

Die Winde waren keine einzelnen, wütenden Ausbrüche mehr, die in Lyannas Träumen entstanden. Jetzt zuckten die Blitze unablässig zu Boden, die Wellen schlugen ans Ufer und schwappten fast bis zum Haus hinauf, der Wind donnerte unermüdlich an die Läden, an die Fenster und die Mauern, und wenn Wolken aufzogen, dann fiel ein unglaublich heftiger Regen, der im höheren Gelände Flüsse entstehen ließ. Auf dem Rückweg ins Meer rauschte das Wasser mitten durchs Haus.

Der Geruch von feuchtem Holz, modrigen Teppichen und nassen Balken erinnerte ständig daran, wer im Reich der Al-Drechar die Elemente beherrschte. Ephemere seufzte. Wie dumm sie doch gewesen waren. Sie waren Jahrhunderte alt und doch in die Falle getappt, hatten ihre eigenen Fähigkeiten überschätzt. Noch schlimmer, sie hatten die zerstörerische Kraft von Lyannas unausgebildetem, aber erwachendem Geist unterschätzt. Der einzige Trost war, dass sie, selbst wenn sie es gewusst hätten, kaum etwas hätten ändern können. Aber wenigstens hätten sie dann ein wenig besser vorbereitet begonnen.

Es hätte das Sterben ein wenig angenehmer gemacht.

Die alte Elfenfrau nahm noch einen Zug aus der Pfeife und stellte sie in den Ständer zurück. Sie würde bald für Myriell neu gestopft und angezündet werden. Als sie die Augen wieder öffnete, ohne sich genau zu erinnern, wann sie sie überhaupt geschlossen hatte, sah sie zwei Elfen der Gilde links vor sich stehen. Schuldbewusst gestand sie sich ein, dass sie nicht einmal den Namen der beiden wusste. So nickte sie nur zustimmend, dass es Zeit wurde.

Die jungen Elfenmänner schoben ihren Stuhl zurück und halfen ihr, einer zu jeder Seite, auf die Beine. Quälend langsam schlurfte sie zur Tür. Sie war fest entschlossen, sich nicht tragen zu lassen, wie es Aviana schon dreimal geschehen war. Natürlich war das dumm, aber manchmal waren diese kleinen Kämpfe alles, was sie noch auf den Beinen hielt.

Einer der Elfen öffnete die Tür des improvisierten Schlafzimmers, und sie betraten den von gedämpften Lampen erhellten Raum. Links waren die Fenstervorhänge einen Spalt geöffnet. Diese Ecke des Gebäudes war etwas geschützt, und wenn draußen ein Sturm tobte, wehte hier nur eine kleine Brise durch den Raum. Es musste bald hell werden, doch die Vorhänge blieben geschlossen. Das war besser für die Konzentration.

Lyanna lag auf dem Rücken auf dem Bett, das sie ihr hier hereingestellt hatten. Das Mädchen hatte die Augen seit sechs Tagen nicht mehr geöffnet. Sie war in einen Tiefschlaf gefallen, kaum dass Erienne aufgebrochen war, um Denser und den Raben zu finden. Ihre Lieblingspuppe und ein Glas Wasser warteten neben ihrem Bett. Symbole der Hoffnung und des Glaubens, dass sie ihre Nacht wohlbehalten überstehen würde. Doch das unberührte Wasser war mehrmals ausgewechselt worden, und die Puppe verstaubte.

Die Elfen halfen Ephemere aufs Bett. Sie setzte sich auf die Bettkante und beugte sich vor, um Lyannas Haare zu streicheln. Ihr Gesicht war im Augenblick kühl und trocken, doch das nächste Zucken, wenn ihr ganzer Körper sich aufbäumte, war nie fern. Sie wurde von Phantomen gequält, gegen die nicht einmal die Al-Drechar etwas ausrichten konnten.

Die Elfen der Gilde waren unermüdlich. Sie wuschen Lyanna täglich, wechselten die verschmutzten Bettlaken und fütterten sie im Schlaf mit Suppe, indem sie den Schluckreflex durch Massage des Halses auslösten.

»Armes Kind«, flüsterte Ephemere. Sie gab Lyanna einen Kuss auf die Stirn und bedeutete den Elfen mit einer Geste, dass sie ihr gegenüber sitzen wollte.

Die Elfen halfen ihr auf ein zweisitziges Sofa, wo sie sich neben Myriell niederließ. Dann winkte sie den Elfen, dass sie sich zurückziehen konnten. Sie hörte das leise Klicken, mit dem die Tür geschlossen wurde, nahm sich zusammen und sprach ein Stoßgebet, sie möge noch lange genug leben, um die Berührung von Avianas Geist zu spüren, wenn ihre Schwester kam, um sie abzulösen. Im Augenblick war es an ihr, Myriell abzulösen. Sie stimmte sich aufs Mana-Spektrum ein und stellte sich dem Sturm.

Sobald sie sich Lyannas Geist und dem Schild näherte, den Myriell ringsherum aufgebaut hatte, waren die Stürme draußen im Vergleich kaum mehr als ein Hauch auf ihrer Wange. Der Regen und der Donner waren weit entfernte, harmlose Echos, und die mächtigen Blitze waren nicht mehr als das Flackern einer einzigen flackernden Kerze.

Ephemere stellte sich vor, wie sich im Mana-Sturm ihre Gesichtshaut spannte, wie das Haar hinter ihr flatterte und wie der Sturm ihre Augen tränen ließ. Richtungslos, aber hoch konzentriert verflochten sich die Ströme und zuckten wie Peitschen vorbei. So entstand ein endloser Tunnel mit dunkelbraunen, weiß gestreiften Wänden, in dem immer wieder gelbe, orangefarbene, grüne und tiefblaue Blitze zuckten. Durch diesen Tunnel stürzte Ephemere dem Zentrum entgegen.

Sie war allerdings nicht völlig hilflos. Im Tunnel gab es ein Licht, ein schwaches, pulsierendes Licht. Myriells Bewusstsein. Ephemere kämpfte sich heran und schob eine Blase aus schützendem Mana vor sich her, mit dem sie die brüllende, heulende Magie des Nachtkindes daran hinderte, sie zu zerstören.

Sie sehnte sich nach der Wärme des Kontakts, und die Sehnsucht trieb sie weiter, bis sie ihre Schwester gefunden hatte und nahtlos mit ihr verschmolz. Sie spürte, dass die Freude bei der Berührung erwidert wurde. Ephemere spürte auch Myriells Erschöpfung, doch stärker noch die Entschlossenheit, Lyanna nicht im Stich zu lassen. Sie richtete sich ein, nahm Myriell einen Teil der Last ab und schnaufte schwer, als der Gedankenschild, den sie um Lyanna legte, in Stücke zu gehen drohte. Sie setzte ihre ganze Willenskraft ein und gab mehr Energie in die Mana-Gestalt, bis sie sich stabilisierte. Erst dann richtete sie die Aufmerksamkeit auf ihre Schwester.

»Ich bin da, Myra«, sagte sie.

»Ich dachte schon, du kommst nie hier an«, antwortete Myriell.

»Geh und schlaf jetzt.«

»Sei vorsichtig, Ephy. Es wird immer schwieriger.«

»Ich weiß, Myra«, sagte Ephemere. »Ich weiß.«

»Ich liebe dich, Ephy«, sagte Myriell, als sie sich zu lösen begann.

»Ich liebe dich auch«, sagte Ephemere.

Damit war Myriell fort, und Ephemere war mit Lyanna allein. Ihr Herz schlug vor Sorge schneller, und sie war einen Moment lang außer Atem. Unter der empfindlichen Abschirmung schrie Lyanna vor Schmerzen auf, ihre Gedanken waren wirr, und sie hatte Angst.

Ephemere mochte sich einsam fühlen, doch für Lyanna war es noch viel, viel schlimmer. So ein kleines Kind war sie noch, und nicht nur von ihrer Mutter getrennt, sondern auch von der äußeren Welt abgeschnitten. Sie lebte jetzt in der dunkelsten Nacht, wo das ungesteuerte Mana unablässig auf ihr zerbrechliches Bewusstsein einstürmte.

Lyannas Bewusstsein war wie ein Magnet; sie zog die magische Essenz in ungeheurer Menge an, konnte sie aber nicht formen und verstand nicht einmal, was sie entfesselte. Während sie in ihrer Nacht dahindämmerte, experimentierte ihr Geist und versuchte die Kräfte zu kontrollieren, nach denen er sich sehnte. Willkürliche Mana-Formen wuchsen mit immer stärkerer Kraft heran, weil es noch keine Kontrolle gab. Lyanna musste lernen, wenn sie überleben wollte.

Für Ephemere und die Al-Drechar kam es allein darauf an, sie vor dem zu beschützen, was sie noch nicht kontrollieren oder steuern konnte. Zusammenbrechende Mana-Formen stellten eine große Gefahr dar und mussten, wenn sie sich auflösten, von den Stellen zurückgehalten werden, an denen sie Schaden anrichten konnten, und man musste ihnen ein Ventil geben. Das bedeutete, dass die Al-Drechar die halb geformten magischen Ausbrüche abfangen mussten wie eine Serie harter Schläge. Jeder Schlag kostete sie ein wenig Kraft. Wenn jedoch eine voll ausgeformte Gestalt entstand, dann musste sie in die Freiheit entlassen werden, obwohl dies in Balaia und inzwischen auch in Ornouth große Zerstörungen nach sich zog. Doch das musste man aushalten. Damit der Eine Weg nicht unterging, musste man es aushalten.

Ephemere weinte. So ging es ihr zu Beginn jeder Schicht. Sie spürte Lyannas Stöhnen auch im Mana – die einzige menschliche Emotion, die man in dem Tumult der Elemente überhaupt erkennen konnte. Antworten konnte sie nicht, sie konnte nicht die Arme um ein Wesen legen, das nicht da war und das man nicht trösten konnte.

Sie konnte nur die gefährliche magische Energie ableiten, die Lyanna auf den Plan rief. Und jedes Mal, wenn ein magischer Schlag ihren Schild traf, wurde sie etwas schwächer, doch mit jedem Atemzug wuchs auch ihre Entschlossenheit.

Dies alles war jedoch nicht der Grund dafür, dass sie weinte.

Sie musste alles ertragen, was das Nachtkind auf sie losließ, doch ihre Tränen weinte sie, weil sie nicht wusste, ob Erienne rechtzeitig zurückkehren würde.

Wenn Erienne nicht kam, dann war die Welt schon so gut wie tot, dann wären alle ihre Mühen umsonst gewesen.

 

Erienne war einen Moment lang verwirrt und weigerte sich zu glauben, was ihre Augen sahen. Selik hatte zwar durchblicken lassen, dass ihm Magier halfen, doch selbst in ihren schlimmsten Albträumen wäre Erienne nie darauf verfallen, in diesem Moment den Mann vor sich zu sehen, der gerade ihre Kabine betrat. Sie schüttelte den Kopf und schauderte, als ihr bewusst wurde, was dies zu bedeuten hatte. Es war nicht etwa irgendein abtrünniger dordovanischer Magier, sondern der Hohe Sekretär des Kollegs. Ein Mann, der großen Respekt genoss und über die Ethik ihres Kollegs wachen sollte. Ein Mann, den sie schon ihr Leben lang kannte und von dem sie geglaubt hatte, sie könne ihm vertrauen.

»Erienne, bitte urteilt nicht vorschnell über mich.«

Ihr wurde übel, als sie Berians Worte hörte. Sie war froh, dass sie saß, sonst wäre sie gestürzt. Ihre Gefühle und Gedanken überschlugen sich. Sie wusste nicht, wie sie reagieren und was sie sagen sollte. Sie wusste nur, dass sie in Berians Gegenwart Abscheu empfand. Die Größenordnung seines Verrats war kaum zu fassen. Sie schwankte und wandte den Kopf ab.

»Sprecht nicht mit mir.« Ihr Mund schmeckte nach bitterer Galle. »Ich will Euch nicht einmal ansehen, Ihr widert ich an.«

»Bitte, Erienne«, sagte Berian. »Wir mussten Euch doch finden. Wir machen uns Sorgen um Euch und Lyanna.«

»Wie könnt Ihr es wagen, mich anzulügen!« Eriennes Augen blitzten, ihre Wut erwachte. »Ihr steht neben dem Mörder meiner Kinder. Es waren dordovanische Kinder. Wie konntet ihr das tun!«

Berian warf einen Blick zu Selik. »Er wusste jedenfalls, wo wir Euch finden konnten«, sagte er sanft. »Und wir werden dafür sorgen, dass Euch nichts mehr geschieht.«

»Lügner!« Erienne stürzte durch die Kabine und versetzte Berian einen Fausthieb ins Gesicht, bevor Selik sie fortziehen und aufs Bett werfen konnte.

»Beruhigt Euch«, sagte er.

»Beruhigen soll ich mich?«, schrie sie. »Bei den brennenden Göttern, ich habe mich und mein Kind der Hölle ausgeliefert.« Sie zielte mit dem Finger auf Berian. »Und Ihr seid ein verdammter Verräter. Ihr seid schon tot. Ich schwöre es. Ihr habt alles verraten und Euch mit den Hexenjägern verbündet, um eine von Euch zu finden und zu töten.«

Sie sackte in sich zusammen, ihr Kopf sank auf die Brust, ihre Wut war verraucht. Sie fühlte sich nur noch hilflos, und die Tränen rollten über ihre Wangen. Alles, woran sie je geglaubt hatte, war auf einen Schlag zerstört worden.

»Wie konntet Ihr das tun?«, flüsterte sie.

»Eure Tochter ist eine Gefahr für Balaia«, sagte Berian. Jede Sanftheit war aus seiner Stimme gewichen. »Und sie ist der Beginn des Untergangs von Dordover. Glaubt Ihr wirklich, wir sehen untätig zu, wie Ihr sie auf den Einen Weg bringt? Sie muss von Dordover kontrolliert werden, damit unser Kolleg überlebt. Ihr seid die Verräterin, Erienne Malanvai. Ich will mein Kolleg retten, Ihr wollt es fallen sehen.«

Erienne schüttelte den Kopf. »Nein«, schluchzte sie. »Nein, Ihr versteht es nicht.«

»O doch, Erienne, ich verstehe es«, sagte Berian. »Ich verstehe es nur zu gut.«

Sie hörte Schritte, die sich entfernten, dann wurde ihre Tür verschlossen und verriegelt.

Erienne hatte bis jetzt noch nicht über die Umstände ihres Todes nachgedacht. Sie hatte sich nicht gefragt, ob er unmittelbar bevorstünde, was sie dann sagen und wie sie reagieren und wie sie sich fühlen könnte. Doch nun war er offensichtlich nahe, und es war schlimmer als alles, was sie sich hätte ausmalen können. Denn sie starb nicht allein. Im gleichen Moment besiegelte sie auch das Schicksal ihrer Tochter.

Es war, als schaue sie aus großer Entfernung auf sich selbst herab. Sie fühlte sich gespalten zwischen absoluter Gewissheit auf der einen und einer irrealen Qualität wie in einem Traum auf der anderen Seite. Es gab viele Dinge, die sie sicher wusste. Selik würde sie nicht anrühren, bis sie Herendeneth erreichten. Der Rabe, falls er überlebte, würde ihr folgen. Dordover hatte sie verraten. Und ausgerechnet Berian reiste auf dem gleichen Schiff wie sie und half dabei, ihren Tod zu planen. Andererseits hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Sie spürte, wie sich das Schiff bewegte, sie wusste, dass sie durch den Kanal zur Bucht von Arlen fuhren, doch irgendwie stellte sich keine Verbindung zu ihrer Realität ein. All dies hätte eigentlich nicht geschehen dürfen, und irgendwie dachte sie immer noch, sie werde irgendwann aufwachen und feststellen, dass Denser sich besorgt über sie beugte.

Natürlich hatte sie versucht, einen Spruch zu wirken. Das war ein Weg, mit allem, was sie kannte, wieder in Kontakt zu kommen. Ihre Fähigkeiten erwachten wieder, sie hatte aber noch nicht genug Kraft, um komplizierte Formen zu wirken, und selbst wenn sie es gekonnt hätte, ein dordovanischer Spruchschirm isolierte ihre Kabine und schnitt sie völlig ab.

Sie schenkte sich ein Glas Wasser ein, ging in den hinteren Teil der Kabine und sah aus dem kleinen Fenster. Durch den Regen konnte sie den roten Fleck am Himmel über Arlen sehen. Anscheinend wüteten dort immer noch die Brände. Sie hielt sich am Fensterrahmen fest, als das Schiff rollte. Das Wasser schwappte auf ihre Hand. Der Wind kam in sehr starken Böen, und obwohl er in die richtige Richtung wehte, hatte die Meerulme gewiss nicht alle Segel gesetzt. Sehen konnte sie es freilich nicht, denn Selik ließ sie nicht aufs Deck hinaus.

Sie setzte sich aufs Bett, trank das Glas aus und stellte es auf ihren kleinen Tisch. Wieder rollte das Schiff, und das Glas fiel auf den Boden. Sie ließ es liegen. Sie versuchte, nicht mehr an das Wetter draußen zu denken, an den Regen, der an die Fensterscheibe prasselte, an den Wind, der über dem Schiff heulte, und wollte sich auf die Frage konzentrieren, was, wenn überhaupt, sie tun konnte.

Die Liste ihrer Möglichkeiten war nicht sehr lang. Der nahe liegende Weg war die Magie, doch sie hatte gerade erst begonnen, den Schild abzutasten, der rings um sie aufgebaut worden war. Er war stark, vermutlich das Werk von drei dordovanischen Verrätern, und zweifellos wurde er genau überwacht, damit sie es sofort spürten, wenn Erienne den Schirm erkundete. Falls sie eine Schwäche fand, musste sie sofort zuschlagen.

Auf der physischen Ebene gab es zwei Ausgänge, die ihr beide versperrt waren. Die Kabinentür war verriegelt, und draußen standen die Wächter. Es wäre sinnlos, sie anzugreifen, obwohl sie innerhalb des Schirms standen. Was hätte das schon genützt?

Das Fenster war zugenagelt, und selbst wenn sie es mit Gewalt öffnen konnte, nach dem Sturz ins Wasser wäre sie doch nur ertrunken.

Selbstmord war allerdings eine Möglichkeit, die sie nicht völlig ausschließen wollte. Wenn sie starb, dann gab es für die Besatzung der Meerulme keinen Grund mehr, sich den Schwarzen Schwingen zu fügen und die Reise fortzusetzen. Damit hätte sie den Al-Drechar jedoch nur ein wenig Zeit erkauft. Da die Verteidigung der Insel in Stücke ging, konnte ihre Position nicht mehr lange verborgen bleiben, falls die Feinde sie nicht sowieso schon kannten. Trotz der gefährlichen Zufahrt würde Lyanna früher oder später gefunden werden.

Wieder ruckte und bebte das Schiff, als es von einer Welle getroffen wurde. Sie spürte die seitliche Bewegung und wusste, dass sie sich der Mündung des Arl näherten. Sie hatte genug gelernt, um die Gezeitenkräfte zu verstehen, die die Durchfahrt durch die Bucht ungemütlich machen konnten, wenn Ebbe oder Flut gerade einsetzten. Vom Sturmwind aufgepeitscht, waren die Wellen sicher nicht ungefährlich. Sie mochte sich kaum vorstellen, wie es auf offener See aussah.

Sie hatte das Gefühl, innerlich zusammenzubrechen. Als hätte sie ihre ganze Willenskraft verloren, als wolle sie nun wehrlos geschehen lassen, was mit ihr geschah. In ihrem Herzen aber hielt sie an ihrem Entschluss fest. Es war der Entschluss, dass Lyanna, ihr wundervolles Mädchen, auf jeden Fall überleben musste, und dass man ihr irgendwie helfen und sie retten werde.

An diesen Glauben klammerte sie sich, weil sie nichts anderes mehr hatte. Sie brauchten mindestens sieben Tage, um Herendeneth zu erreichen. Eriennes Schicksal lag nun nicht mehr in ihren eigenen Händen. Es kam nicht mehr auf Dordover an und nicht auf ihren Mann, sondern auf etwas, das viel stärker war als all die Kräfte, die sich gegen sie gewandt hatten. Sie wusste, dass das Ganze niemals untergehen würde, solange einer von ihnen noch die Kraft hatte zu helfen.

Der Rabe.